Transkript
FORTBILDUNG
Frühsymptome und Risikofaktoren depressiver Störungen
So gelingt die frühe Diagnose
Die Früherkennung affektiver Störungen stellt nicht selten eine Herausforderung dar, insbesondere wenn Patienten eine somatische Ursache ihrer Beschwerden annehmen. In diesem Beitrag werden Frühsymptome der Depression beschrieben und Fragebögen vorgestellt, die eine frühe Diagnose erleichtern. Ausserdem wird auf Risikofaktoren für die Entstehung einer Depression und von Suizidalität sowie auf die wichtige Abgrenzung rezidivierender depressiver Störungen zu Bipolar-II-Störungen eingegangen, da sich daraus Unterschiede in der Therapie ableiten.
Detlef E. Dietrich
Psychische Störungen gehören zu den häufigsten und oft lang anhaltenden Erkrankungen. Als primäre psychische Störungen sind dies insbesondere die Angststörungen (12,3% Jahresprävalenz) und die affektiven Störungen (12,4% Jahresprävalenz) (1). Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind affektive Störungen in den industrialisierten Ländern zudem mit den meisten Lebensjahren verbunden, die mit schweren Beeinträchtigungen gelebt werden (2). Früherkennung und zeitige Behandlung sind daher sehr wichtig. Derzeit wird von mindestens 4 Millionen an einer Depression erkrankten Menschen in Deutschland ausgegangen. Hiervon werden weniger als 2 Millionen als depressiv erkrankt erkannt und ein noch kleinerer Teil ausreichend behandelt (3–6). Gründe dafür scheinen zum einen die Sorge vor Stigmatisierung und die Unsicherheit der Betroffenen und Angehörigen, zum anderen die Symptomkomplexität der Erkrankung zu sein. So erleben viele Betroffene körperlich-vegetative Symptome und benennen auch nur diese in der Hausarztpraxis. Zudem bagatellisieren nicht wenige Patienten depressive Symptome, oder andere psychische Störungen wie Angstoder Suchterkrankungen verdecken eine depressive Symptomatik.
MERKSÄTZE
Das frühe Erkennen erster Anzeichen einer depressiven Störung kann durch gezieltes Nachfragen hinsichtlich der Kern- und Zusatzsymptome der Depression und/oder durch geeignete Screeninginstrumente erleichtert werden.
Durch frühzeitiges Behandeln und rezidivprophylaktische Massnahmen inklusive der Sensibilisierung der Patienten hinsichtlich eines Wiederauftretens depressiver oder hypomanischer Symptome kann der Langzeitverlauf der Erkrankung massgeblich beeinflusst werden.
Kasuistik 1
Eine 68-jährige Frau kommt erstmals in die Sprechstunde, weil sie einen neuen Hausarzt sucht. Sie habe sehr oft Kopfschmerzen, schlafe schlecht, habe wenig Energie und kaum Appetit. Seitens ihres früheren Hausarztes sei schon eine ausführliche Diagnostik in die Wege geleitet worden, ohne dass etwas gefunden worden sei, lediglich der Blutdruck sei manchmal zu hoch gewesen. Bei weiteren Nachfragen offenbaren sich Freudlosigkeit und vermindertes Interesse an Dingen, die ihr früher immer Freude bereitet hätten, eine zeitweise niedergedrückte Stimmung und ein verminderter Antrieb, ausserdem könne sie sich seit Wochen schlechter konzentrieren, lese in der Tageszeitung nur noch die Überschriften, mache sich sogar Sorgen, sie könnte eine beginnende Demenzerkrankung haben. Früher sei sie Mitarbeiterin einer Eventagentur und immer sehr aktiv und kreativ gewesen.
