Transkript
Schwerpunkt
Wie viel Diagnostik ist nötig?
Abklärungen bei chronischen Schmerzen aus fachspezifischer Sicht
Unerklärliche chronische Schmerzen sind nicht nur für die Patienten und ihre Familien Anlass zu grosser Sorge, nicht selten fürchten auch die behandelnden Kinderärzte bei der Diagnose etwas zu verpassen. Wie geht man damit in der Praxis um? Wir fragten Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen, welche Punkte für sie bei der Abklärung chronischer Schmerzen im Kindes- und Jugendalter besonders wichtig sind.
Orthopädie
Welche Ursache chronischer Schmerzen im Kindesund Jugendalter ist in Ihrem Fachgebiet die häufigste? Studer: Die Differenzierung zwischen akuten und chronischen Schmerzen ist zwar formell klar definiert, im orthopädischen Alltag aber oft einem fliessenden Übergang unterlegen. Oftmals kommt es zu einer Chronifizierung von akuten Schmerzen, zum Beispiel nach einem Trauma. Im Bereich des Rückens ist es jedoch nicht unüblich, dass kein auslösendes Ereignis anamnestisch eruiert werden kann. Verlässliche Zahlen zu Häufigkeiten gibt es allerdings nicht.
Welche Differenzialdiagnosen aus Ihrem Fachgebiet sind die wichtigsten, wenn chronische Schmerzen im Vordergrund stehen? Studer: Im Bereich des Bewegungsapparates sind chronische Rückenschmerzen, insbesondere der sogenannte «low back pain», also Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, am häufigsten. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen sind in absteigender Reihenfolge die Spondylolyse/Spondylolisthese, Diskopathien, Wachstumsstörungen (v.a. der lumbale M. Scheuermann) und Deformitäten der Wirbelsäule, Infektionen (Spondylodiszitis) oder gutartige Knochentumore, wie zum Beispiel das Osteoidosteom. Viel häufiger findet sich aber trotz aufwendiger klinisch-radiologischer Abklärungen kein morphologisches Korrelat für die Rückenschmerzen. Diese Beschwerden werden dann als sogenannte funktionelle, muskulär bedingte Rückenschmerzen bezeichnet. Im Gegensatz dazu sind chronifizierte Schmerzbilder an anderen Orten des Bewegungsapparates nahezu immer auf ein morphologisches Korrelat zurückzuführen.
Studer: Die anamnestische Charakterisierung des Schmerzes nach Intensität, Häufigkeit, Dauer, tageszeitlicher Verteilung, Ausstrahlung und Evolution helfen dabei, diejenigen Patienten zu selektionieren, die in eine Spezialsprechstunde überwiesen werden sollten. Die wichtigsten Red Flags sind ● nächtliche Schmerzen (Aufwachen aus dem Schlaf,
bei Infektionen, Entzündungen, Tumoren) ● Schmerzen mit Ausstrahlung und/oder Funktionsein-
schränkung ● Schmerzen in Kombination mit ungewolltem Gewichts-
verlust ● Schmerzen in Kombination mit reduziertem Allgemein-
zustand und/oder Fieber ● (Rücken-)Schmerzen im Vorschulalter (< 5-jährig).
Dr. med. Daniel Studer, Spezialarzt Orthopädie, Universitäts-Kinderspital beider Basel
Auf welche diagnostischen Fallstricke muss man achten? Studer: Nebst der gezielten und differenzierten Anamnese sollten die ergänzenden diagnostischen Massnahmen überlegt und gezielt eingesetzt und der Zusammenhang zwischen einem allfälligen pathomorphologischen Befund und den Schmerzen hinterfragt werden. So führt eine idiopathische Adoleszenteskoliose zwar zu einer offensichtlichen Formveränderung der Wirbelsäule, aber nur selten zu Rückenschmerzen. Ähnliches gilt für Spondylolysen der unteren Lendenwirbelsäule, welche häufig als Zufallsbefund nach einem Bagatelltrauma im Rahmen
Ein Zusammenhang zwischen einem allfälligen pathomorphologischen Befund in der Bildgebung und den Schmerzen muss immer hinterfragt werden.
Wann muss ein Haus- oder Kinderarzt einen Patienten unbedingt zu einem Spezialisten Ihres Fachgebiets überweisen?
von konventionellen Röntgenabklärungen entdeckt werden. Hier besteht die Gefahr, dass das Kausalitätsbedürfnis allzu schnell befriedigt wird, indem der Schmerz
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sofort dem Bildbefund zugeordnet wird. Umgekehrt müssen bei passender Anamnese seltenere Entitäten, wie zum Beispiel ein Osteoidosteom, gezielt mittels einer Schichtbildgebung ausgeschlossen werden.
