Transkript
ERNÄHRUNGSTRENDS
Ernährungstrends in der Ernährungsberatung
Marina Martin
Ernährungstrends boomen und das Interesse an Ernährung nimmt kontinuierlich zu. «Ich möchte meinen Körper gerne entschlacken, darum mache ich jetzt eine Kur.» «Sind Chiasamen wirklich so gesund?» «Was halten Sie vom intermittierenden Fasten?» Fragen, die eine Ernährungsberaterin sehr häufig hört, nicht nur im privaten Umfeld, sondern immer häufiger auch im Beratungsalltag. Doch wie viel Beratungsbedarf ist vorhanden? Der Artikel soll Chancen und Probleme aufzeigen, die damit einhergehen, und eine Anleitung geben, wie mit dem zunehmenden Interesse an Ernährungstrends professionell umgegangen werden kann.
Das Interesse an Ernährungsformen, die von den Empfehlungen der Fachgesellschaften abweichen, ist ungebrochen. Ob vegetarisch oder vegan, Low-carb, Glyx, Paleo, Sirtuindiät, Intervallfasten – immer häufiger sind Ernährungsfachkräfte mit Fragen zu diesen oft völlig unterschiedlichen Ernährungsweisen konfrontiert. Dabei geht es meist um die Eignung der jeweiligen Kostform, aber auch um die praktische Umsetzung sowie die Thesen, die hinter den Konzepten stecken. Die nationale Ernährungserhebung (menuCH) respektive die Schweizer Ernährungsberichte geben Hin-
Kasten:
Zieldefinition
Ziele, Wünsche Was erhofft sich der Klient vom Ernährungstrend? Erleichtert Entscheidungen (weniger Auswahl)
Gesundheit, mehr Vitalität, besseres Körpergefühl etc.
Verspricht schnelle Erfolge bezüglich Gewichtsreduktion
Wie kann das Ziel ohne unnötige Ernährungseinschränkungen erreicht werden?
Wissensvermittlung, um den Klienten zu befähigen, selbstständig Entscheidungen zu treffen: – Bedeutung der Makronährstoffe – Was macht eine Mahlzeit ausgewogen? – Lesen von Verpackungen (Nährwertangaben,
Zutatenliste) Was bedeutet Gesundheit? Wie erkennt der Klient diese? Was braucht dieser, um ein gutes Körpergefühl zu haben? Hier zählt nicht nur die Ernährung, sondern es dürfen und sollen auch andere Bereiche miteinbezogen werden wie Sport, Entspannung, Genuss etc. Der Klient macht sich Gedanken und notiert, was ihm guttut und wann er sich gut fühlt. Zieldefinierung: schneller Gewichtsverlust mit Jo-Jo-Effekt oder langsamer, aber lang anhaltender Gewichtsverlust? Was erhofft sich der Klient vom Gewichtsverlust, was soll sich nebst der Zahl auf der Waage verändern (mehr Energie, besseres Körpergefühl etc.)?
weise auf grössere Ernährungstrends. So zeigt sich, dass der Anteil an Personen, die kein Fleisch essen, zugenommen hat; waren es im 4. Ernährungsbericht (1994–1995) noch 1 bis 3 Prozent, gaben zehn Jahre später 4,7 Prozent der Erwachsenen an, sich vegetarisch oder vegan zu ernähren (1). Vergleicht man die eingekauften Lebensmittel aus den Jahren 2007 und 2017, zeigen sich deutliche Veränderungen. So ging der Konsum von Milch, Orangen, Trauben und Kernobst merklich zurück. Schweizer konsumierten dafür deutlich mehr Hülsenfrüchte, Avocados, Nüsse, Quinoa und Dinkel. Diese Lebensmittel finden sich oft auf dem Speiseplan von aktuellen Ernährungstrends wie vegan, Clean eating, Paleo und Superfood und zeigen, wie sich der Lebensmittelmarkt hierdurch verändert (2).
Umgang in der Beratung (Kasten)
Wie geht die Ernährungsberatung professionell mit Ernährungstrends um? Grundvoraussetzung ist, dass die Ernährungsberatung über die aktuellen Ernährungstrends informiert ist, beispielsweise durch Artikel aus der Laienpresse, aus wissenschaftlichen Quellen, aus digitalen Medien sowie aus den sozialen Netzwerken. Die gemeinnützige Organisation Eufic (European Food Information Council) bietet auf ihrer Homepage viele wissenschaftliche Artikel, unter anderem zum Thema Ernährungstrends. Dabei werden einzelne Ernährungstrends unter die Lupe genommen und anhand wissenschaftlicher Daten bewertet. Neue Produkte sind genauer zu studieren. Was macht diese interessant, besonders, und was verspricht sich der Konsument davon?
Motivation, Ziele, Wünsche des Klienten klären Warum hat der Klient eine bestimmte Ernährungsform gewählt, welchen Vorteil erhofft er sich dadurch? Diese Information ist für die Ernährungsberatung unabdingbar, nur so kann diese den Klienten
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abholen und adäquat beraten. Der Klient merkt das Interesse und sieht, dass individuell auf ihn und seine Bedürfnisse eingegangen wird – ein wichtiger Schritt im Beziehungsaufbau.
Wissenschaftliche Beurteilung des Ernährungstrends (Chancen, Risiken) Sind Erwartungen und Wünsche geklärt, geht es darum abzuwägen, welche Chancen Ernährungstrends im jeweiligen Fall haben. Das Interesse an Ernährung ist eine wichtige Grundvoraussetzung für eine Veränderung im Ernährungsverhalten und dient der Motivation. Doch müssen auch die Risiken, die ein Ernährungstrend mit sich bringt, berücksichtigt werden. In der Ernährungsberatung ist abzuschätzen, ob es kritische Nährstoffe gibt oder diese fehlen und wie diese gegebenenfalls ergänzt werden können. Ernährungstrends, welche besonderen Wert auf eine möglichst gesunde, ausgewogene und abwechslungsreiche Ernährung legen, haben zwar auf den ersten Blick ein eher niedriges Risiko für eine Mangelernährung, können aber das Risiko für die Entwicklung einer Essstörung oder eines auffälligen Essverhaltens wie zum Beispiel einer Orthorexie (starke Fokussierung auf die Auswahl von ausschliesslich «gesunden» Lebensmitteln) begünstigen (3).
Gemeinsam mit dem Klienten Wege finden All diese Überlegungen sind in der Beratung transparent zu vermitteln. Die Ziele, welche diesen zur Ernährungsumstellung antreiben, sollten weiterverfolgt und genau definiert werden (Kasten). Die Kunst der Ernährungsberatung ist es, eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung «schmackhaft» zu machen, ganz ohne trendige Namen, ohne Slogan und ohne Gesundheitsversprechen, dafür mit viel Flexibilität, gesundem Menschenverstand und Genuss.
Korrespondenzadresse: Marina Martin BSc in Ernährung und Diätetik Ernährungsberatung Universitätsspital Zürich Rämistrasse 100 8091 Zürich E-Mail: marina.martin@usz.ch
Literatur: 1. Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV: Statistiken und Berichte Ernährung (n.d.). Abgerufen von www.blv.admin.ch/blv/de/home/lebensmittel-und-ernaehrung/publikationen-und-forschung/statistik-und-berichte-ernaehrung.html 2. Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV (2019). Schweizer Ernährungsbulletin 2019, Bern. 3. Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES (n.d.). Abgerufen am 30.1.2019 von www.aes.ch/orthorexie/
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