Frühsymptome
Die Kasuistik 1 zeigt, dass sich erst bei genauerem Nachfragen eine depressive Symptomatik offenbart. Die Patientin weist eher unspezifische, aber häufige Frühsymptome und somatische Beschwerden einer depressiven Störung auf. Die häufigsten früh auftretenden psychischen und somatischen Symptome einer Depression sind in Kasten 1 dargestellt. Viele der für die Depression typischen Symptome erklären den Grad der Beeinträchtigung und auch die Tatsache, dass viele an einer Depression Erkrankte sich gar nicht in hausärztlicher Behandlung befinden: Antriebsstörung, sozialer Rückzug, Gefühl von Schuld und Wertlosigkeit verhindern nicht selten den ärztlichen Kontakt. Kommt der Kontakt dann zustande, werden häufig Symptome wie Appetitminderung, unterschiedlichste Schmerzsymptome und Schlafstörungen geäussert, die depressive Stimmung, der Verlust von
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Kasten 1:
Häufige frühe Symptome und frühe somatische Beschwerden einer Depression
L Unterschiedliche Schmerzsymptome L Vegetative Störungen wie Schweissausbrüche oder Kälteschauer,
Herzklopfen/unklare Herzbeschwerden, Obstipation L Schwindel, Schlafstörungen L Abgeschlagenheit/Müdigkeit, Kraftlosigkeit L Konzentrationsstörungen, innere Unruhe und Ängste L Muskuläre Verspannungen im Kopf- und Nackenbereich, Rücken-,
Gelenk- und Muskelschmerzen, Klossgefühl im Hals, Magen-DarmBeschwerden, vermindertes sexuelles Verlangen
nach Ebel & Beichert 2002 (7)
Interesse oder Freude oder das verminderte Selbstwertgefühl jedoch schamhaft erlebt und oft nicht benannt. Eine Depression kann dann diagnostiziert werden, wenn mindestens 2 der 3 Kernsymptome (niedergedrückte Stimmung; Freud-/Interesselosigkeit; Antriebsstörung/erhöhte Ermüdbarkeit) und mindestens 2 weitere Zusatzsymptome (z.B. verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, vermindertes Selbstwertgefühl, Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit, negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, Suizidgedanken/-handlungen, Schlafstörungen, verminderter Appetit; vgl. auch Kasten 2) für mindestens 2 Wochen vorhanden sind (8, 9). Bei 2 zusätzlichen Symptomen geht man von einer leichten Depression aus, bei 3 bis 4 Zusatzsymptomen von einer mittelgradigen Depression. Von einer schweren Depression spricht man, wenn alle 3 Kernsymptome und mindestens 4 Zusatzsymptome vorhanden sind. Der Schweregrad richtet sich bei dieser Vorgehensweise also nach der Anzahl der Symptome, bei anderen Tests betrachtet man insbesondere die Ausprägung (z.B. beim Beck-Depressions-Inventar [10]) und/oder die Dauer/Häufigkeit der Symptome (s.u.). Zur genauen Eingrenzung der Diagnose muss allerdings mindestens noch die Verlaufsform erfragt werden (monophasisch, rezidivierend oder bipolar, s.u.).
Screeningfragebögen
Die Rate der Früherkennung affektiver Störungen kann durch in der Praxis ausgelegte Informationsflyer mit Selbsttest (11) oder durch die gezielte Ausgabe von Kurzfragebögen wie dem WHO-5 oder dem PHQ-9 (Kurzversion des PHQ-D mit depressionsbezogenen Fragen) bei Verdacht auf das mögliche Vorliegen einer depressiven Symptomatik erhöht werden. Der WHO-5 (WHO-5-Wohlbefindens-Index [12, 13]) ist ein fünf Fragen umfassender Screeningfragebogen der WHO, der das aktuelle Wohlbefinden erfassen soll (14). Die S3-Leitlinie für unipolare Depression empfiehlt diesen Fragebogen als Screeninginstrument. Bei jeder Frage können je nach Häufigkeit und Dauer der Symptome Werte von 0 bis 5 angegeben werden. Ein niedriger Summenwert von kleiner als 13 weist auf eine mögliche Depression hin (12). Der PHQ-9-Fragebogen (15) umfasst neun Fragen (vgl. Kasten 2) zu Häufig-
keit und Dauer von Depressionssymptomen, er eignet sich zur differenzierteren Messung des Schweregrades einer Depression und entspricht dem Depressionsmodul des PHQ-D (16, 17). Beide Tests sind frei im Netz erhältlich (WHO-5 unter [18], PHQ-D unter [19] und PHQ-9 unter [20]) und einfach auszuwerten.