Welche Rolle spielen psychologische Faktoren bei chronischen Schmerzen in Ihrem Fachgebiet und wie gehen Sie darauf ein? Studer: Unabhängig vom Fachgebiet spielen unserer Ansicht nach psychologische Faktoren immer eine Rolle bei chronischen Schmerzen. Langdauernder Schmerz ist doch für jeden zermürbend und wirkt sich wiederum auf die Schmerzwahrnehmung aus: Man wird «dünnhäutiger» und wohl auch schmerzempfindlicher. Trotz dieser Erkenntnis ist es aus verschiedenen Gründen nicht einfach, als Orthopäde auf diese Thematik einzugehen. Auf der einen Seite fehlt es uns diesbezüglich schlicht an Kompetenz, zum Beispiel für eine angepasste Gesprächsführung. Auf der anderen Seite stehen die Einstellung der Betroffenen und deren Eltern und die Rolle, die sie uns in unserer Funktion als «Knochendoktoren» zuteilen. Sie kommen in der Regel mit der Erwartung zu uns, dass wir mit unseren Abklärungen einen Grund für die Schmerzen finden und eine entsprechende Behandlung einleiten können. Findet sich aber kein morpholo-
gisches Korrelat als Ursache für die Schmerzen, kommt der Orthopäde in Erklärungsnotstand, und die Patienten fühlen sich missverstanden.
Wann ziehen Sie einen Schmerztherapeuten oder einen Psychosomatiker/Psychologen hinzu? Studer: Genau in der gerade genannten Situation suchen wir Hilfe bei den Kollegen aus der Schmerzsprechstunde. Basierend auf der Zunahme an Kindern und Jugendlichen mit chronischen Schmerzen in unseren orthopädischen Spezialpolikliniken, vor allem in der Rückensprechstunde, haben wir in Basel in Kooperation mit den Kollegen der Kinderrheumatologie und nach dem Vorbild des Erwachsenenspitals eine Schmerzsprechstunde etabliert, welche interdisziplinär von Anästhesis-ten und Kinder- und Jugendpsychologen betreut wird. Durch eine zeitgerechte und von uns initial im Sinne einer optimalen Patientenübergabe begleiteten Überweisung in die Schmerzsprechstunde können so langwierige und frustrane Krankheitsverläufe oftmals, aber leider nicht immer, vermieden werden. Schliesslich ist es nämlich entscheidend, dass die Patienten und ihre Familien auch offen sind für diesen Weg.
Gastroenterologie
Prof. Dr. med. Henrik Köhler, Klinik für Kinder und Jugendliche, Kantonsspital Aarau AG
Herr Prof. Köhler, welche Ursache chronischer Schmerzen im Kindes- und Jugendalter ist in Ihrem Fachgebiet die häufigste? Köhler: Im Fachgebiet der Kindergastroenterologie sind Bauchschmerzen ein sehr häufiger Vorstellungsgrund. Die Ursachen können vielfältig sein, oft sind die Bauchschmerzen sogenannter funktioneller Natur. Es sind also keine körperlichen Krankheiten beziehungsweise auffälligen Befunde vorhanden, die Schmerzen sind aber gleichwohl echt und können sehr belastend sein. Ich nehme die Migräne oft als Beispiel für die Familien, nicht zuletzt weil diese gehäuft in Familien mit «Reizdarmneigung» auftritt.
Von den Eltern wird die Inzidenz der Laktoseintoleranz eher über- und die der Fruktosemalabsorption eher unterschätzt.
Welche Differenzialdiagnosen aus Ihrem Fachgebiet sind die wichtigsten, wenn chronische Schmerzen im Vordergrund stehen? Köhler: Wichtigste Differenzialdiagnose ist sicher der funktionelle Bauchschmerz, ob dieser jetzt Reizdarm, Dyspepsie, abdominelle Migräne oder anders genannt wird, ist meist nicht so wichtig. Wir müssen bei chronischen Bauchschmerzen aber natürlich körperliche Ursachen als Differenzialdiagnosen abklären. Die wichtigsten Differenzialdiagnosen sind die chronische Obstipation, die Zöliakie, Gastritis oder Ösophagitis, die Pankreatitis
oder auch chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Kohlenhydratmalabsorptionsprobleme wie Laktoseintoleranz oder Fruktosemalabsorption kommen regelmässig vor und sind oft vom Kinderarzt schon richtig erkannt worden, wobei von den Eltern die Inzidenz der Laktoseintoleranz eher über- und die der Fruktosemalabsorption eher unterschätzt wird. Seltener sind zum Beispiel Gallensteinleiden, Stoffwechselkrankheiten wie die akute Porphyrie oder auch Lebensmittelallergien. Vor allem die Inzidenz der Letzteren wird beim alleinigen Symptom «Bauchschmerzen» in der Regel überbewertet.
