Transkript
BERICHT
Chronische Bauchschmerzen
Zwei Drittel der Patienten haben «nichts»
Chronische abdominelle Beschwerden sind häufig, aber nur bei zirka einem Drittel der Betroffenen findet sich eine organische Ursache. Wie man in der Praxis keine Diagnose verpasst und was bei funktionellen chronischen Bauchbeschwerden hilft, erläuterte PD Dr. Benjamin Misselwitz an einer Tagung in Bern.
Das häufigste gastroenterologische Symptom ist die Obstipation. In der Literatur werden Prävalenzen von 10 bis 28 Prozent in der Allgemeinbevölkerung genannt, und insbesondere Ältere sind davon betroffen (ca. 40%). Gefühlt mag die Prävalenz noch höher liegen, denn Ärzte und Patienten meinten nicht unbedingt dasselbe, wenn sie von «Verstopfung» sprächen, sagte PD Dr. Benjamin Misselwitz, Oberarzt am Bauchzentrum der Klinik für Viszerale Chirurgie und Medizin, Inselspital Bern. Medizinisch definiert besteht eine Obstipation, wenn die Stuhlfrequenz maximal zweimal pro Woche oder weniger beträgt. 60 Prozent der Patienten mit «Verstopfung» haben jedoch täglich Stuhlgang. Sie klagen über harten Stuhl, die Notwendigkeit, stark zu pressen, oder das Gefühl einer unvollständige Entleerung. Die möglichen Ursachen einer Obstipation sind zahlreich und vielfältig. Zu den neurogenen zählen beispielsweise Diabetes mellitus, eine multiple Sklerose, Morbus Parkinson und Rückenmarksverletzungen. Aber auch andere Erkrankungen, wie Hypothyreose, Hypokaliämie oder Anorexia nervosa, und viele Medikamente können eine Verlangsamung der Kolonpassage bewirken (slow transit constipation). Ein anderer Pathomechanismus ist eine sogenannte OutletProblematik, das heisst, die Passage des Stuhls, egal ob fest oder flüssig, wird auf den letzten Zentimetern erschwert. Grund hierfür können physikalische Hindernisse sein, wie
KURZ & BÜNDIG
Wenn Ärzte und Patienten von Obstipation oder Diarrhö sprechen, meinen sie nicht unbedingt dasselbe.
Funktionelle Bauchbeschwerden sind weitaus häufiger als organisch bedingte.
Gastrointestinale Beschwerden müssen initial gründlich abgeklärt werden, wobei auch an das Kolonkarzinom (Screeningkoloskopie) gedacht werden sollte.
Die Pathogenese des Reizdarmsyndroms umfasst auch eine erhöhte viszerale Sensitivität, welche zu einem Teufelskreis aus erhöhter Wahrnehmung und wiederum gesteigerter Reizempfindung führen kann.
FODMAP-arme Diät und Sport vermindern die Reizdarmsymptomatik.
etwa ein Tumor, ein Polyp oder eine Rektozele, oder eine fehlerhafte muskuläre Koordination (dysserge Defäkationsstörung, Anismus). Slow-Transit- und Outlet-Problematik sind nur für den kleineren Teil der Obstipationsprobleme verantwortlich: «Bei 60 Prozent der Patienten findet sich kein Korrelat der Verstopfung in den Untersuchungen», sagte Misselwitz.
Bei «Durchfall» nach Inkontinenz fragen
Ähnlich verhält es sich bei der chronischen Diarrhö. Auch hier meinen Ärzte und Patienten durchaus nicht immer dasselbe, wenn sie von «Durchfall» sprechen. Die WHO definiert Diarrhö als drei oder mehr ungeformte oder flüssige Stuhlabgänge innert 24 Stunden. Sprechen Patienten von Durchfall, so meinen sie damit häufig auch Stuhlinkontinenz – sagen das aber nicht ausdrücklich. Darum müsse man nach Inkontinenz aktiv fragen, betonte der Referent, zumal Diarrhö das Risiko für Inkontinenz um ein Vielfaches erhöhe. Wie bei der chronischen Obstipation gebe es auch bei der chronischen Diarrhö unzählige potenzielle Ursachen, am häufigsten jedoch seien die funktionelle Diarrhö und das Reizdarmsyndrom mit Diarrhö, sagte Misselwitz.
