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Varizellenimpfung für Säuglinge?
Pro und Kontra am Schweizer Impfkongress
Windpocken sind häufig und hoch infektiös. Über den tatsächlichen Nutzen der Impfung wird seit Jahren diskutiert, und die Impfempfehlungen sind in verschiedenen Ländern recht unterschiedlich. In einer Session am X. Schweizer Impfkongress ging es um die Argumente für oder gegen eine Varizellenimpfung im Säuglingsalter.
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D ie Varizellenimpfung gehört in der Schweiz zu den Basisimpfungen. Im aktuellen Schweizerischen Impfplan wird sie für 11- bis 15-jährige Jugendliche empfohlen, die noch keine Windpocken hatten oder keine IgG-Antikörper gegen das Varicella-zoster-Virus (VZV) aufweisen. Wer im Kindesund Jugendalter nicht geimpft wurde, sollte dies vor dem 40. Geburtstag nachholen, dies gilt insbesondere für Frauen mit Kinderwunsch und Beschäftigte im Gesundheitswesen. Die VZV-Impfung wird darüber hinaus bei bestimmten Risikogruppen bereits ab einem Alter von 12 Monaten empfohlen. Unabhängig vom Alter besteht die Impfung aus 2 Dosen im Abstand von mindestens 4 Wochen (1). Im Nachbarland Deutschland hingegen gehört die VZVImpfung seit 2004 zur Basisimpfung für alle Kinder im Alter von 11 bis 14 Monaten. Die Impfquoten stiegen dort von 43 Prozent in der Geburtskohorte 2004 auf 87,5 Prozent in der Geburtskohorte 2010 (2). Bereits 1996 wurde ein VZV-Impfprogramm für Kinder in den USA eingeführt (3). Seitdem wird diskutiert, wie nützlich diese Impfung wirklich ist. Am X. Schweizer Impfkongress stellte Dr. med. Pierre-Alex Crisinel, pädiatrischer Infektiologe am CHUV Lausanne, die Pro-Argumente vor. In eine für ihn ungewohnte Rolle schlüpfte Prof. Ulrich Heininger, Universitätskinderspital beider Basel und Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF), der für einmal die Kontra-Argumentation übernahm.
Windpocken sind harmlos oder etwa nicht?
Windpocken gelten in der Bevölkerung, aber auch bei vielen Ärzten als harmlose Kinderkrankheit mit hoher natürlicher Durchseuchung. Und in der Tat: In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz hatten rund 90 Prozent der Kinder bereits vor dem 10. Geburtstag Windpocken, meist ohne grössere Komplikationen. «Windpocken sind aber keine harmlose Krankheit», betonte hingegen Crisinel und zeigte als Beispiel den Fall eines Säuglings mit nekrotisierender Fasziitis, der am CHUV behandelt wurde. Bei etwa 1 bis 2 Prozent der an
Windpocken Erkrankten komme es zu Komplikationen, sagte der Referent. Dazu gehören Infektionen, wie sekundäre bakterielle Hautinfektionen (insbesondere hämolytische Streptokokken der Gruppe A), Pneumonie, septische Arthritis oder Osteomyelitis, neurologische Komplikationen, wie akute Zerebellitis, Enzephalitis und Reye-Syndrom, oder hämatologische Komplikationen, wie Anämie und thrombozytopenische Purpura (4). Zur Inzidenz schwerer Komplikationen bei Kindern, das heisst Hospitalisierung wegen einer VZV-Infektion, wurde unter der Leitung von Ulrich Heininger von 2000 bis 2003 in der Schweiz eine Studie der Swiss Paediatric Surveillance Unit (SPSU) durchgeführt. Sie betrug 18 pro 10 000 Infektionen (13/10 000 VZV-Primärinfektionen, 5/10 000 Herpes zoster). Insgesamt zählte man in diesem Zeitraum 235 Fälle in der Schweiz. 3 Kinder mit VZV-Infektion starben (1 davon war immungeschwächt), wonach die VZV-assoziierte Mortalität bei den hospitalisierten Kindern etwa 0,5 Prozent betrug. Das mediane Alter der hospitalisierten Kinder lag bei 3½ Jahren. Es waren viele Säuglinge betroffen (61 von 235 Kindern waren unter 1 Jahr alt), und die Tatsache, dass es sich in etwa 50 Prozent aller Fälle um Kinder im Alter von 1 bis 4 Jahren handelte, unterstreicht nach Ansicht der Studienautoren die Notwendigkeit einer frühzeitigen VZVImpfung (5).
Wie wirksam und sicher ist die VZV-Impfung?