Wann muss ein Haus- oder Kinderarzt einen Patienten unbedingt zu einem Spezialisten Ihres Fachgebiets überweisen? Köhler: Bei chronischen Bauchschmerzen mit einem oder mehreren der folgenden in der Regel anhaltenden Symptome sollte ein Spezialist beigezogen werden: ● Beschwerden im oberen oder unteren rechten Qua-
dranten ● Dysphagie, Sodbrennen und Erbrechen ● intestinale Blutung ● nächtliche Beschwerden beziehungsweise Stuhlgang ● Arthritis ● unklare Hautausschläge ● unfreiwilliger Gewichtsverlust beziehungsweise keine
altersgerechte Gewichts- und Grössenzunahme ● Verzug in der Pubertät ● unklares Fieber ● positive Familienanamnese hinsichtlich chronisch ent-
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zündlicher Darmerkrankung, Zöliakie oder peptischer Magengeschwüre ● Fisteln, Marisken, Fissuren im Analbereich ● weitere auffällige körperliche Untersuchungsbefunde.
Auf welche diagnostischen Fallstricke muss man achten? Köhler: Bei Patienten mit Bauchschmerzen mit und ohne Durchfall muss man sehr hellhörig werden, wenn sie Probleme mit dem Wachstum oder der Gewichtszunahme haben. Leider geht auch oft die Untersuchung des Perianalbereichs unter. Dieser kann schon durch reine Inspektion Hinweise auf eine chronisch entzündliche Darmerkrankung geben, wenn zum Beispiel Marisken, Fissuren oder Fisteln vorhanden sind. Nicht selten berichten die Patienten diese Probleme auch auf Nachfrage nicht.
Welche Rolle spielen psychologische Faktoren bei chronischen Schmerzen in Ihrem Fachgebiet und wie gehen Sie darauf ein? Köhler: Die Frage nach psychologischen Stressoren wie Schulbelastung, aber vor allem auch nach Problemen mit der Peergroup und Mobbing sind ein wichtiger Teil der Anamnese.
Wann ziehen Sie einen Schmerztherapeuten oder einen Psychosomatiker/Psychologen hinzu? Köhler: Ich ziehe einen Schmerztherapeuten, Psychologen beziehungsweise Kinder- und Jugendpsychiater hinzu, wenn die Kinder nach einer körperlichen Abklärung weiter über belastende Schmerzen berichten. Die Schwelle dafür ist insgesamt sehr individuell. Oft ist es für die Familie schon eine grosse Erleichterung, wenn wir versichern können, dass keine schwerwiegende körperliche Ursache hinter den Beschwerden steckt.
Rheumatologie
Frau Dr. Aeschlimann, welche Ursache chronischer Schmerzen im Kindes- und Jugendalter ist in Ihrem Fachgebiet die häufigste? Aeschlimann: Chronische Schmerzen in Gelenken sind der häufigste Zuweisungsgrund in die pädiatrisch-rheumatologische Sprechstunde, als häufigste Ursache wird eine juvenile idiopathische Arthritis (JIA) diagnostiziert. Mit einer Prävalenz von 100 pro 100 000 Kinder in Europa ist sie eine der häufigsten chronisch entzündlichen Erkrankungen im Kindesalter überhaupt. Die JIA ist definiert als eine Arthritis in einem oder mehreren Gelenken, die mindestens sechs Wochen persistiert, vor dem 16. Geburtstag beginnt und deren Ursache ungeklärt ist. Es ist eine heterogene Gruppe von Erkrankungen, welche abhängig von der Anzahl befallener Gelenke, dem Vorhandensein systemischer Krankheitszeichen oder gewisser Laborparameter nach der aktuellen Klassifikation der International League Against Rheumatism (ILAR) in sieben Untergruppen eingeteilt wird. Die JIA ist eine Ausschlussdiagnose, welche anhand der Anamnese und klinischen Untersuchung gestellt wird, es gibt keinen diagnostischen Labortest. Die Diagnose der JIA kann schwierig sein, da objektivierbare Entzündungszeichen bei der klinischen Untersuchung und im Labor fehlen können; Bildgebungen wie Ultraschall oder MRI können in diesen Fällen indiziert sein.