Funktionelle Beschwerden sind häufig
Organische gastrointestinale Erkrankungen, wie Entzündungen, Ulzera oder Tumoren, sind allenfalls in 30 Prozent der Fälle Ursache von Bauchbeschwerden, während gut 70 Prozent der Patienten mit Verdauungsproblemen und abnormer Schmerzempfindung eine ganz normale Darmanatomie und Darmschleimhaut aufweisen. Dieses Phänomen ist nicht nur für westliche Industrieländer typisch, sondern offenbar weltweit zu finden. So lieferte eine Umfrage im chinesischen Hangzhou mit rund 2000 Teilnehmern ein ähnliches Bild: Verstopfung (10%), Blähungen (7%), Diarrhö (7%) und das Reizdarmsydndrom (6%) sind auch dort keine Seltenheit. Während die Prävalenzen für funktionelle Bauchbeschwerden hoch sind, sind sie für ernste Erkrankungen weitaus niedriger (z.B. kolorektales Karzinom: 0,2 Prozent bei 50- bis 80-Jährigen; chronisch entzündliche Darmerkrankungen: 0,3 Prozent). Wenn also ein Patient mit chronischen gastrointestinalen Beschwerden in die Praxis kommt, wird es sich in den meisten Fällen um funktionelle Beschwerden handeln. Doch wie schafft man es, diejenigen mit schwerwiegenden organischen Ursachen nicht zu übersehen, ohne gleichzeitig allzu viel Diagnostik zu veranlassen?
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ARS MEDICI 10 | 2019
BERICHT
Tabelle:
Therapeutische Optionen bei Reizdarmsyndrom (IBS)
Psychoedukation
Ernährungsumstellung Körperliche Aktivität Stuhlregulation
Obstipationsbetontes Reizdarmsyndrom (IBS-C)
Diarrhöbetontes Reizdarmsyndrom (IBS-D)
Erklärung der Pathogenese, Vermitteln realistischer Therapieziele
FODMAP-Diät, IBS-Diät
20–60 Minuten, 3- bis 5-mal pro Woche
Fasermedikamente, z.B. Sterculia (Normacol®), Flohsamen (Metamucil®)
Fasermedikamente, Macrogol (Movicol®, Transipeg®), Lubiproston (Amitiza®), Linaclotid (Axulta®, Constella®), Prucaloprid (Resolor®)
Fasermedikamente, Colestyramin (Quantalan®), Loperamid (Imodium® und Generika), Eluxadolin (Truberzi®)
Als Reservemedikament: Amitryptilin 10–25 mg/Tag
Alarmsymptome
Differenzialdiagnostisch sind Alarmsymptome eine grosse Hilfe. Für gastrointestinale Beschwerden sind dies: s neu eingetretene Beschwerden bei älteren Personen s anhaltendes Erbrechen s Anzeichen für gastrointestinale Blutungen, wie Erbrechen
von Blut, frisches Blut im Stuhl, Teerstuhl (nicht nur schwarz, sondern klebrig und zäh) und Eisenmangel s unbeabsichtigter Gewichtsverlust s Beschwerden in der Nacht (Patient erwacht deswegen) s schmerzhafter Stuhlgang s abdominelle Abwehrspannung. Schmerzen sind übrigens nicht unbedingt ein Alarmsymptom. Die immer gleichen gastrointestinalen Beschwerden über einen langen Zeitraum von mehr als fünf Jahren hinweg sprechen gegen eine organische Ursache.
Was tun bei funktionellen Beschwerden?
Die Betroffenen leiden zum Teil erheblich unter funktionellen Beschwerden, auch wenn die Symptome nicht selten salopp mit einem «Nichts» gleichgesetzt werden. Bagatellisieren bringe nichts und mache es für viele Patienten eher noch schlimmer, so Misselwitz. Wichtig ist zunächst eine initiale, gründliche Abklärung mit ausführlicher Anamnese, klinischer Untersuchung und Laborwerten sowie einer Ultraschalluntersuchung, dem Kolonkarzinomscreening und gegebenenfalls weiterer Endoskopie oder anderen bildgebenden Verfahren. Bleibt dies alles «ohne Befund», gilt es, einen Schlusspunkt zu setzen. Das heisst nicht, den Patienten einfach wieder nach Hause zu schicken. «Funktionelle Erkrankungen haben eine klare Pathophysiologie», sagte Misselwitz. Das müsse man dem Patienten erklären, und man müsse ihn beraten, wie man die Symptome lindern kann, um wieder eine bessere Lebensqualität zu erreichen. «Fragen Sie den Patienten, was ihm Sorgen macht und was er selbst für die Ursache seiner Beschwerden hält», empfahl Misselwitz. Am wichtigsten sei es, dem Patienten eine plausible, individuell verständliche Erklärung für seine Beschwerden zu geben: «Das ist oft schon die halbe Therapie!»
