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FORTBILDUNG
Multiple Sklerose bei Kindern und Jugendlichen: Psychische Belastungen früh erkennen und behandeln
Aktuelle Studien zeigen, dass jugendliche Multiple-Sklerose-(MS-)Patienten besonders stark von kognitiven Defiziten betroffen sind und auch ein erhöhtes Risiko haben, eine Depression und/oder eine Fatigue zu entwickeln. Dr. Karin Storm van’s Gravesande vom Lehrstuhl für Sozialpädiatrie, kbo Kinderzentrum München GmbH, war an der MUSICADO-Studie zur Untersuchung von Kognition und Komorbiditäten massgeblich beteiligt. Im Interview gibt sie Auskunft zu den Konsequenzen der Studie und zu neuen Entwicklungen in der Behandlung.
Karin Storm van’s Gravesande
Psychiatrie + Neurologie: In welchem Alter tritt MS bei den Kindern und Jugendlichen im Durchschnitt auf? Dr. Karin Storm van’s Gravesande: Drei bis fünf Prozent der Erwachsenen erkranken vor dem 16. Lebensjahr an MS. In Deutschland betrifft dies rund 200 Kinder pro Jahr. Die meisten Kinder und Jugendlichen erkranken ab dem 13. Lebensjahr, nur 20 bis 30 Prozent erkranken vor dem 11. Lebensjahr. Es gibt aber auch einige sehr junge Kinder mit MS. Wir hatten bereits ein 4-jähriges Kind in der Abklärung. Dies ist jedoch sehr selten.
Hat es eine hormonelle Beteiligung oder genetische Prädisposition als Auslöser für MS? Karin Storm van’s Gravesande: Vor der Pubertät sind gleich viele Mädchen wie Jungen betroffen. Ab der Pubertät liegt ein ähnliches Verhältnis wie bei Erwachsenen vor, und es erkranken tendenziell mehr Mädchen an MS. Die Ursache hierfür ist bislang nicht geklärt. Aber eine hormonelle Ursache könnte hier schon eine Rolle spielen. Bei der Genetik wissen wir, dass HLA-DRB1* ein Risikofaktor auch für MS ist, unabhängig davon, ob im Kindes- oder Erwachsenenalter.
Wie zeigt sich die MS und welche Gefahren bestehen, tritt eine bleibende Behinderung in einem frühen Alter auf? Karin Storm van’s Gravesande: Kinder und Jugendliche haben im Prinzip die ähnlichen Symptome wie die Erwachsenen, jedoch ist eine polyfokale Manifestation als Zeichen einer höheren Entzündungsaktivität häufiger als bei Erwachsenen. In der MUSICADO-Studie zeigten sich bei einer polyfokalen Manifestation vor allem Sensibilitätsstörungen, gefolgt von Sehstörungen, eine Hirnstammsymptomatik, Ataxie oder Paresen. Bei 50 Prozent der Jugendlichen lag bei Erstdiagnose auch eine monofokale Symptomatik mit Symptomen wie Sehstörungen, gefolgt von Sensibilitätsstörungen, Hirnstammsymptomen, Ataxie oder Paresen vor. Bei 30 Prozent der untersuchten Jugendlichen mit MS zeigte sich in unserer Studie bereits im Frühstadium der Erkrankung ein kognitives Defizit, bei 21 Prozent eine Depression und bei 40 Prozent eine Fatigue. Daraus resultiert dann auch eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität. Ein wesentlicher Unterschied zu Erwachsenen mit MS ist, dass Patienten, die vor dem 16. Lebensjahr erkranken, in einem wesentlich jüngeren Alter eine bleibende körperliche Behinderung davontragen. Diese Beobachtung konnte in mehreren Studien zum natürlichen Langzeitverlauf gemacht werden.
