Transkript
INTERVIEW
Update Migräne
Neue Substanzklasse erweitert Therapieoptionen
Interview mit Prof. Peter Sandor, Bad Zurzach und Baden
Eine Querschnitterhebung aus zehn europäischen Ländern zeigt, dass Migräne unterbehandelt ist und nur eine Minderheit der Betroffenen eine leitliniengerechte Therapie erhält (1 ). Über die Versorgungssituation in der Schweiz sowie die therapeutischen Optionen in Vorsorge und Therapie unterhielten wir uns mit dem Kopfschmerzspezialisten Prof. Dr. med. Peter Sandor.
Zur Person
Prof. Dr. med. Peter Sandor Chefarzt ANR und Leiter Neurologie Ärztlicher Direktor Neurologie RehaClinic, Bad Zurzach Akutnahe Rehabilitation RehaClinic (ANR) am Kantonsspital Baden
fehlen diese Zahlen, es läuft dazu gerade eine entsprechende Befragung. Bis anhin gehen wir davon aus, dass von 8 Millionen Einwohnern etwa 1 Million die Migränekriterien der International Headache Society erfüllen. Auch Leitlinien zur Therapie gibt es in der Schweiz bislang nicht, es fehlen Daten zur Epidemiologie. Die Schweizerische Kopfwehgesellschaft (SKG) ist aber mit 150 Mitgliedern sehr gut aufgestellt, und das Interesse am Thema ist im Vergleich zu anderen Ländern sehr gross.
Wie viele Patienten leiden in der Schweiz unter Migräne, und wie steht es um ihre medizinische Versorgung? Prof. Dr. med. Peter Sandor: Der in der Querschnitterhebung Eurolight verwendete Fragebogen ist gut validiert. Er besteht aus etwas mehr als 100 Fragen und wurde bisher in 13 Ländern eingesetzt – aber noch nicht bei uns. In der Schweiz
Kopfschmerzen in der Schweiz: Teilnehmer gesucht für Onlinebefragung
Die erste nationale Studie zu dieser Thematik soll zu einem besseren Verständnis der Einschränkung von Patienten durch Kopfschmerzen in der Schweiz beitragen und ein bedürfnisorientiertes Management von Kopfschmerzpatienten unterstützen. Die Studie, eine Zusammenarbeit der Patientenorganisation Migraine Action, der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft sowie der Universitäten Zürich und Basel, empfohlen durch pharmaSuisse, läuft als anonymisierte Onlineumfrage voraussichtlich bis Mitte Juni 2019.
Unter www.rosenfluh.ch/qr/umfrage-kopfschmerz bzw. direkt via QR-Code finden Sie nähere Informationen sowie die Links zur Onlineumfrage.
Wissen die Betroffenen um ihre Erkrankung? Sandor: Nein, ein grosser Teil der Patienten, die diese Kriterien erfüllen, geht wahrscheinlich davon aus, dass sie unter Spannungskopfschmerzen leiden. Bei den meisten Patienten ist die Migräne auch nicht so stark ausgeprägt, dass sie das Leben einschneidend verändern würde. Wenn jemand nur ein bis zwei Mal im Jahr unter einer Migräneattacke leidet, ist die Einschränkung nicht grösser als die Einschränkung durch grippale Infekte. Schwierig wird es bei denen, die häufiger Beschwerden oder Mischbilder verschiedener Kopfschmerzen haben und unter einer erheblichen Krankheitslast leiden.
Wie sind die volkswirtschaftlichen Auswirkungen, wie viele Krankheitstage beispielsweise sind migränebedingt? Sandor: Auch eine solche Statistik ist in der Schweiz nicht erhoben, und meine selektierte Population ist diesbezüglich wohl nicht repräsentativ. Bei meinen Patienten sind in der Regel eine beträchtliche Anzahl der jährlichen Krankheitstage auf eine Migräne zurückzuführen.
Gehen die Betroffenen zum Arzt – und wann? Sandor: Die meisten Betroffenen versuchen, zunächst selbst zurechtzukommen. Zum Arzt gehen sie eher spät und besprechen dann auch nicht unbedingt direkt die Kopfschmerzen, sondern diverse Schmerzen oder Beschwerden anderer Art, Verstopfung et cetera. Die Kopfschmerzen werden oft als etwas ganz Normales angesehen. Selbstmedikation ist bei Migräne fast die Regel, viele machen einen Versuch mit Paracetamol oder ASS 500 mg. Leichtere Kopfschmerzen können mit ein oder zwei Tabletten dieser einfachen Schmerzmittel auch durchaus erfolgreich behandelt
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werden, bei echter Migräne sollte man lieber zwei Tabletten als eine versuchen.
