Transkript
STUDIE REFERIERT
Frühe, intensive Blutzuckerkontrolle bei Diabetes Typ 2
Nutzen hält viele Jahre an
In einer Nachbeobachtungsstudie zur United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) wurde festgestellt, dass eine frühzeitige intensive Blutzuckerkontrolle bei Diabetes Typ 2 auch 10 Jahre nach der Interventionsphase noch immer mit niedrigeren Risiken für mikrovaskuläre Erkrankungen, Herzinfarkt und Sterblichkeit im Vergleich zu ursprünglich konventionell behandelten Patienten verbunden war, obwohl sich die Blutglukosespiegel der Vergleichsgruppen bereits nach 1 Jahr Follow-up angeglichen hatten.
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
In der prospektiven, randomisierten, multizentrischen United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS) wurden 4209 Patienten mit neu diagnostiziertem Diabetes Typ 2 zur glykämischen Kontrolle randomisiert entweder einer konventionellen Therapie mit Ernährungsvorgaben oder einer intensiven medikamentösen Therapie mit Sulfonyl-
harnstoff oder Insulin zugeordnet. Bei übergewichtigen Studienteilnehmern wurde der Blutzucker mit Metformin gesenkt. Im Rahmen der UKPDS führte die frühzeitige strenge Blutzuckerkontrolle mit Sulfonylharnstoff und Insulin zu einem verminderten Risiko für klinisch evidente mikrovaskuläre Komplikationen im Vergleich zur konventionell behandelten Gruppe. Gleichzeitig wurde in der Sulfonylharnstoff-Insulin-Gruppe auch eine relative Reduktion des Herzinfarktrisikos festgestellt, die allerdings nicht signifikant war. Bei den übergewichtigen Teilnehmern, die Metformin erhielten, wurde im Rahmen der UKPDS ein signifikant vermindertes Risiko für Herzinfarkt und Sterblichkeit im Vergleich zur Diätgruppe beobachtet.
Die Nachbeobachtungsstudie Rury Holman (Oxford) und sein Team untersuchten in einer 10-jährigen Nachbeobachtungsstudie, ob der mikrovaskuläre Nutzen durch die frühzeitige strenge Glukosekontrolle über einen längeren Zeitraum erhalten bleibt und ob die intensive Therapie auch langfristige Auswirkungen auf makrovaskuläre klinische Ergebnisse hat. An der Nachbeobachtungsstudie nahmen 3277 Patienten aus der UKPDS teil. Die randomisiert zugeordnete Therapie wurde während der Nachbeobachtung nicht in jedem Fall weitergeführt, da jetzt allen Patienten geraten wurde, ihren Blutzucker so weit wie möglich zu senken. In den ersten 5 Jahren des Followup-Zeitraums unterzogen sich die Teilnehmer einer jährlichen Kontrolluntersuchung. In den Jahren 6 bis 10 nach Beendigung der UKPDS wurden die kli-
nischen Ergebnisse der Patienten anhand eines Fragebogens erfasst. Die Wissenschaftler untersuchten analog zur UKPDS sieben zusammenhängende klinische Endpunkte der «Intention-to-Treat»-Population und analysierten die Ergebnisse der zuvor intensiv und konventionell behandelten Patienten. Die geprüften Endpunkte waren ■ alle diabetesbezogenen Endpunkte
(plötzlicher Tod, Tod durch Hyperoder Hypoglykämie, tödlicher oder nicht tödlicher Herzinfarkt, Angina pectoris, Herzinsuffizienz, tödlicher oder nicht tödlicher Schlaganfall, Nierenversagen, Amputation, Glaskörperblutungen, retinale Fotokoagulation, Blindheit auf einem Auge oder Kataraktextraktion) ■ Tod im Zusammenhang mit Diabetes (plötzlicher Tod oder Tod wegen Herzinfarkt, Schlaganfall, peripherer vaskulärer Erkrankung, Nierenerkrankung, Hyper- oder Hypoglykämie) ■ die Gesamtmortalität ■ Myokardinfarkt (plötzlicher Herztod sowie tödlicher oder nicht tödlicher Herzinfarkt) ■ Schlaganfall (tödlich oder nicht tödlich) ■ periphere vaskuläre Erkrankung (Amputation mindestens eines Körperteils oder Tod aufgrund peripherer vaskulärer Erkrankung) ■ mikrovaskuläre Erkrankung (Glaskörperblutungen, retinale Fotokoagulation oder Nierenversagen).
Merksätze
■ Bei Typ-2-Diabetikern bleibt die Risikoreduktion für mikrovaskuläre Erkrankungen, Herzinfarkt und Sterblichkeit durch eine frühzeitige intensive Blutzuckerkontrolle über viele Jahre bestehen.
■ Auf welchen Mechanismen dieses positive langfristige «Vermächtnis» (LegacyEffekt) einer intensiven glykämischen Kontrolle beruht, ist noch nicht bekannt.