Ist bekannt, ob es diese Kinder und Jugendlichen in der Schule oder in der Freizeit wegen MS schwerer haben? Karin Storm van’s Gravesande: Wir wissen aufgrund der klinischen Symptomatik, dass Kinder, die kognitive Probleme haben, wie zum Beispiel Aufmerksamkeitsprobleme, Probleme des Kurz- und Langzeitgedächtnisses und die der Verarbeitungsgeschwindigkeit beim Lernen und in der Schule Schwierigkeiten haben können. Bei einigen Fällen beobachten wir einen erheblichen IQVerlust. Dann tun sich die Kinder deutlich schwerer in der Schule. Auch können Freizeitaktivitäten aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung oder auch durch das Vorliegen einer Fatigue eingeschränkt sein. In der Beratung ist es daher sehr wichtig, dass rechtzeitig nach diesen Problemen geschaut und der Kontakt zu den Lehrern gesucht wird. Es ist wichtig, dass die Kinder zum Beispiel einen Nachteilsausgleich erhalten, diese beispielswiese mehr Zeit für Arbeiten erhalten oder bei Fatigue mehr Pausen nehmen können. Ein Ziel ist es jedoch für diese Kinder und Jugendlichen, dass sie ihr eigenes Leben leben können, das heisst, ohne sich ständig eingeschränkt zu fühlen. Aufgrund der Krankheit ist es aber genauso wichtig, dass sie ihre eigenen Leistungsgrenzen kennen. Insbesondere im Jugendalter, wenn die Betroffenen ausgehen wollen oder Alkohol trinken. Werden die Grenzen überschritten, löst das keinen Schub aus, aber die Leistung kann ab- und die Fatigue stark zunehmen. Dies gilt es in der Beratung anzusprechen, sodass eine individuelle Lösung gefunden werden kann.
Hat es Unterschiede im Erkrankungsverlauf bezüglich eines Krankheitsbeginns im Kindes- oder im Jugendalter? Karin Storm van’s Gravesande: Die Pathophysiologie ist sehr ähnlich: Auch bei der kindlichen MS kommt es zur Demyelinisierung, einem Verlust der Myelinscheiden und zu einer axonalen Degeneration. Dennoch sieht man im Vergleich zu den Erwachsenen eine höhere Entzündungsaktivität bei Kindern und Jugendlichen mit MS. Dies zeigt sich darin, dass Kinder und Jugendliche mit MS häufiger eine polyfokale Manifestation bei Erstdiagnose aufweisen. Ein weiteres Zeichen ist eine 2- bis 3-fach erhöhte Schubrate pro Jahr in den ersten fünf Erkrankungsjahren. In der Magnetresonanztomografie (MRT) wiederum zeigen Kinder und Jugendliche mit MS grössere T2-Volumina und eine höhere T2-Läsionslast. Im Gehirn zeigen sich dadurch multiple Läsionen, die sich auch
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wieder schnell zurückbilden können. Auf der anderen Seite konnte man anhand von Biopsien von Kindern und Jugendlichen mit MS eine stärkere axonale Degeneration sowie axonale Verluste nachweisen. Zudem entwickeln Kinder und Jugendliche mit MS früher eine Atrophie des Gehirns und zeigen Veränderungen in der Myelinisierung sowie eine geringere Kapazität für die Remyelinisierung.
Sie haben an einem Forschungsprojekt der Universitätskliniken München, Basel und Köln zu psychischen und kognitiven Auffälligkeiten teilgenommen. Wie war das Projekt aufgebaut? Was sind die wichtigsten Ergebnisse? Karin Storm van’s Gravesande: Das Forschungsprojekt startete in Freiburg und München in Kooperation mit Köln und Basel. Wir wollten in einer repräsentativen Kohorte von 106 Kindern und Jugendlichen mit MS und 210 gesunden Kontrollen Fatigue, Depression, kognitives Defizit und Einschränkung der Lebensqualität untersuchen, da die Studienlage zu diesen Themen sehr uneinheitlich ist. Gesunde Kontrollen wurden nicht nur nach Alter, sondern auch nach Bildung rekrutiert. Das heisst, wir unterschieden im Bildungsstand zwischen Schülern vom Gymnasium und zwischen Haupt- und Realschülern. Dies ist das Besondere an der Studie, da bislang der Alters- und Bildungsfaktor bei der Auswertung solcher Ergebnisse nie berücksichtigt wurde. Patienten und Kontrollen wurden einmalig einbestellt, und es wurde eine standardisierte Testbatterie, bestehend aus neuropsychologischen Tests für Kinder und Jugendliche und aus Fragebögen zur Fatigue, Depression und Lebensqualität, durchgeführt. Anhand der Auswertung der neuropsychologischen Tests konnten wir das eigene Screeninginstrument MUSICADO (Multiple Sclerosis Inventory of Cognition In Adolescents) zur Kognition, Fatigue und Lebensqualität für Kinder und Jugendliche von 12 bis 18 Jahren entwickeln. Dieser Test kann in 15 Minuten durchgeführt werden, und anhand von Grenzwerten kann man einschätzen, ob ein kognitives Defizit vorliegt, ob eine milde oder schwere Fatigue und ob eine leichte oder schwere Einschränkung der Lebensqualität vorliegt. Die Ergebnisse der MUSICADO-Studie zeigen, dass im Vergleich zu gesunden Kontrollen das Risiko für jugendliche MS-Patienten, an einer Depression zu erkranken, 4-fach höher ist. Insgesamt lag die Häufigkeit bei 21,7 Prozent. Das Risiko für eine milde Fatigue ist 2,2-fach höher, das für eine schwere Fatigue sogar 9,5-fach höher. Insgesamt wiesen 40 Prozent der MS-Betroffenen eine Fatigue auf. Fast ein Drittel, also 28,8 Prozent, der untersuchten Jugendlichen wiesen zudem kognitive Defizite mit Einschränkungen der Wortflüssigkeit, des Arbeitsgedächtnisses, des verbalen Kurzzeitgedächtnisses und der exekutiven Funktionen auf im Vergleich zu 15,3 Prozent der Jugendlichen in der gesunden Kohorte.