Wie ist das Zusammenspiel zwischen Hausarzt und Facharzt? Sandor: Erst wenn der Leidensdruck gross genug ist und das Leben signifikant beeinträchtigt wird, gemäss der International Classification of Functioning eine Partizipationsstörung, sprechen die Patienten auch mit dem Arzt. In der Regel gehen sie zuerst zum Hausarzt – und die Schweizer Hausärzte sind sehr kompetent, sie kennen sich bei Kopfschmerzen ziemlich gut aus und können mit diesen Situationen in der Regel gut umgehen. Wenn Komorbiditäten vorliegen, zum Beispiel eine begleitende Depression, oder wenn die Migräne ein Ausmass annimmt, dass das Leben häufig verunmöglicht wird, die Medikamente in der Wirksamkeit nachlassen oder gar eine prophylaktische tägliche Medikamentengabe notwendig wird, dann wird häufig der Schritt vom Hausarzt zum Neurologen gemacht. Dieser nimmt dann die nächste Schwierigkeitsstufe in Angriff. Wenn die Schmerzen vollends aus dem Ruder laufen und vielleicht auch medikamenteninduzierte Schmerzen ein Thema sind, ist es Zeit, den Spezialisten zuzuziehen.
Migräne ist die mit Abstand wichtigste Entität. Diese Klassifikation hilft, die richtige Diagnose zu stellen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu einer wirksamen Therapie zu finden. Sie ist auch im hausärztlichen Bereich gut einsetzbar.
Und worauf stützt sich die Therapie? Sandor: Gerade sind die aktuellen Therapieempfehlungen der SKG erschienen, die die aktuelle Literatur stärker berücksichtigen als die Leitlinien (siehe Linktipp). Diese Empfehlungen stützen sich in grösserem Ausmass auf den Konsensus eines Expertengremiums – die Leitlinien werden rein evidenzbasiert erstellt und repräsentieren stärker die älteren Medikamente. Das heisst aber nicht, dass die alten Medikamente grundsätzlich die bessere Wahl wären. In einer Kopfschmerzsituation, bei der früher Amitrytptilin eingesetzt wurde, ein altes Medikament mit ganz viel Evidenz, aber auch einer Reihe doch beträchtlicher Nebenwirkungen, würde ich vielleicht heute eher ein sedierendes SNRI wie Mirtazapzin einsetzen oder Venlafaxin, das stimulierend wirkt. Dafür gibt es zwar bei Weitem nicht so viel Evidenz wie für das Amitrytptilin, aber es ist vielleicht in der Patientensituation die wesentlich bessere Wahl und wirkt in einer ähnlichen Grössenordnung.
In der Akutsituation geht es um das Feuerlöschen und in der Prophylaxe um den Brandschutz.
Wie wird die Diagnose gestellt? Sandor: Die Diagnose erfolgt nach der dritten Klassifikation der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft, die Anfang letzten Jahres veröffentlicht wurde (siehe Linktipp [2]). Darin werden mehr als 250 Kopfschmerzarten unterschieden, die
Welche therapeutischen Optionen gibt es? Sandor: Grundsätzlich muss zwischen Akuttherapie und Prophylaxe unterschieden werden. In der Akutsituation geht es um das Feuerlöschen und in der Prophylaxe um den Brandschutz, die Verringerung der Auftretenswahrscheinlichkeit von Kopfschmerzen. Das sind häufig komplett unterschiedliche Ansätze (siehe auch Tabelle). Auch neben den Medikamenten gibt es gute Optionen. Im Bereich der Neurostimulation hat sich in der Schweiz beispielsweise Cefaly® bewährt, für das es gute Evidenz gibt – sowohl Daten für die Prophylaxe als auch eine neuere Studie zum Einsatz in der Therapie (3). Dabei handelt es sich um einen kleinen
Tabelle:
Therapie der Migräne
akut prophylaktisch
nicht medikamentös
sich im Dunkeln hinlegen, Augen schliessen, schlafen, Wasser trinken, etwas Kohlenhydrathaltiges essen