Risikofaktoren
Vor dem Hintergrund einer meist multifaktoriellen Ätiopathogenese affektiver Störungen kommt auch der Identifikation potenzieller Risikofaktoren für die Prävention und Frühintervention eine zentrale Bedeutung zu. Stress kann unter bestimmten genetischen Bedingungen (Serotonin-Transporter-Allel-Varianten) die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer Depression erhöhen (21). Weitere Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer Depression erhöhen beziehungsweise deren Verlauf verlängern können, sind weibliches Geschlecht, frühere affektive Episoden, junges Alter bei erster Episode, affektive Störungen in der Verwandtschaft 1. und 2. Grades, ernste somatische Erkrankungen, Schlafstörungen, Einsatz potenziell depressiogener Medikamente, psychische Komorbiditäten, psychosoziale Belastungen (z.B. Arbeitslosigkeit und aktuelle oder geplante Veränderungen am Arbeitsplatz) sowie schlechte oder fehlende familiäre, partnerschaftliche oder freundschaftliche Bindungen (22–27). Einige dieser Faktoren liefern bei Identifizierung natürlich wichtige Hinweise auf mögliche therapeutische Ansätze.
Bipolar-II-Störung
Die depressive Symptomatik in Kasuistik 2 imponiert zunächst als depressive Anpassungsstörung. Erst bei genauerem Nachfragen berichtet der Patient über eine rezidivierende hypomanische Symptomatik und Depressionen in der Vorgeschichte. Aus der früheren Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung wird nun die Diagnose einer Bipolar-II-Störung (rezidivierende Depressionen, gemischt mit
Kasuistik 2
Ein 40-jähriger Industriedesigner fühlt sich schlapp und energielos. Er wacht morgens schon um 4.00 Uhr auf und schläft dann nicht mehr ein. Man hat ihm kürzlich die Arbeit gekündigt, seine Frau hat ihn in die Sprechstunde geschickt. Er hat wenig Antrieb, unternimmt weniger mit Freunden und hat auch keine Lust dazu, glaubt zudem nicht, dass er eine neue Arbeitsstelle bekommen könnte. Bei genauerem Nachfragen berichtet er, dass er früher bereits depressive Episoden gehabt habe, bereits mehrfach habe er in solchen Situationen auch seinen Job verloren, obwohl er zuvor aus seiner Sicht sehr gute Arbeit geleistet habe. Es sei sowieso häufig so gewesen, dass er eine neue Arbeitsstelle mit viel Euphorie, Elan und auch Energie begonnen habe, sehr leistungsfähig und kommunikativ gewesen sei sowie viele Ideen gehabt habe. Bei näherem Nachfragen wird deutlich, dass er in diesen Zeiten auch ein vermindertes Schlafbedürfnis, keine Müdigkeit und ein intensives Sozialleben gehabt hat.
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Kasten 2:
Patientenfragebogen
Wie oft fühlten Sie sich im Verlauf der letzten 2 Wochen durch die folgenden Beschwerden beeinträchtigt?
1. Wenig Interesse oder Freude an Ihren Tätigkeiten
2. Niedergeschlagenheit, Schwermut oder Hoffnungslosigkeit
3. Schwierigkeiten, ein- oder durchzuschlafen, oder vermehrter Schlaf
4. Müdigkeit oder Gefühl, keine Energie zu haben
5. Verminderter Appetit oder übermässiges Bedürfnis zu essen
6. Schlechte Meinung von sich selbst; Gefühl, ein Versager zu sein oder die Familie enttäuscht zu haben
7. Schwierigkeiten, sich auf etwas zu konzentrieren etwa beim Zeitungslesen oder Fernsehen
8. Waren Ihre Bewegungen oder Ihre Sprache so verlangsamt, dass es auch anderen auffallen würde? Oder waren Sie im Gegenteil «zapplig» oder ruhelos und hatten dadurch einen stärkeren Bewegungsdrang als sonst?
