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FORTBILDUNG
ADHS im Erwachsenenalter: Mode, Neuroenhancement oder wann behandle ich doch?
Das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) steht wegen der angeblich viel zu freizügigen Verschreibung von Stimulanzien unter kritischer Beobachtung. Über den sinnvollen Einsatz solcher Substanzen sprach Prof. Dr. med. Thomas J. Müller, Privatklinik Meiringen und Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern, an einer Fortbildungsveranstaltung in Zürich.
(Foto: H.B.)
Prof. Thomas J. Müller
von Halid Bas
D er Konsum von Methylphenidat hat weltweit zugenommen, und diese Zunahme ist auch für die Schweiz belegt. So fand eine Studie bei Studenten der ETH Zürich und der Universität Basel einen durchaus relevanten Konsum von stimulierenden Substanzen wie Methylphenidat, Amphetaminen, Kokain, aber auch Sedativa (1). Dabei dürfte es sich um Versuche in Richtung Neuroenhancement handeln. Von Neuroenhancement wird (zu) viel erwartet. Wie die Erfahrung aber zeigt, kommt es bei Menschen ohne ADHS nur zu einer kurzfristigen Vigilanzsteigerung und Verbesserung der Konzentration, allerdings mit schlechteren Reaktionszeiten. Zudem gibt es kaum Hinweise, dass Neuroenhancement zu besseren Prüfungsleistungen führt. Dem steht zudem ein gewisses Abhängigkeitsrisiko gegenüber.
Begleiterkrankungen als Therapiekriterium Die Diagnose ADHS stelle keine zwingende Behandlungsindikation dar, hielt Müller zunächst fest. Eine solche ist jedoch in Abhängigkeit vom Schweregrad, von komorbiden psychiatrischen und somatischen Störungen und von psychosozialen Defiziten bei Erwachsenen gegeben. Eine Behandlung mit einem Stimulans kommt bei ADHS bei starker Beeinträchtigung in mindestens einem Lebensbereich oder bei leichter Beeinträchtigung in mindestens zwei Lebensbereichen in Betracht. Im Erwachsenenalter rechtfertigen zudem viele Komorbiditäten eine Therapie, vor allem eine stark erhöhte Verletzungsgefahr sowie höhere Risiken für Depressionen, Angststörungen und Substanzmissbrauch (2). Entgegen manchen Annahmen schützt auch ein hoher Intelligenzquotient nicht vor den nachteiligen Auswirkungen eines ADHS.
Basis der Behandlung ist die Psychoedukation. Dazu gehört eine ausführliche und verständliche Informationsvermittlung zum Krankheitsbild. Diese soll bei der Einordnung der Erlebnisse und beim selbstverantwortlichen Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten helfen. Der Einbezug wichtiger Bezugspersonen bietet auch eine emotionale Entlastung. Wenn komorbide Faktoren fehlen – und bei hoher Intelligenz –, kann ein psychotherapeutisches Coaching ausreichen. Dabei stehen die Tagesstrukturierung und die Terminplanung im Zentrum. Für gewisse Patienten kann eine kognitive Verhaltenstherapie in Einzel- oder Gruppenbehandlung beigezogen werden. Beim Neurofeedback konnte für Erwachsene bisher keine sichere Wirksamkeit nachgewiesen werden – im Gegensatz zum Kindes- und Jugendalter.
Individuelle Stimulanzienwahl In einer grossen systematischen Übersicht und Netzwerkmetaanalyse schnitten Methylphenidat, aber auch Atomoxetin hinsichtlich Wirksamkeit und Verträglichkeit gegenüber Plazebo gut ab, für Bupropion und Modafinil war die Datenlage hingegen dünner (3). Eine andere Studie hat die Effektstärken verschiedener Pharmakotherapien verglichen (4). Dabei ergab sich, dass Amphetamine, Methylphenidat und Atomoxetin bei ADHS sehr gute Effektstärken aufweisen, die denjenigen vieler allgemeinmedizinischer medikamentöser Therapien überlegen sind (4). Es sind also neben Lithium bei bipolaren Erkrankungen die besten Pharmakotherapien, die in der Psychiatrie zur Verfügung stehen, wie Müller resümierte. Grundsätzlich empfiehlt es sich, mit den Empfehlungen des «Arzneimittel-Kompendiums» zu beginnen, um Auseinandersetzungen mit den Krankenkassen aus dem Weg zu gehen. Somit steht an erster Stelle Methylphenidat, allenfalls zu ersetzen durch Atomoxetin
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
ADHS im Erwachsenenalter: Präparate in der Schweiz
Präparat
Wirkstoff(e)
Dosierung Hersteller Alters-
beschränkung
wird erstattet
Concerta® Methylphenidat 18–72 mg Janssen-Cilag bis 65 Jahre
Elvanse®
Lisdexamfetamin 30–70 mg Opopharma bis 55 Jahre
Focalin®
Dexmethylphenidat 5–20 mg Novartis
bis 60 Jahre
MPH-Mepha Methylphenidat 18–72 mg Mepha,
bis 65 Jahre
und Sandoz
Sandoz
Strattera® Atomoxetin®
40–100 mg EliLilly
bis 50 Jahre
wird nicht erstattet
Edronax®
Reboxetin
4–8 mg
Pfizer
bis 65 Jahre
Ritalin®
Methylphenidat 5–60 mg Novartis
bis 17 Jahre
Wellbutrin® Bupropion
150–300 mg GSK
keine
oder später Lisdexamfetamin. Welche Pharmakokinetik zu bevorzugen ist, hängt von individuellen Faktoren ab. Auch Kombinationen von verschiedenen Stimulanzien können nach Erfahrungen von Müller erfolgreich sein. Die Interaktionen zwischen den verschiedenen Stimulanzien sind gemäss der Literatur wenig untersucht, stellen aber im Allgemeinen keine Probleme dar. Trotzdem empfiehlt sich eine regelmässige Überprüfung der kardialen und anderen internistischen Parameter. Für die Wahl des Präparats können auch allfällige komorbide Störungen berücksichtigt werden. So kommen bei Suchterkrankungen eher Atomoxetin oder Lisdexamfetamin infrage. Bei bipolarer Erkrankung ist eine Phasenprophylaxe zwingend. Methylphenidat werden zwar antimanische Eigenschaften nachgesagt, aber dies ist erst an grösseren Patientenzahlen zu überprüfen. Bei begleitender schizophrener Störung spricht das psychotogene Risiko gegen eine Stimulanzientherapie. Bei depressiver Störung und nicht schwer ausgeprägtem ADHS kommt Bupropion, eventuell auch Venlafaxin, in Betracht. Mit dem Wechsel zwischen Präparaten solle nicht zu lange gewartet werden, mahnte Müller, denn es gibt mit Methylphenidat auch Therapieversager.