Kopfwehkalender führen und Auslöser vermeiden lernen, regelmässige Übungen zur Entspannung und Stressbewältigung (z.B. Yoga, autogenes Training, Muskelrelaxation nach Jacobson, Selbsthypnose, Biofeedback ...) regelmässiges Ausdauertraining (z.B. Radfahren, Schwimmen, Spazieren ...) Akupunktur
medikamentös
Attacken geringer Intensität: NSAR und andere Analgetika
Attacken mittlerer und hoher Schmerzintensität: Triptane, Antiemetika
herzwirksame Medikamente (Betablocker, Kalziumantagonisten), andere neurologische Medikamente wie Antiepileptika oder Antidepressiva (Trizyklika, SNRI) CGRP-Antikörper natürliche Substanzen wie Magnesium, Coenzym Q10, Riboflavin (Vitamin B2)
technologiegestützt Nicht invasive Neurostimulationsverfahren: Cefaly®*
Nicht invasive Neurostimulationsverfahren: Cefaly®* gammaCore®, Spring TMS® sTMS Mini®
* in der Schweiz erhältlich
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Neurostimulator, der für die Anwendung im Gesicht zugelassen ist. Die Elektrode wird auf der Stirn platziert und für täglich etwa 20 Minuten in der Prophylaxe bis hin zu einer Stunde in der akuten Situation angewendet. Die Patienten beschreiben ein leichtes «Piekseln». 80 Prozent der Patienten, die es in der Prophylaxe verwenden, probieren es auch in der Akutsituation, einigen ist es dann jedoch unangenehm.
Spielen Ergotamine noch eine Rolle in der Migränetherapie? Sandor: Bei uns spielen Ergotamine keine Rolle mehr, im Ausland hingegen schon, zum Beispiel in Indien – das hängt auch mit den Budgets zusammen. Ergotamine sind sehr günstig, recht gut wirksam, haben aber ein ungünstiges Nebenwirkungsprofil, und die Bioverfügbarkeit ist sehr variabel, sie sind sehr schlecht steuerbar.
Übernimmt die Krankenkasse die Kosten? Sandor: Bei dem Gerät handelt es sich um einen externen Stimulator der Nervus trigeminus – ein kraniales, Kopfschmerzzentriertes TENS-Gerät. Die Kosten sind fair, wenn man die Kosten komplett selber trägt, bezahlt man bei täglicher Anwendung zirka 1 Franken pro Tag. Es kostet etwa 360 Franken, sollte der Patient nicht damit zurechtkommen, erstattet der Anbieter nach einem Monat 300 Franken. Wirkt es, kann der betreuende Arzt dem Kostenträger schreiben, und etwa 90 Prozent der Krankenkassen übernehmen dann ungefähr drei Viertel der Kosten. Eine entspannende Technik, die von den meisten als angenehm empfunden wird – und vor allem ein Gerät, mit dem der Patient selber etwas für sich tun kann. Das finde ich attraktiv.
Was tun, wenn eine Therapie nicht anspricht oder die Wirkung nachlässt? Sandor: Da muss man ganz pragmatisch vorgehen. Die Migräne ist genauso variabel wie die Jahreszeiten, nicht alles passt immer gleich gut. Hat ein Medikament einmal gewirkt, kann es im therapeutischen Werkzeugkasten bleiben und später erneut versucht werden. Wenn ein Medikament nie gewirkt hat, würde ich darauf auch in Zukunft verzichten.
Therapieempfehlungen der SKG
Anfang 2019 ist die 10. vollständig überarbeitete Version der Empfehlungen zur Behandlung primärer Kopfschmerzen erschienen.
Sie finden sie unter dem folgenden Link oder direkt via QR-Code www.rosenfluh.ch/qr/skg_empfehlungen
Welche Bedeutung kommt bei den Triptanen der Applikationsform zu? Sandor: Eine sehr grosse. Am liebsten nehmen Patienten Tabletten, am besten wirksam ist jedoch die subkutane Spritze, am zweitbesten wirkt das Nasalspray. Bei hohem Leidensdruck sind die etwas direkteren Applikationsformen, wie subkutane Spritze und Nasalspray, zu befürworten, sie werden aber weniger gern angewendet.
