Transkript
Cardiology Update
Kardiovaskuläre Primärprävention
Welche Rolle spielt ASS noch?
Foto: vh
Die Plättchenaktivität zu bremsen, ist eine wichtige Massnahme in der Prävention und Therapie von atherothrombotischen vaskulären Ereignissen. Für diese Indikation hat Acetylsalicylsäure (ASS) sowohl nützliche wie auch schädliche Eigenschaften: Es löst einen Thrombus auf und fördert zugleich das Blutungsrisiko. In der Sekundärprävention ist der ASS-Einsatz unbestritten, in der Primärprävention ist er jedoch nicht mehr oder nur unter bestimmten Umständen empfohlen. Diese erläuterte Prof. Jürg Hans Beer, Chefarzt Medizinische Klinik, Kantonsspital Baden, und Präsident der Arbeitsgemeinschaft Lipide und Atherosklerose (AGLA), am Cardiology Update.
In der Sekundärprävention ist der Nutzen von
Acetylsalicylsäure (ASS) durch viele Studien
gut belegt. In der Primärprävention ist die Da-
tenlage dagegen schwieriger beurteilbar. Es
sind viel höhere Patientenzahlen und eine deut-
lich längere Beobachtungszeit notwendig, weil
die Ereignisraten in der Primärprävention viel
tiefer sind als in der Akutbehandlung. Eine wei-
tere Schwierigkeit besteht darin, dass die Moti-
Prof. Jürg Hans Beer
vation der Patienten, eine Medikation für eine Erkrankung zu nehmen, die sie noch nicht
haben, mit zunehmender Studiendauer sinkt.
Im letzten Jahr wurden nun drei neue Studien zur Primärprä-
vention mit ASS publiziert: ASCEND (n = 15 480) bei Patien-
ten mit Diabetes (1), ARRIVE (n = 12 546) bei Patienten mit
hohem kardiovaskulärem Risiko (2) und ASPREE (n =
19 114) bei älteren Patienten über 65 Jahre (3–5). Eine
Metaanalyse hat nun die drei Studien zusammen mit den be-
reits vorhandenen auf den Nutzen von ASS hin untersucht.
Die gesamthaft 13 Studien mit über 164 000 Teilnehmern und über 1 Million Teilnehmerjahre kommt durch die neuen Studien zu keinem besseren Nutzen-Risiko-Verhältnis als bei den Kontrollen (6). Das Risiko für die Kombination aus kardiovaskulärem Tod, nicht tödlichem Herzinfarkt und nicht tödlichem Hirnschlag sank zwar unter ASS im Vergleich zu Plazebo (kein ASS) um absolut 0,38 Prozent (NNT = 265), doch der Risikoanstieg für schwere, meist gastrointestinale Blutungen, betrug absolut 0,48 Prozent (NNH = 210). Eine Primärprävention bei Patienten ohne kardiovaskuläre Erkrankung sollte demnach gut abgewogen und mit dem Patienten diskutiert werden, empfiehlt Beer. Denn bei Patienten mit tiefem kardiovaskulärem Risiko betrug die absolute Risikoreduktion zwar 0,34 Prozent, das Blutungsrisiko war aber auch bei ihnen um absolut 0,4 Prozent erhöht (0,13% intrakranial; 0,27% gastrointestinal). Bei Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko waren der Nutzen wie auch das Risiko höher (0,51%; 0,64%). Auch eine präventive Wirkung gegen Krebsentwicklung, die ASS zugeschrieben wurde, konnte in dieser Metaanalyse nicht mehr bestätigt werden, so Beer.
KURZ & BÜNDIG
ASS hat in der Primärprävention etwa gleich viel Nutzen wie Blutungsrisiko.
ASS ist in der Schweiz zur generellen Primärprävention nicht empfohlen.
Bei Patienten mit sehr hohem kardiovaskulärem Risiko kann bei tiefem Blutungsrisiko eine ASS-Therapie, individualisiert und mit dem Patienten abgewogen, verordnet werden. Allerdings ist aufgrund der neuen Daten zu erwarten, dass die Richtlinien generell kein ASS in der «echten» Primärprävention mehr empfehlen werden.
Mit ASS fortfahren oder absetzen?
Kann ASS nach Langzeitgebrauch gefahrlos abgesetzt werden? Bezüglich Primärprävention gibt es dafür keine Daten, bei Absetzen von ASS in der Sekundärprävention nach Myokardinfarkt ermittelte eine Studie ein Mortalitätsanstieg um das Doppelte innerhalb eines Jahres (7). Eine Fortsetzung der ASS-Therapie setzt gemäss Beer mindestens ein tiefes Blutungsrisiko respektive eine weniger schwerwiegende Blutungskonsequenz als bei einem ischämischen Ereignis voraus. Hatte der Patient unter ASS bisher keine Blutungen, lässt sich dieses Risiko abschätzen: Gastrointestinale (GI) Beschwerden wie Dyspepsie, GI-bedingte Hospitalisationen und peptische Ulzera in der Vergangenheit erhöhen das Blutungsrisiko unter ASS um das 2- bis 10Fache. Alter über 60 Jahre und männliches Geschlecht wie
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Cardiology Update
auch bestimmte Komedikationen erhöhen das Risiko ebenfalls.