Stimulanzien auch erst im Erwachsenenalter noch hilfreich Die positive Wirkung einer Stimulanzienbehandlung bei ADHS lässt sich auch in Untersuchungen zur Häufigkeit von Verkehrsunfällen und Knochenbrüchen nachweisen. So ergab die Auswertung einer grossen Kohortenstudie bei ADHS-Patienten, dass der Einsatz einer Stimulanzientherapie bei Männern und Frauen mit einer signifikanten Reduktion des Risikos für Verkehrsunfälle assoziiert war (5). Damit wirkt die medikamentöse Therapie prophylaktisch gegen eine häufige und verhütbare Ursache von Morbidität und Mortalität bei ADHS. Eine retrospektive Kohortenstudie bei jungen Erwachsenen liess hinsichtlich des Frakturrisikos sogar eine inverse Dosis-Wirkungs-Beziehung bei mit Methylphenidat behandelten ADHS-Patienten erkennen (6).
Eine medikamentöse Therapie bei ADHS kann auch
noch im Erwachsenenalter einen messbaren Behand-
lungsnutzen stiften. In einer systematischen Übersicht
war die Kombination von pharmakologischer und nicht
pharmakologischer Behandlung am konsistentesten
mit günstigen Langzeitverläufen bei funktionellen
Aspekten und mit grossen Effektstärken assoziiert (7).
Ein späterer Behandlungsbeginn oder eine längere Ge-
samtdauer der Therapie hatte zudem keinen ausge-
prägten Einfluss auf die funktionellen Verläufe.
ADHS-Patienten unter Stimulanzienbehandlung sollten
regelmässig begleitet werden, denn die Adhärenz hin-
sichtlich dieser Therapie sei erfahrungsgemäss schlecht,
mahnte Müller. Diese Betreuung muss nicht zwingend
psychotherapeutisch sein, das Coaching soll aber si-
cherstellen, dass die Patienten die Stimulanzienbehand-
lung nicht von sich aus, beispielsweise aufgrund von
Nebenwirkungen, absetzen.
G
Halid Bas
Literatur:
1. Maier LJ et al.: To dope or not to dope: neuroenhancement with prescription drugs and drugs of abuse among Swiss university students. PLoS One. 2013 Nov 13;8(11):e77967.
2. Hodgkins P et al.: Cost of illness and comorbidities in adults diagnosed with attention-deficit/hyperactivity disorder: a retrospective analysis. Prim Care Companion CNS Disord. 2011;13(2). PCC.10m01030.
3. Cortese S et al.: Comparative efficacy and tolerability of medications for attention-deficit hyperactivity disorder in children, adolescents, and adults: a systematic review and network meta-analysis. Lancet Psychiatry. 2018; 5(9): 727–738.
4. Leucht S et al.: Putting the efficacy of psychiatric and general medicine medication into perspective: review of meta-analyses. Br J Psychiatry. 2012; 200(2): 97–106.
5. Zheng C et al.: Association between medication use for attentiondeficit/hyperactivity disorder and risk of motor vehicle crashes. JAMA Psychiatry. 2017;7 4(6): 597–603.
6. Schermann H et al.: Lower risk of fractures under methylphenidate treatment for ADHD: a dose-response effect. J Orthop Res. 2018; 36(12): 3328–3333.
7. Arnold LE et al.: Effect of treatment modality on long-term outcomes in attention-deficit/hyperactivity disorder: a systematic review. PLoS One. 2015 Feb 25;10(2):e0116407.
Quelle: Vortrag Prof. Dr. med. Thomas J. Müller am Fortbildungssymposium «Psychiatrie und Somatik im Dialog 2018», 13. September 2018 in Zürich. Hauptsponsor war die Mepha Pharma AG, die keinen Einfluss auf den Inhalt des wissenschaftlichen Programms nahm.
Merkpunkte:
● Stimulanzien sind im Sinne des Neuroenhancements Mode, aber für Personen ohne ADHS wenig hilfreich.
● Unbehandeltes ADHS führt zu vermehrter Komorbidität und zu Benachteiligung in Familie und Beruf.
● ADHS muss nicht zwingend medikamentös behandelt werden, sofern die Belastungen für Patient und Umwelt durch andere Massnahmen ausgeglichen werden können.
● Die medikamentöse Behandlung weist hohe Effektstärken auf und ist relativ nebenwirkungsarm.
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE