Transkript
MILCH IM FOKUS
Stellung der Milch hinsichtlich der Umweltwirkungen der Ernährung in der Schweiz
Albert Zimmermann und Thomas Nemecek1
Albert Zimmermann
Eine umweltoptimierte Ernährung würde sich stark von der heutigen Durchschnittsration unterscheiden: Eine deutliche Zunahme des Konsums von Getreide, Kartoffeln und Nüssen wäre erforderlich, zudem eine starke Reduktion des Fleisch- und Alkoholkonsums. Eine besondere Stellung nimmt die Milch ein: Die Milchproduktion ist zwar mit hohen Umweltwirkungen verbunden, sie nutzt das Grünland aber effizienter als die Fleischproduktion, erhöht damit den Selbstversorgungsgrad des Inlandkonsums an Nahrungsenergie und steht in Einklang mit den schweizerischen Ernährungsempfehlungen.
Umweltwirkungen der Ernährung
Szenario «Referenz»
Thomas Nemecek
1 Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF), Agroscope
Agroscope untersuchte, wie eine umweltoptimierte Ernährung der Schweizer Bevölkerung aussehen würde und welche Wechselwirkungen mit Ernährungsempfehlungen und dem Selbstversorgungsgrad bestehen (Kasten). Um die Bedeutung der Milch für die Umweltwirkungen der Ernährung zu beurteilen, sind im Folgenden vier Szenarien dargestellt. Neben dem Referenzszenario, das den aktuellen Zustand abbildet, minimieren drei Szenarien den Indikator ReCiPe mit jeweils unterschiedlichen Vorgaben in Bezug auf die Nutzung der Grünlandflächen und die Einhaltung der Ernährungsempfehlungen. In allen Szenarien muss die ermittelte durchschnittliche Nahrungsration der heutigen Kalorienzufuhr (2360 kcal/ Person/Tag) entsprechen. Abweichungen von den Ernährungsempfehlungen nach Lebensmittelpyramide (z.B. eine Zunahme des Zuckerkonsums) ist nicht erlaubt. Die vorgestellten Ergebnisse sind aktualisierte und erweiterte Szenarien von Zimmermann et al. (1).
Kasten:
Optimierungsmodell, Ökobilanzierung, Selbstversorgungsgrad
Die Fragestellung wurde mit dem für die Simulation von Ernährungskrisen eingesetzten Optimierungsmodell DSS-ESSA analysiert (DSS-ESSA: Decision Support System – Ernährungssicherungsstrategie Angebotslenkung). Alle im Modell formulierten Produkte und Prozesse wurden mit Ökobilanzdaten verknüpft. Diese umfassen sowohl einzelne Emissionen (z.B. Methan) und den Ressourcenverbrauch (z.B. fossile Energieträger) als auch eine Reihe von Wirkungskategorien (z.B. Treibhauspotenzial). Um die Umweltwirkungen in die Zielfunktion des Modells einbinden zu können, erfolgte zudem eine Aggregation zum Gesamtindikator ReCiPe. Dieser gewichtet die Umweltbelastungen und aggregiert sie zu einer Gesamtpunktzahl. Der Name ReCiPe repräsentiert die Initialen der niederländischen Forschungsinstitute, auf welche die Entwicklung dieses Indikators zurückgeht. Die Methode der Ökobilanzierung erfasst nicht nur die im Inland entstehenden Umweltwirkungen, sondern auch jene, die mit importierten Nahrungsund Produktionsmitteln zusammenhängen. Der Selbstversorgungsgrad wird berechnet als Anteil der Inlandproduktion am Konsum und liegt gemessen in Kalorien bei derzeit rund 60 Prozent. Wenn die mit importierten Futtermitteln produzierte Inlandproduktion nicht berücksichtigt wird, ergibt sich der Nettoselbstversorgungsgrad, der ungefähr 7 Prozentpunkte tiefer liegt.