9. Gedanken, dass Sie lieber tot wären oder sich ein Leid zufügen möchten?
Überhaupt nicht
❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏
❏ ❏
❏
An einzelnen Tagen
❏ ❏ ❏ ❏ ❏ ❏
❏ ❏
❏
An mehr als der Beinahe Hälfte der Tage jeden Tag
❏❏ ❏❏ ❏❏ ❏❏ ❏❏ ❏❏
❏❏ ❏❏
❏❏
Auswertung/Summenbildung über Antwortpunkte der Fragen (PHQ-9):
0 = überhaupt nicht
5 = gesund
1 = an einzelnen Tagen
10 = unauffällig
2 = an mehr als der Hälfte der Tage
10–14 = leichte Depression
3 = an beinahe jedem Tag
15–19 = mittelgradige Depression
20–27 = schwere Depression
Hypomanien; während der Hypomanie ist die Arbeitsfähigkeit meist noch erhalten). Diese Änderung der Diagnose führt zu einem anderen Behandlungsansatz, insbesondere einer Therapie mit Stimmungsstabilisierern wie Lamotrigin, Quetiapin oder Lithium. Die Diagnosestellung einer Bipolar-II-Störung ist nicht einfach, weil in der hypomanischen Phase bei den Betroffenen kein Krankheitsgefühl besteht (sie fühlen sich oft «grossartig»), höchstens die Angehörigen leiden zum Beispiel unter den vermehrten Aktivitäten, der grösseren Geselligkeit oder dem geringeren Schlafbedürfnis. Hier kann meist nur das gezielte Nachfragen während der depressiven Episode helfen. Das Aufdecken derartiger Phasen und die damit verbundene Einleitung einer geeigneteren Therapie erfolgen im Durchschnitt erst etwa neun Jahre nach der ersten depressiven Episode (28). Die genaue Befragung zum bisherigen Verlauf (Häufigkeit und Ausprägung der Episoden, Suizidalität) und die Frage danach, was in der Vorgeschichte geholfen hat (und was nicht), sind essenziell für die Therapieplanung. Eine psychotherapeutische Begleitung, die Einleitung einer längeren
Psychotherapie oder psychoedukative Massnahmen können hilfreich sein, insbesondere wenn dies die Medikamenteneinnahme sichert (29, 30).
Therapeutische Hinweise
Die Therapie richtet sich nach den erhobenen Informationen über Art, Verlauf, Risikofaktoren, Komorbiditäten, Komedikation sowie Schweregrad und Ausprägung der affektiven Störung sowie nach früheren Erfahrungen des Betroffenen mit Behandlungsstrategien. Rückfallprophylaktisch können psychotherapeutische Behandlungen (z.B. kognitive Verhaltenstherapien) sogar besser wirken als alleinige medikamentöse Strategien (31). Nach erfolgreicher Behandlung gilt es bei affektiven Störungen im Behandlungsverlauf noch, mögliche Residualsymptome zu identifizieren und diese «Restdepressivität» auch konsequent weiterzubehandeln, da die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs sonst deutlich erhöht ist (32). Die häufigsten Restsymptome sind Schlafstörungen, Müdigkeit, vermindertes Interesse, Schuldgefühle und Konzentrationsstörungen.
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Sie können gleichzeitig als Frühsymptome der potenziell nächsten Episode angesehen werden. Bei fehlendem therapeutischem Ansprechen nach einer 6-wöchigen medikamentösen Therapie oder einer 3-monatigen erfolglosen Psychotherapie empfehlen die S3-Leitlinien zur Depression eine fachärztliche Konsultation.
Suizidalität
Ein gezieltes Nachfragen hinsichtlich suizidaler Gedanken ist bei Verdacht auf das Vorliegen einer mittelschweren oder schweren Depression immer notwendig und wird in der Regel mit Erleichterung seitens des Betroffenen quittiert. Das Risiko eines Suizidversuchs wird nach Wolfersdorf (33, 34) insbesondere durch folgende Faktoren erhöht: L hinsichtlich der Symptomatik durch Hoffnungslosigkeit,
fehlende Zukunftsvorstellung, Selbstanklage, Schuldgefühle, starke Denkeinengung, Agitiertheit, anhaltende Schlafstörungen, Gewichtsverlust;
L hinsichtlich der Lebenssituationen durch chronische Er-
krankungen, mehrfache aktuelle Belastungen, hohes Le-
bensalter, männliches Geschlecht, Arbeitslosigkeit, Single-
dasein, fehlende religiöse oder ähnliche Bindung;
L hinsichtlich der Suizidintentionen durch Suizidversuche in
der näheren Vorgeschichte, konkrete Vorstellungen/Pläne,
Suizidvorbereitungen, «harte» Methoden, Abschiedsvor-
bereitungen sowie direkte oder indirekte Suizidankündi-
gungen.
L
Prof. Dr. med. Detlef E. Dietrich Burghof-Klinik Rinteln, D-31737 Rinteln
Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert.
Literatur unter www.arsmedici.ch
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 2/2018. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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