Seit einigen Jahren sind die immunmodulatorischen Basistherapien auch für Kinder ab 12 Jahren zugelassen. Neu kommt Fingolimod dazu. Sind diese genauso wirksam wie beim Erwachsenen, und wie sieht es mit den Nebenwirkungen aus? Karin Storm van’s Gravesande: Fingolimod erhält bald die Zulassung für die Behandlung von Kindern ab 10 Jahren. Ausschlaggebend waren die Ergebnisse der PA-
RADIGMS-Studie. In dieser prospektiven, plazebokontrollierten Studie bei Kindern mit MS nahmen 215 Kinder im Alter zwischen 10 und 17 Jahren mit schubförmiger MS teil. Sie wurden über einen Zeitraum von zwei Jahren entweder mit Fingolimod oder einem Interferonpräparat behandelt. Als Studienendpunkte wurden unter anderem die Reduktion der jährlichen Schubrate und das Auftreten neuer Entzündungsherde im MRT nach 2 Jahren Behandlungsdauer definiert. Die Schubrate nahm im Vergleich zum Interferonpräparat unter Fingolimod zu 82 Prozent ab; die Läsionen gingen um 53 Prozent zurück. Auch die Gehirnatrophie war rückläufig. Diese Effekte sind toll – auch wenn das Interferon ein eher schwach wirksames Interferon war, das nur monatlich appliziert wurde. Ein ganz grosser Vorteil ist aber auch, dass Fingolimod als Tablette zur Verfügung steht und geschluckt werden kann. Das ist eine tolle Alternative zu subkutan oder intramuskulär zu verabreichenden Interferonen. Denn viele Kinder haben Probleme, sich selber zu spritzen. Zu beachten sind unter Fingolimod Nebenwirkungen wie Leukopenie, Bradykardie oder Krampfanfälle.
Wie sieht es mit neuen Immuntherapeutika aus? Karin Storm van’s Gravesande: Die Behandlung ist gleich aufgebaut wie beim Erwachsenen. Gestartet wird mit den Basistherapeutika, das heisst Interferone und Glatirameracetat. Interferone werden seit 20 Jahren eingesetzt, sodass genügend Daten betreffend ihrer Sicherheit vorliegen. Muss eskaliert werden, dann stehen Natalizumab und Fingolimod zu Verfügung. Bei Kindern ist man mit weiteren neueren Immuntherapeutika jedoch sehr vorsichtig, da nur wenige Langzeitdaten vorliegen. Daher muss dann immer individuell entschieden werden, was nun der nächste Schritt ist. Das ist einfach das Dilemma, in dem wir uns derzeit in der Behandlung von Kindern mit MS befinden.
Könnten Sie abschliessend nochmals erklären, weshalb
die Abklärung der kognitiven Defizite so bedeutsam ist?
Karin Storm van’s Gravesande: Zusammenfassend
konnten wir in unserer Studie zeigen, dass kognitives
Defizit, Depression und Fatigue bereits in einer frühen
Phase der Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen
mit MS auftreten können. Dies hat zur Folge, dass man
in der Betreuung dieser Patienten besonders auch da-
rauf achten und Patienten in dieser Hinsicht beraten
sollte. Wir haben daher für den klinischen Alltag ein
Screeninginstrument MUSICADO entwickelt. Damit
kann innerhalb von 15 Minuten geklärt werden, ob ein
kognitives Defizit vorliegt oder eine Fatigue oder Ein-
schränkung der Lebensqualität. Bei Vorliegen eines
kognitiven Defizites sollte dann im Detail eine neuro-
psychologische Abklärung erfolgen.
G
Korrespondenzadresse:
Dr. med. Karin Storm van’s Gravesande
Lehrstuhl für Sozialpädiatrie der TU München
Heigelhofstrasse 63, 81377 München
E-Mail: karin.storm@gmx.de
Sehr geehrte Frau Dr. Storm van’s Gravesande, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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