Was gilt bei hohem kardiovaskulärem Risiko?
Bei Patienten, die zwar noch kein kardiovaskuläres Ereignis
erlitten haben, aber beispielweise via Duplexsonografie
nachgewiesene Karotisplaques oder auf MRT-Aufnahmen
Schäden der weissen Substanz aufweisen, ist die Sachlage
nicht so klar, was sich auch in den unterschiedlichen Empfeh-
lungen der Ländergesellschaften widerspiegelt. Wie soll hier
verfahren werden?
Gemäss der US Preventive Task Force (USPTF) ist ASS bei Pa-
tienten zwischen 50 und 69 Jahren (bei 60–69 Jahren nach
individueller Abwägung) mit einem hohen kardiovaskulären
Risiko (≥ 10%), ohne erhöhtes Blutungsrisiko, einer Lebens-
erwartung von mehr als 10 Jahren und dem Willen, ASS min-
destens 10 Jahre lang einzunehmen, noch empfohlen. Für
Personen unter 50 und über 70 Jahre gibt es dagegen keine
Empfehlung für ASS (8). Auch die Canadian Cardiovascular
Society empfiehlt ASS unter bestimmten Umständen wie
hohes kardiovaskuläres Risiko bei tiefem Blutungsrisiko (9).
Die European Society of Cardiology sieht dagegen für ASS in
ihren Guidelines bereits keinen Platz mehr in der Primärprä-
vention (10) und aufgrund der neuen Studien auch keinen
Änderungsbedarf (11). Die Arbeitsgemeinschaft Lipide und
Atherosklerose (AGLA) empfiehlt ASS als generelle Primär-
prävention auch nicht, sieht es jedoch bei Hochrisikopatien-
ten etwas differenzierter: Bei hohem kardiovaskulärem 10-
Jahres-Risiko für Tod, Myokardinfarkt oder Hirnschlag von
> 20 Prozent ist eine Einnahme von 100 mg/Tag empfohlen,
sofern keine klaren Hinweise für ein erhöhtes Risiko vorlie-
gen, wie beispielsweise gastrointestinale Blutungen, pepti-
sche Ulzera oder eine gleichzeitige Einnahme anderer Medi-
kamente, die das Blutungsrisiko erhöhen (12), so Beer ab-
schliessend.
L
Referenzen: 1. ASCEND Study Collaborative Group, Bowman L et al.: Effects of
aspirin for primary prevention in persons with diabetes mellitus. N Engl J Med 2018; 379: 1529–1539. 2. Gaziano JM et al.: Use of aspirin to reduce risk of initial vascular events in patients at moderate risk of cardiovascular disease (ARRIVE): a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2018; 392: 1036–1046. 3. McNeil JJ et al.: Effect of aspirin on cardiovascular events and bleeding in the healthy elderly. N Engl J Med 2018; 379: 1509– 1518. 4. McNeil JJ et al.: Effect of aspirin on all-cause mortality in the healthy elderly. N Engl J Med 2018; 379: 1519–1528. 5. McNeil JJ et al.: Effect of aspirin on disability-free survival in the healthy elderly. N Engl J Med 2018; 379: 1499–1508. 6. Zheng SL et al.: Association of aspirin use for primary prevention with cardiovascular events and bleeding events: a systematic review and meta-analysis. JAMA 2109; 321: 277–287. 7. Ho PM et al.: Impact of medication therapy discontinuation on mortality after myocardial infarction. Arch Intern Med 2006; 166: 1842–1847. 8. Bibbins-Domingo K et al.: Aspirin use for the primary prevention of cardiovascular disease and colorectal cancer: U.S. Preventive Services Task Force recommendation statement. JAMA Intern Med 2016; 164: 836–845. 9. Bell AD et al.: The use of antiplatelet therapy in the outpatient setting: Canadian Cardiovascular Society guidelines. Can J Cardiol 2011; 27 Suppl A: S1–S59. 10. Piepoli MF et al.: 2016 European guidelines on cardiovascular disease prevention in clinical practice: the sixth joint task force of the European Society of Cardiology and Other Societies on cardiovascular disease prevention in clinical practice (constituted by representatives of 10 societies and by invited experts) Developed with the special contribution of the European Association for Cardiovascular Prevention & Rehabilitation (EACPR). Eur Heart J 2016; 37: 2315–2381. 11. Espinola-Klein C: No place for Aspirin in primary prevention – News since ESC/ESVS PAD GUIDELINES 2017.https://www.escardio.org/Working-groups/Working-Group-on-Aorta-and-Peripheral-Vascular-Diseases/Publications/No-place-for-Aspirinin-primary-prevention. Letzter Zugriff: 13.3.2019. 12. Arbeitsgemeinschaft Lipide und Atherosklerose (AGLA): Antithrombotika 2017. www.agla.ch
Valérie Herzog
Quelle: «Role of ASS in primary prevention», Cardiology Update, 16. bis 20. Februar 2019 in Davos.
Foto: Jan Lipton, Cardiology Update
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