Die Wirksamkeit der VZV-Impfung sei gut, berichtete Crisinel. So ergab eine Metaanalyse weltweiter Daten, dass nach der ersten Dosis bei immunkompetenten Personen mit einer Schutzwirkung von 81 Prozent zu rechnen ist, die nach der zweiten Dosis auf 92 Prozent steigt. Falls geimpfte Personen trotzdem erkranken, was gemäss Daten aus den USA bei etwa 9 von 100 000 VZV-Geimpften vorkommt, ist der Verlauf mild (6). In den 15 Jahren nach Einführung der Impfung sank in den USA die Anzahl der VZV-Infektionen um 94 Prozent (von ca. 4 Millionen auf > 350 000 pro Jahr), die Hospitalisierungsrate sank um 84 Prozent (von ca. 10 000 pro Jahr auf > 1700 pro Jahr), und die VZV-assoziierten Todesfälle gingen um
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90 Prozent zurück (von ca. 100 auf > 20 pro Jahr) (7). Zu den Nebenwirkungen der VZV-Impfungen gehören Reaktionen an der Impfstelle, Exantheme, Fieber sowie als schwerwiegendere Ereignisse Fieberkrämpfe und postinfektiöse Arthritis. Insgesamt ist das Risiko für Nebenwirkungen bei der VZV-Impfung mit 0,034 Prozent jedoch deutlich geringer als das in dieser Publikation mit insgesamt 1 Prozent bezifferte Risiko für die oben genannten Komplikationen der Windpocken (4). Einige der schwerwiegenden Komplikationen der Windpocken (thrombozytopenische Purpura, zerebelläre Ataxie, Hemiparese) werden auch als mögliche Nebenwirkungen der Impfung genannt. Diese seien jedoch extrem selten, und in keinem Fall habe man bisher eindeutig nachweisen können, dass sie tatsächlich durch die Impfung verursacht wurden, so die Autorinnen der Übersichtsarbeit (4). Der VZV-Impfstoff ist ein Lebendimpfstoff mit attenuierten Viren. Ein Sicherheitsrisiko der VZV-Impfung ist darum die Übertragung des Impfvirus auf ungeimpfte Personen. Derartige Fälle seien in der Tat bereits vorgekommen, berichtete Heininger. Weltweit bekannt seien derzeit 5 Fälle, was angesichts von Millionen verimpfter Dosen extrem selten ist.
Schweizer Modellrechnung, die Crisinel nannte (10). Hierbei verglich man die derzeitige Empfehlung (Impfung aller 11- bis 15-Jährigen ohne VZV-Anamnese) mit der Strategie, entweder alle 1- bis 2-Jährigen zu impfen oder alle 1- bis 2-Jährigen plus Nachholimpfung von Adoleszenten. Die Strategie mit Nachholimpfung wäre medizinisch betrachtet die beste, denn sie könnte wahrscheinlich 48 300 VZV-Infektionen, 2740 Komplikationen, 94 Hospitalisationen und 2 Todesfälle pro Jahr in der Schweiz verhindern. Ob sich diese VZV-Impfstrategie in der Schweiz ökonomisch rechnet, kommt auf den Standpunkt des Betrachters an. Aus der Sicht von Kostenträgern rechnet sie sich nicht, denn die Impfung aller Schweizer Säuglinge wäre teurer als die Behandlung der ohne Impfung zu erwartenden Erkrankungen: Für 1 Franken, den man für die Impfung investiert, bekommt man sozusagen nur 30 Rappen zurück. Anders sieht es auch, wenn man die indirekten, gesellschaftlichen Kosten betrachtet, etwa durch verlorene Arbeitszeit, wenn Eltern wegen ihrer kranken Kinder zu Hause bleiben müssen: Für jeden Franken, den man für die Impfung investiert, bekommt man hier 1,22 Franken zurück (Stand: 2009, [10]).
Mehr Herpes zoster wegen der Impfung?
Man weiss bis heute nicht, warum die VZV bei dem einen im späteren Verlauf des Lebens erneut als Herpes zoster in Erscheinung treten und bei dem anderen nicht. Eine gängige Hypothese ist, dass für die Kontrolle des Immunsystems über die VZV, die nach den Windpocken im Organismus auf Dauer verbleiben, immer wieder einmal ein Booster in Form von Kontakt mit dem WildtypVZV, sprich mit an Windpocken erkrankten Kindern, nötig sei. Kritiker der VZV-Routineimpfung im Kindesalter fürchten, dass infolge der Impfung dieser natürliche Booster mangels zirkulierender VZV ausbleiben und die Anzahl der Herpes-zoster-Erkrankungen dramatisch ansteigen könnte. Auf den ersten Blick scheint das tatsächlich so zu sein: Die Anzahl der Herpes-zoster-Fälle stieg in den USA parallel mit der Einführung der Impfung (8). Allerdings begann dieser Anstieg bereits vor der Einführung der Impfung, sagte Crisinel. Er präsentierte die Ergebnisse einer entsprechenden Auswertung der amerikanischen Medicare-Daten von über 65-Jährigen von 1992 bis 2010 (3). Demnach verlief der Anstieg die ganze Zeit über stetig und wurde in den 14 Jahren nach Einführung des VZVImpfprogramms in den USA nicht steiler. Doch welche Gründe hat der Anstieg dann? Man weiss es nicht. Als mögliche Faktoren werden ein allgemein erhöhter Stresspegel in der heutigen Gesellschaft sowie der steigende Anteil älterer und immungeschwächter Personen in der Bevölkerung diskutiert, so Crisinel.