Das Referenzszenario modelliert die aktuelle Situation. Die Zusammensetzung der durchschnittlichen Nahrungsration (vgl. Abbildung) zeichnet sich im Vergleich zu den Empfehlungen nach der Lebensmittelpyramide durch einen höheren Fleisch- und Zuckerkonsum und einen tieferen Gemüse- und Früchtekonsum aus. Die Durchschnittsration verfehlt damit verschiedene Empfehlungen hinsichtlich der Nährstoffzufuhr. Neben einem zu hohen Anteil an gesättigten Fettsäuren und einer zu geringen Aufnahme von Nahrungsfasern bleibt die Versorgung mit verschiedenen Vitaminen (C, D, Folsäure, Pantothensäure) und Mineralstoffen (Phosphor, Eisen, Jod) ungenügend. Der schweizerische Selbstversorgungsgrad an Nahrungsenergie erreicht in der Referenz entsprechend der Realität rund 60 Prozent.
Szenario «Umweltoptimierte Situation»
Dieses Szenario minimiert den Umweltindikator ReCiPe. Es wird zugelassen, das Dauergrünland aus der Produktion zu nehmen, wobei zur Gewährleistung einer minimalen Offenhaltung der Landschaft ein Restanteil von 30 Prozent bestehen bleiben muss. Im Ergebnis ändert sich die Zusammensetzung der durchschnittlichen Nahrungsration deutlich: Zentrale Merkmale sind ein starker Rückgang des Konsums von Fleisch (–70%) und von Milchprodukten (–60%), dafür eine Zunahme von Getreide, Kartoffeln oder Hülsenfrüchten (+85%) sowie von Ölen oder Nüssen (+50%). Die Versorgung mit einigen Mikronährstoffen wie Folsäure und Eisen verbessert sich, gleichzeitig gibt es Verschlechterungen, besonders beim Kalzium. Ausser der Ernährungsumstellung ändern sich auch verschiedene Produktionsprozesse, insbesondere erfolgt ein weitgehender Verzicht auf Futtermittelimporte und eine vermehrte Produktion wenig verarbeiteter Nahrungsmittel wie Trinkmilch anstelle von Käse. Aufgrund drastisch reduzierter Schweine- und
6 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2019
MILCH IM FOKUS
Geflügelbestände kann mehr Inlandfläche für die Produktion pflanzlicher Nahrungsmittel eingesetzt werden. Dadurch sinkt – trotz der nur noch teilweisen Nutzung des Dauergrünlands – der Importbedarf, sodass der Selbstversorgungsgrad von 60 auf annähernd 70 Prozent steigt. Die Umweltbelastungen reduzieren sich deutlich: Der Indikator ReCiPe sinkt im Vergleich zur Referenz auf 34 Prozent. Aufgrund des tieferen Importbedarfs tritt ein Grossteil dieser Verbesserungen im Ausland auf. So bleibt zum Beispiel die Nitratauswaschung im Inland annähernd unverändert. Allerdings sinken die Ammoniak- und Methanemissionen infolge der Reduktion der Tierbestände vor allem im Inland.
Szenario «Fläche vollständig genutzt»
Dieses Szenario unterscheidet sich vom Szenario «Umweltoptimierte Situation» durch die Vorgabe einer vollständigen Nutzung des Dauergrünlands. Das Ergebnis zeigt deutlich, dass die Nutzung des Grünlands über die Milchproduktion günstiger ist als über die Fleischproduktion. Die anfallenden Kälber (bzw. Lämmer) werden möglichst rasch geschlachtet. Grossviehmast und Mutterkuhhaltung bleiben wie im vorangehenden Szenario unbedeutend. Im Vergleich zur Referenz ist der Milchviehbestand leicht tiefer, dadurch sinkt der gesamte Raufutterbedarf, und die Wiesen werden teilweise extensiviert. Ein Anteil intensive Wiesen ist jedoch weiterhin erforderlich, um eine möglichst hohe Milchleistung bei reduziertem Kraftfuttereinsatz zu erzielen. Mit dem im Vergleich zum Szenario «Umweltoptimierte Situation» wieder erhöhten Milchanteil in der Nahrungsration verschwindet das Kalziumdefizit. Die Nutzung des Dauergrünlands führt zu einem nochmals geringeren Importbedarf und erhöht den Selbstversorgungsgrad auf 78 Prozent. Hingegen sind die Reduktionen der Umweltbelastungen geringer als im vorangehenden Szenario; der Indikator ReCiPe sinkt auf 44 Prozent des Wertes im Referenzszenario.
