Transkript
1 • 2019
Editorial
«Zu früh», «zu spät» und andere nützliche Ausreden
Es gibt gute, schlechte und geniale Erfinder von Ausreden. Ausreden sind in Beziehungen und im Alltag genau so nützlich wie in der Politik. Dort vor allem bei jenen mit den höchsten moralischen Ansprüchen. Denn die haben’s besonders schwer. Die Grünen etwa müssen Ausreden dafür finden, dass sie am Bienen- und Insektensterben selber grosse Schuld tragen, etwa weil die ökologische Energiewende dazu geführt hat, dass riesige landwirtschaftliche Flächen für den Anbau von Mais zur Herstellung von Biokraftstoffen missbraucht werden. Klar, dass Käfer, Zikaden, Mücken und Wanzen längst Reissaus genommen haben vor solchen Monokulturen. Ausreden für die Wichtigkeit der Bioenergieproduktion sind da äusserst gefragt. Auch Tesla fahrende Daddys, die ihre Teenies beim Klimastreiken stolz hätscheln, brauchen dringend Ausreden dafür, dass die Teenies weniger begüterter Daddys in Afrika in den Kobaltminen unter übelsten Bedingungen schuften und nicht mal an Streik denken können. Es soll sogar Agenturen geben, die Ausreden erfinden und gegen Entgelt anbieten – nicht Politikern, sondern untreuen Ehemännern oder fremdgehenden Ehefrauen. Ausreden sind auch in der Medizin gefragt. Nein, nicht gegenüber den Patienten, sondern gegenüber den Leserinnen und Lesern von wissenschaftlichen Studien und denen gegenüber, die die Studien finanzierten. Das renommierte «British Medical Journal», das Ende Jahr jeweils – ganz ohne Erklärung oder Ausrede – dem britischen Humor Raum gibt, hat im vergangenen Dezember untersucht, mit welchen Ausreden – man kann sie natürlich auch «Argumente» nennen – die wichtigen Leute, die KOL (also die Key Opinion Leader), die von ihnen vorgestellten oder kommentierten Studien schön aussehen lassen, wenn die Resultate eigentlich mies ausgefallen sind. Untersucht wurden die Berichte von «negativen», will heissen enttäuschenden, Studien in der Kardiologie.
In mehr als drei Vierteln der Fälle mit negativem Studienausgang (beispielsweise Nichterreichen des festgelegten Studienendpunkts) boten die KOL andere Erklärungen an als das schlichte Versagen der untersuchten Therapiemethode, etwa eines Testmedikaments. Die humorigen Autoren der Metastudie stellten die wichtigsten Ausreden in einem «Pannelist’s Playbook» zusammen – quasi als Anleitung für weniger kreative oder eher skrupulöse Forscher und natürlich für Untersucher im Dienst von interessierten Finanzgebern. Am beliebtesten war die Erklärung «Die Studienpopulation war zu klein». Aber auch Ausreden wie «die Dosierung war falsch gewählt», «die Nachbeobachtungszeit war zu kurz» oder «die Einschlusskriterien waren zu grosszügig» waren sehr beliebt. Wo das keinen Sinn ergab, musste man auf Ausflüchte wie «Erkrankung zu schwer» oder «Erkrankung zu leicht», «Therapie zu spät» oder «Therapie zu früh» oder «Population zu alt» oder «Population zu männlich» oder «Population zu jung» zurückgreifen. Fazit der Briten: Keine Intervention ist so ineffektiv, dass es nicht eine Ausrede dafür gibt. Das ist weniger zynisch oder sarkastisch als richtig. Ehrlich und erheiternd jedenfalls, obschon: Wir lernen da im Grunde ja nichts Neues. Wissenschaft ist auch nicht anders als gewöhnliche Politik. Es gibt kaum einen politischen Entscheid und keine politische Forderung, die dermassen bescheuert ist, dass sich keine Begründung dafür finden liesse.
Richard Altorfer und Peter H. Müller
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