Die Kosten-Nutzen-Frage
Befürworter und Kritiker der VZV-Impfung bewerten die Kosten-Nutzen-Bilanz wie zu erwarten höchst unterschiedlich. So präsentierte Heininger eine Modellrechnung, wonach ein Programm einer Impfung gegen Varizellen und Herpes zoster in Grossbritannien zwar kosteneffizient sei – aber erst nach rund 100 Jahren (9). Zu anderen Ergebnissen kamen die Autoren einer
Geringe Akzeptanz selbst bei Ärzten
Abgesehen von den genannten Pro- und Kontra-Aspekten ist die Akzeptanz für die VZV-Impfung von Säuglingen in der Schweiz gering. «Warum sollen wir etwas empfehlen, was wir selbst nicht für wichtig halten?», so könnte man die ablehnende Haltung in der Ärzteschaft für den Kontra-Standpunkt formulieren. Eine InfoVACUmfrage in der Schweiz ergab 2015, dass nur 26 Prozent der nicht pädiatrischen Ärzte und sogar nur 13 Prozent der Pädiater ihre eigenen Kinder gegen Varizellen impfen würden. Solange sich dies nicht wesentlich ändere, brauche man eigentlich gar nicht über Impfprogramme für Säuglinge nachzudenken. Auf der Pro-Seite betonte Crisinel, dass es durchaus möglich sei, eine Impfquote von über 80 Prozent zu erreichen, wie sich in den USA gezeigt hat. Auch in Deutschland stieg, wie eingangs erwähnt, die Impfquote nach Einführung der generellen VZV-Impfempfehlung für Säuglinge auf über 80 Prozent. Das könne auch in der Schweiz klappen, hoffte Crisinel. Dieser Hoffnung schloss sich Heininger am Ende der Session an, nachdem er seinen «Kontra-Hut» abgenommen und mit einem verschmitzten Lächeln auf seine Interessenkonflikte bei der Übernahme dieser Rolle hingewiesen hatte: Seine eigenen Kinder sind gegen VZV geimpft, und er selbst ist ein überzeugter Befürworter der VZV-Impfung.
Renate Bonifer
Quellen: Genannte Publikationen sowie Session «Varizellenimpfung für Säuglinge: Pro und Contra» am X. Schweizer Impfkongress, Basel, 28. und 29. November 2018.
Literatur: 1. Schweizerischer Impfplan 2018. 2. Hecht J, Siedler A: Die Epidemiologie der Varizellen in Deutschland unter Einfluss der Varizellen-Impfempfehlung. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2017; 60 (1): 1437–1588. 3. Hales CM et al.: Examination of links between herpes zoster incidence and childhood varicella vaccination. Ann Int Med 2013; 159 (11): 739–745.
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4. Gray SJ, Cathie K: Fifteen-minute consultation: Chickenpox vaccine-should parents immunise their children privately? Arch Dis Child Educ Pract Ed 2018; epub ahead of print. 5. Bonhoeffer J, Heininger U: Varizellen-Impfung in der Schweiz. Paediatrica 2008; 19 (3): 45–47. 6. Marin M et al.: Global varicella vaccine effectiveness: a meta-analysis. Pediatrics 2016; 137(3): e20153741 7. www.cdc.gov/chickenpox/vaccine-infographic.html 8. Yih WK et al.: The incidence of varicella and herpes zoster in Massachusetts as measured by the Behavioral Risk Factor Surveillance System (BRFSS) during a period of increasing varicella vaccine coverage, 1998–2003. BMC Public Health. 2005; 5: 68. 9. van Hoeck AJ et al.: The cost-effectiveness of varicella and combined varicella and herpes zoster vaccination programmes in the United Kingdom. Vaccine 2012; 30: 1225–1234. 10. Banz K et al.: Economic evaluation of varicella vaccination in Swiss children and adolescents. Hum Vaccin 2009; 5 (12): 847–857.
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