Szenario «Einhaltung der Lebensmittelpyramide»
Das letzte Szenario verlangt – bei weiterhin vollständiger Flächennutzung – die Einhaltung der Nahrungsration gemäss Schweizer Lebensmittelpyramide. Dies führt zu einer Reduktion des Zuckerkonsums und zu einem Anstieg des Gemüse- und Früchtekonsums. Auch für Frischmilchprodukte und Käse liegt der empfohlene Konsum über dem heutigen Niveau. Die Versorgung mit Mikronährstoffen entspricht fast vollständig den Empfehlungen, mit Ausnahme von Vitamin D und Jod. Der verstärkte Gemüseanbau und die tiefere Zuckerproduktion senken die mittlere Kalorienproduktion pro Hektare. Mit dem dadurch steigenden Bedarf an Importen erreicht der Selbstversorgungsgrad noch 72 Prozent. Gleichzeitig führt dies zu einer Verschlechterung der Umweltwirkungen.
Abbildung: Nahrungsration in den umweltoptimierten Szenarien im Vergleich zur Referenzsituation (1).
Diskussion und Fazit
Eine umweltoptimierte Ernährung weist viele Ähnlichkeiten mit den heutigen Ernährungsempfehlungen auf. Dies gilt insbesondere für die Reduktion des Konsums von Fleisch und Alkohol sowie für die Erhöhung des Konsums von stärkehaltigen Nahrungsmitteln und Nüssen. Auch die Grünlandnutzung über die Milchproduktion deckt sich mit der Empfehlung, den heutigen Anteil der Milch in der Ernährung zumindest beizubehalten. Dabei ist mit verarbeiteten Produkten sparsam umzugehen, deren Hauptnährstoffe fast ausschliesslich aus Fett bestehen. Die Milchproduktion liefert im Vergleich zur reinen Fleischproduktion zudem mehr Nahrungsenergie pro Hektare und ist daher auch aus Sicht des Selbstversorgungsgrads von Vorteil. Zusätzliche, hier nicht dargestellte Möglichkeiten zur Verringerung der Umweltbelastungen der Ernährung sind eine dem tatsächlichen Energiebedarf angepasste Nahrungsmenge (im Durchschnitt eine um rund 10% kleinere Menge bezogen auf die aktuelle Kalorienzufuhr) und die Vermeidung von Foodwaste beim Konsum (bis zu 20% vermeidbare Verluste). Die Analyse zeigt insgesamt, dass die heutige Situation vom Optimum einer umweltschonenden Ernährung weit entfernt ist und dass somit ein grosses Potenzial für Verbesserungen besteht. Generell würde eine so weitreichende Umstellung der Ernährung eine entsprechende Bereitschaft von Bevölkerung, Wirtschaft und Politik voraussetzen.
Korrespondenzadresse: Albert Zimmermann Agroscope Tänikon 8356 Ettenhausen E-Mail: albert.zimmermann@agroscope.admin.ch
Referenz: 1. Zimmermann A, Nemecek T, Waldvogel T (2017): Umwelt- und ressourcenschonende Ernährung: Detaillierte Analyse für die Schweiz. Agroscope Science 55, Agroscope Tänikon.
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