und manchmal Rötung). Differenzialdiagnostisch sind hierbei neben der JIA infektiöse Arthritiden wie LymeBorreliose oder Tuberkulose, Kollagenosen (z.B. systemischer Lupus erythematodes), chronisch entzündliche Darmerkrankungen, die chronisch rezidivierende multifokale Osteomyelitis, autoinflammatorische Syndrome oder eine Immundefizienz in Betracht zu ziehen. Nicht entzündliche Gelenkschmerzen treten typischerweise bei Belastung auf und werden in Ruhe besser, in der klinischen Untersuchung sind keine lokalen Entzündungszeichen zu finden. Zu den häufigen nicht entzündlichen Differenzialdiagnosen chronischer Gelenkschmerzen gehören Hypermobilität, Traumata und Osteochondrosen, seltener werden Knochentumoren, eine Hämophilie oder Stoffwechselerkrankungen als Ursache gefunden. Akute Leukämien können mit Knochenschmerzen, Arthralgien oder auch Zeichen der Arthritis einhergehen. Eine zugrunde liegende maligne Erkrankung muss bei jedem Kind mit Gelenkschmerzen differenzialdiagnostisch in Betracht gezogen werden.
Dr. med. Florence A. Aeschlimann, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Kantonsspital Winterthur
Die Diagnose der juvenilen idiopathischen Arthritis (JIA) kann schwierig sein, da objektivierbare Entzündungszeichen bei der klinischen Untersuchung und im Labor fehlen können.
Welche Differenzialdiagnosen aus Ihrem Fachgebiet sind die wichtigsten, wenn chronische Schmerzen im Vordergrund stehen? Aeschlimann: In der Differenzialdiagnose chronischer Gelenkschmerzen können entzündliche von nicht entzündlichen Erkrankungen unterschieden werden. Entzündliche Erkrankungen manifestieren sich typischerweise durch eine Morgensteifigkeit, Schmerzen in Ruhe, Schmerzbesserung bei Bewegung, manchmal Hinken oder Schonung des befallenen Gelenks und Zeichen der Arthritis in der klinischen Untersuchung (Schwellung, Überwärmung, schmerzhafte Bewegungseinschränkung
Wann muss ein Haus- oder Kinderarzt einen Patienten unbedingt zu einem Spezialisten Ihres Fachgebiets überweisen? Aeschlimann: Bei folgenden Symptomen oder Befunden sollten Kinder von einem pädiatrischen Rheumatologen beurteilt werden: ● entzündlicher Schmerzcharakter ● persistierende Arthritis für > 4 bis 6 Wochen (zur Ab-
grenzung von Arthritiden im Rahmen viraler Infektionen, welche typischerweise nur wenige Wochen anhalten)
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● Gelenkschmerzen mit funktioneller Einschränkung wie Hinken oder Schonhaltung ohne plausible Erklärung
● Zeichen einer systemischen Entzündung wie Fieber oder Exanthem
● persistierende laborchemische Entzündungszeichen ● unklare Diagnose, Zweitmeinungen. Bei Kindern mit exzessiven oder nächtlichen Gelenkoder Knochenschmerzen, sowie Kindern mit Gelenkschmerzen und Allgemeinsymptomen sind zeitnah weitere Abklärungen indiziert, um eine mögliche maligne Erkrankung oder bakterielle Infektion auszuschliessen.