Viele Patienten wissen zum Beispiel nicht, dass die Wahrnehmung von Darmbewegungen individuell unterschiedlich ist, es gibt in diesem Sinne besonders empfindsame und weniger sensitive Personen. Wer besonders sensitiv ist, nimmt auch ganz normale Reize bewusst wahr. Das kann Stress und Angst auslösen, die wiederum zu erhöhter Aufmerksamkeit führen und so weiter: Ein Teufelskreis entsteht, in dem Stress und Angst sich immer weiter aufschaukeln, obwohl da eigentlich «nichts» ist.
Reizdarm wegen der Ernährung?
Die meisten Patienten mit Reizdarmsyndrom glauben, dass sie eine Nahrungsmittelallergie oder -intoleranz haben. In der Tat bestätige sich das aber nur bei 11 bis 27 Prozent aller Patienten, wenn doppelt verblindet getestet werde, sagte Misselwitz. Die zurzeit viel beachtete Laktoseintoleranz ist ein Beispiel dafür, dass dabei auch die bereits erwähnte viszerale Sensitivität eine Rolle spielt. Personen mit Laktosemalabsorption können Laktose nicht verarbeiten, sodass diese in den Dickdarm gelangt und dort vergärt. In einer Studie mit Erwachsenen mit Laktosemalabsorption entwickelten jedoch nur Patienten mit zusätzlich bestehender viszeraler Hypersensitivitiät (Reizdarmsyndrom, IBS) deswegen Beschwerden.
FODMAP-freie Ernährung, Sport und Medikamente
Eine laktosefreie Ernährung allein beseitigt Reizdarmbeschwerden oft nicht, vielmehr muss auf weitere Nahrungsbestandteile verzichtet werden, die als FODMAP zusammengefasst werden (fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide sowie Polyole). Eine FODMAP-freie Diät ist sehr restriktiv, sie kann aber auch ein Weg sein, dem Patienten die Kontrolle über seine Symptomatik zu geben: Es ist seine Entscheidung, ob er FODMAP-haltige Nahrungsmittel trotzdem zu sich nehmen und allfällige Beschwerden riskieren will oder nicht. Eine FODMAP-freie Diät könne die Symptome um zirka 50 Prozent verbessern, eine sogenannte IBS-Diät (reguläre, normale Mahlzeiten, wenig Fett, wenig Koffein, wenig lösliche Fasern, keine blähenden Nahrungsmittel) um 46 Prozent, erläuterte der Referent. Ebenfalls bewährt hat sich körperliche Aktivität. Auch sie hilft, die Reizdarmsymptomatik einzudämmen. So führte ein Bewegungsprogramm mit 20 bis 60 Minuten Sport 3- bis 5-mal pro Woche in einer randomisierten Studie zu einer Verbesserung der Symptomatik um 43 Prozent (26% Verbesserung waren es in der Vergleichsgruppe ohne Sportprogramm). Medikamente seien bei Reizdarm zwar weniger wirksam als Diät und Sport, aber trotzdem eine Option, sagte Misselwitz (s. Tabelle).
Und die Prognose?
Bei etwa 20 Prozent der Patienten mit funktionellen gastro-
intestinalen Beschwerden bleiben diese über Jahre hinweg
konstant. Bei den restlichen 80 Prozent verändern sich die
Symptome, oder sie verschwinden völlig, wobei die Chance
für beide Möglichkeiten etwa gleich hoch ist.
s
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von PD Dr. med. Benjamin Misselwitz: «Durchfall, Verstopfung, Bauchschmerzen». Tagung der Swiss Society of Pharmacology and Toxicology (SSPT): Fortschritte in der Pharmakologie. Bern, 23. Januar 2019.
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