Welchen Stellenwert haben komplementäre Methoden? Sandor: Für den Patienten sind sie extrem wichtig. Es ist die absolute Ausnahme, dass jemand noch nichts Komplementäres versucht hätte. Für den Arzt sind diese Methoden weniger wichtig, aber dennoch bedeutsam. Viele Ärzte, die sich mit Kopfschmerzen beschäftigen beherrschen auch eine oder mehrere komplementäre Methoden. Ich biete beispielsweise bei schwierigen Kopfschmerzsituationen als Komplement zur Pharmakotherapie eine Anleitung zur Selbsthypnose an – wieder mit dem Gedanken der Hilfe zur Selbsthilfe. Es geht dabei nicht um die Hypnose, sondern vielmehr um die Vermittlung der Technik, die die Patienten dann selbst einsetzen können.
Wie sieht es mit Akupunktur aus? Sandor: Dazu gibt es einen Cochrane-Review. Demzufolge sollte Akupunktur nach schulmedizinischer Massagabe als wirksam bezeichnet werden. Ihr kommt eine signifikante Bedeutung zu, und ich schicke Patienten, die das wollen, gern zu den TCM-Kollegen zur Akupunkturbehandlung.
Welche Bedeutung hat Koffein? Sandor: Der Stellenwert von Koffein wird kontrovers diskutiert. Es hat eine gewisse evidenzbasierte schmerzlindernde Wirksamkeit. Die Holländer etwa sistieren bei Patienten mit Medikamentenübergebrauchskopfschmerz auch den Koffeinkonsum, weil sie Koffein auch als akut wirksames Medikament betrachten. Wir finden das hier nicht so wichtig.
Internationale Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen
Die deutsche Version der 3. Auflage der Internationalen Klassifikation von Kopfschmerzerkrankungen finden Sie unter folgendem Link oder direkt via QR-Code: www.rosenfluh.ch/qr/ichd3
Es tut sich etwas im Bereich der Migräneprophylaxe, seit Kurzem ist der erste CGRP-Inhibitor auf dem Schweizer Markt. Was hat es damit auf sich? Sandor: Hierbei handelt es sich um eine komplett neue Substanzklasse, deren Wirkmechanismus bisher zur Migränetherapie noch nicht genutzt wurde. CGRP ist in den späten 1980er-Jahren im Kontext der Migräne und Clusterkopfschmerzen charakterisiert worden. Damals wurde gezeigt, dass diese Substanz bei der Aktivierung des Schmerzsystems bei starken Kopfschmerzen im Kopf freigesetzt wird. In der Folge hat man Moleküle entworfen, die diese Substanzen antagonisieren. Nachdem man zeigen konnte, dass eine Migräne sich so tatsächlich behandeln liesse, baute man sogenannte small molecules. In Studien hat sich gezeigt, dass diese super wirken, auch prophylaktisch, ohne dass kardio-
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CGRP-Inhibitoren im Überblick
Derzeit gibt es vier monoklonale Antikörper, die als CGRP-Inhibitoren zur Prophylaxe bei Migräne eingesetzt oder untersucht werden. Erenumab (Aimovig®) von Novartis ist seit 2018 sowohl in den USA, der EU als auch in der Schweiz zugelassen. Die Substanz von Eli Lilly, Galcanezumab (Emgality®), wurde ebenso wie Fremanezumab (Ajovy®) von Teva 2018 in den USA zugelassen. Eptinezumab kommt aus der Forschung der Firma Alder Biopharmaceuticals und ist derzeit weder in den USA noch in Europa zugelassen.
vaskuläre Nebenwirkungen auftreten. Limitierend aber war die damit einhergehende Hepatotoxizität, die nicht akzeptabel war. Deswegen wurde die weitere Entwicklung zunächst sistiert, später hat man dann biologische Substanzen entwickelt, Antikörper, die auch auf den CGRP-Rezeptor gehen oder den Liganden abfangen. Auch diese haben sich als wirksam erwiesen, sind aber aufgrund ihrer Pharmakogenetik und Halbwertszeit von einem Monat primär für den prophylaktischen Einsatz geeignet.