ARS MEDICI 4 ■ 2009 165
STUDIE REFERIERT
KOMMENTAR
Prof. Dr. Peter Diem, Universitätsspital Inselspital Bern
Schlecht eingestellter Diabetes wird zur Altlast
Die hier besprochene Publikation von neuesten UKPDS-Daten zeigt einen günstigen Effekt der intensivierten Blutzuckerkontrolle beim Typ-2-Diabetes auf alle Diabetes-assoziierten Endpunkte, mikrovaskuläre Endpunkte, Myokardinfarkt und die Gesamtmortalität, und zwar bis zehn Jahre nach Ende der randomisierten Intervention! Dabei ist überraschend, dass dieser Effekt nicht nur über Jahre persistierte, sondern bezüglich Myokardinfarkt und Gesamtmortalität erst im Laufe dieser zusätzlichen Beobachtungszeit statistisch signifikant wurde. Die
erst mit der Zeit erreichte Signifi-
kanz ist leicht zu interpretieren
und dürfte mit der steigenden An-
zahl von Ereignissen, welche nach
einigen weiteren Jahren der Ver-
laufsbeobachtung erst die nötige
Power ergab, zusammenhängen.
Die Studienverantwortlichen nennen das
Phänomen, dass die erwähnten Effekte auch
zehn Jahre nach Studienende persistierten,
«Legacy Effect». Pathogenetisch ist dieses
Phänomen allerdings noch völlig ungeklärt.
Interessanterweise fand die DCCT/EDIC-
Studie beim Typ-1-Diabetes bereits analoge
Resultate (Nathan et al., N Engl J Med 353:
2643—2653, 2005). «Legacy» kann übersetzt
werden mit Vermächtnis oder Altlast. Eine
Anamnese eines schlecht eingestellten Dia-
betes — selbst wenn dies zehn Jahre zurück-
liegt — wäre demnach eine Altlast!
■
Ergebnisse nach 10 Jahren Zu Beginn der Nachbeobachtungsstudie hatten die intensiv behandelten Patienten durchschnittlich niedrigere Blutspiegel an glykosiliertem Hämoglobin und niedrigere Nüchternglukosewerte als die Teilnehmer der konventionell therapierten Vergleichsgruppe. Die ursprünglichen Unterschiede beim glykosilierten Hämoglobin bestanden bereits nach 1 Jahr nicht mehr, da mittlerweile in allen Gruppen ähnliche Verbesserungen der Blutzuckerwerte erzielt wurden. Die therapeutischen Unterschiede der glykämischen Kontrolle waren nach 5 Jahren Follow-up aufgehoben. Zu diesem Zeitpunkt kontrollierten lediglich 5 Prozent aller Patienten ihren Blutzucker nur mit einer Diät, 46 Prozent erhielten eine orale Diabetestherapie, und 49 Prozent wurden entweder mit Insulin allein oder in Kombination mit einem oralen Medikament behandelt. Der durchschnittliche BodyMass-Index der Teilnehmer veränderte sich vom Beginn bis zum Ende der Nachbeobachtungsstudie nicht. In der zuvor mit Sulfonylharnstoff und Insulin behandelten Gruppe bestand auch nach 10 Jahren Follow-up eine relative Risikominimierung für alle diabetes-
bezogenen Endpunkte sowie für mikrovaskuläre Erkrankungen. Zusätzlich trat im Rahmen der Nachbeobachtungstudie in dieser Gruppe eine signifikante Risikoreduktion für diabetesbezogenen Tod, Herzinfarkt und Gesamtmortalität im Vergleich zu den konventionell behandelten Patienten zutage. In der Gruppe der übergewichtigen Patienten, die Metformin erhalten hatten, persistierten die bereits in der UKPDS erzielten signifikanten Reduktionen der Risiken für alle diabetesbezogenen Endpunkte sowie für Herzinfarkt und Sterblichkeit über den gesamten Zeitraum der Nachbeobachtungsstudie. Die Reduktion des mikrovaskulären Risikos der Metformingruppe war sowohl während der UKPDS als auch im Follow-up-Zeitraum mit jener unter Sulfonylharnstoff oder Insulin vergleichbar.
Fazit Die Studienergebnisse belegen die Wichtigkeit einer frühzeitigen intensiven Blutzuckerkontrolle zur langfristigen Risikominimierung für Herzinfarkt und Mortalität. Trotz des frühen Ausgleichs der glykämischen Unterschiede beider Gruppen blieben die Vorteile der ursprünglichen
Therapie bei den intensiv behandelten
Patienten auch während des Follow-up-
Zeitraums über 10 Jahre erhalten.
In der UKPDS wurde der Nutzen der
verbesserten Blutzuckerkontrolle mit
Sulfonylharnstoff oder Insulin für eine
Reduktion des mikrovaskulären Risikos
deutlich. Die zusätzliche Risikosenkung
für Herzinfarkt und Sterblichkeit wurde
allerdings erst im Zeitraum des 10-jäh-
rigen Follow-ups signifikant. Diese Vor-
teile waren somit in der UKPDS selbst
noch nicht erkennbar.
Das positive langfristige «Vermächtnis»
der frühen intensiven glykämischen
Kontrolle wird auch als Legacy-Effekt
bezeichnet. Die pathophysiologischen
Mechanismen dieses Effekts sind bis
heute nicht bekannt.
■
Holman R.R., Paul S.K. et al.: 10-Year Follow-up of Intensive Glucose Control in Type 2 Diabetes, N Engl J Med, 2008; 359: 1577—1589.
Interessenkonflikte: Alle fünf Autoren haben Honorare von diversen Pharmaunternehmen erhalten.
Petra Stölting
166 ARS MEDICI 4 ■ 2009