Werden die Kosten übernommen? Sandor: Es gibt eine Limitatio für eine Kostenübernahme also ein paar Bedingungen. Beispielsweise muss man andere zugelassene Substanzen probiert und die Kopfschmerzen mit einem Kopfschmerztagebuch gut dokumentiert haben. Die Kosten von mehr als 600 Franken pro Monat sind der Hauptgrund dafür, dass diese Substanzen nicht primär zum Einsatz kommen. Soweit wir wissen, ist die Verträglichkeit extrem gut, viel besser als bei den meisten anderen prophylaktisch einsetzbaren Substanzen, ausser vielleicht bei den natürlichen Substanzen wie Vitamin B2 und Coenzym Q10. Derzeit geht es bei den CGRP-Inhibitoren um vier Substanzen: Erenumab, Galcanezumab, Fremanezumab und Eptinezumab. Diese vier haben, soweit man weiss, ähnliche Charakteristika, Wirksamkeit und Verträglichkeit sind ähnlich. Es wird spannend sein zu sehen, wie sich die Preise entwickeln.
Wann kommen die anderen Substanzen in die Schweiz? Sandor: Das ist schwer zu sagen. Derzeit ist Erenumab von Novartis als erster und einziger CGRP-Inhibitor bei uns zugelassen, nachdem er 2018 zuvor in den USA und der EU die Zulassung erhalten hat.
Die Migräne ist genauso variabel wie die Jahreszeiten, nicht alles passt immer gleich gut.
Mit welchen Erfolgen ist zu rechnen? Wie sieht die Responserate aus? Sandor: Anders als in anderen Gebieten der Medizin ist bei der Migräne nicht damit zu rechnen, dass man den Krankheitsprozess durch den Einsatz eines monoklonalen Antikörpers stoppen kann. Es handelt sich um eine so komplexe Störung, dass die Blockierung eines Teils des Geschehens nicht zu einer Heilung führen kann. Aber etwa bei der Hälfte der Patienten nimmt die Anzahl der Kopfschmerztage um die Hälfte ab. Und es gibt eine Subgruppe von 10 bis 20 Prozent, die ganz ausserordentlich profitieren – und praktisch gar keine Kopfschmerzen mehr haben. Leider gibt es keine prädiktiven Merkmale. Bei der Mehrzahl der Patienten kann man nach einem Monat sagen, ob sie Responder sind, bei den meisten anderen weiss man das nach weiteren ein bis zwei Monaten mit Sicherheit.
Womit ist bei der Einnahme solch potenter Vasodilatatoren langfristig zu rechnen? Gibt es potenzielle Sicherheitsrisiken? Sandor: Was wir bislang gesehen haben, ist sehr positiv, aber wir wissen noch nicht, was das für andere Organsysteme, die auch CGRP exprimieren, langfristig bedeutet. Es scheint derzeit, als würde diese Blockade dort durch andere Systeme kompensiert. Das wird natürlich weiter beobachtet.
Wie schätzen Sie das Potenzial dieser Substanzen ein? Sandor: In der Rheumatologie hat sich die gesamte Versorgungssituation durch den Einsatz der Biologicals komplett verändert. Auch in der Rehabilitation, es gibt viel weniger Menschen, die heute aufgrund einer rheumatoiden Arthritis im Rollstuhl sein oder lange rehabilitiert werden müssen. Bei der Migräne ist das nicht so. Die monoklonalen Antikörper werden uns als spezialisierte Migräneneurologen nicht arbeitslos machen, leider. Aber sie sind eine valide und bis jetzt sehr verträglich scheinende zusätzliche Therapieform, die einen neuen Mechanismus bedient und für bestimmte Patienten sehr viel Hoffnung spendet. Auch wir als Behandler sind für diese komplett neue Option dankbar.
Das Gespräch führte Christine Mücke.
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Für welche Patienten sind sie geeignet? Sandor: Geeignet für einen Therapieversuch mit CGRP-Inhibitoren sind Personen, die durch ihre Migräne schwer beeinträchtigt sind. Also entweder Patienten mit chronischer Migräne, die mehr als 15 Tage im Monat schwere Kopfschmerzen haben, oder solche mit häufiger episodischer Migräne, die weniger als 15 Tage, aber meistens mehr als 8 Tage im Monat unter einer Migräne leiden.
1. Katsarava Z et al.: Poor medical care for people with migraine in europe – evidence from the Eurolight study. J Headache Pain 2018; 19(1): 10.
2. https://www.ichd-3.org/wp-content/uploads/2018/10/ICHD-3-Deutsche-Übersetzung-German-Translation-2018.pdf, Zugriff am 18.1.2019.
3. Chou DE et al.: External trigeminal nerve stimulation for the acute treatment of migraine: open-label trial on safety and efficacy. Neuromodulation 2017; 20(7): 678–683.
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