Auf welche diagnostischen Fallstricke muss man achten? Aeschlimann: Die Diagnose einer JIA – insbesondere der systemischen Form – kann schwierig sein, Infektionen und maligne Erkrankungen müssen ausgeschlossen werden. Das Makrophagenaktivierungssyndrom ist eine potenziell lebensbedrohliche Komplikation, welche vorwiegend bei der systemischen JIA auftritt. Es ist durch anhaltendes Fieber, Asthenie, Hepatosplenomegalie, Adenopathien sowie neurologische Störungen gekennzeichnet; laborchemisch sind Zytopenien und eine massive Hyperferritinämie charakteristisch. Das Makrophagenaktivierungssyndrom muss rasch erkannt werden, da es mit einer hohen Morbidität und Mortalität einhergeht. Bei Verdacht auf JIA ist eine rasche augenärztliche Untersuchung mit der Spaltlampe notwendig, um eine asymptomatische anteriore Uveitis auszuschliessen. Die Prävalenz der Uveitis variiert je nach Untergruppe der JIA zwischen 1 und 30 Prozent und ist bei etwa der Hälfte der Kinder bei Diagnosestellung nachweisbar. Sie kann ohne Therapie zu schweren Komplikationen wie Synechien, Katarakt und/oder Glaukom mit potenziell irreversibler Sehbeeinträchtigung führen. Zu den Risikofaktoren für das Auftreten einer asymptomatischen Uveitis im Rahmen einer JIA gehören ein junges Alter bei Krankheitsbeginn (Kinder < 7 Jahre), das Vorhandensein von antinukleären Antikörpern (ANA) und das weibliche Geschlecht.
Welche Rolle spielen psychologische Faktoren bei chronischen Schmerzen in Ihrem Fachgebiet und wie gehen Sie darauf ein?
Aeschlimann: Psychische beziehungsweise psychosoziale Faktoren spielen bei der Verarbeitung chronischer Gelenkschmerzen eine wichtige Rolle. Chronische Gelenkschmerzen und die damit verbundenen funktionellen Einschränkungen können zu negativen Emotionen und gar depressiven Symptomen führen. Unterschiedliche Faktoren wie die Schwere der Erkrankung, das Alter des Patienten, soziale Unterstützung durch das Umfeld oder auch persönliche Coping-Strategien des Patienten können hierbei die Schmerzempfindung und das psychische Wohlbefinden beeinflussen. Eltern sind wichtige Vorbilder im Umgang mit den chronischen Schmerzen und müssen sich bewusst sein, dass der Umgang mit dem eigenen Schmerz (wie beispielsweise Kopfschmerzen) das Kind im Umgang mit seinem Schmerz beeinflussen wird. Aus medizinischer Sicht ist es wichtig, die Krankheitsaktivität möglichst vollständig zu kontrollieren, die Funktionalität zu bewahren und allfällige weitere zu den Schmerzen beitragende Faktoren, wie Fehlbelastungen, therapeutisch anzugehen. Hierbei spielen neben medikamentösen Therapien paramedizinische Spezialisten wie Physio- und auch Ergotherapeuten eine zentrale Rolle. Die Aufklärung über die Erkrankung, Ursachen des Schmerzes und mögliche Coping-Strategien können bei der Bewältigung chronischer Gelenkschmerzen helfen.
Wann ziehen Sie einen Schmerztherapeuten oder einen Psychosomatiker/Psychologen hinzu? Aeschlimann: In der Pädiatrie sind Schmerztherapeuten Fachleute, welche sich auf die Betreuung von Patienten mit chronischen Schmerzen spezialisiert haben (Ärzte, Psychologen, Psychiater, Pflegefachfrauen, Physiotherapeuten und andere). Idealerweise arbeiten diese in einem eingespielten Team mit gegenseitiger Koordination und multimodalen, pluridisziplinären Therapieansätzen. Schmerztherapeuten und Psychosomatiker sollten miteinbezogen werden bei Patienten mit anhaltenden Schmerzen trotz medikamentöser und nicht medikamentöser Therapien, bei Patienten mit Alteration des psychischen Wohlbefindens, Patienten mit chronischen Schmerzen, welche organisch nicht erklärbar sind, Patienten mit Schmerzverstärkungssyndromen und in komplexen Situationen, die ein gesamtheitliches Management mit multidisziplinärem Ansatz erfordern.
Neuropädiatrie
Dr. med. Stephanie Jünemann, Oberärztin Neuropädiatrie, Universitätskinderspital beider Basel
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Welche Ursache chronischer Schmerzen im Kindesund Jugendalter ist in Ihrem Fachgebiet die häufigste? Jünemann: Neurologische Schmerzen können im Bereich des gesamten Körpers auftreten und Zeichen einer akuten oder chronischen Erkrankung sein. Die häufigste Schmerzdiagnose und auch einer der häufigsten Zuweisungsgründe zur Abklärung von Schmerzen ist in der Neuropädiatrie der Kopfschmerz. Je nach Literatur klagen bis zu 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu einem Zeitpunkt oder gar täglich über Kopfschmerzen (1, 2). Weitere Beispiele für neuropädiatrische chroni-
sche Schmerzen sind Muskel-, Rücken- oder auch Nervenschmerzen, welche im Rahmen kongenitaler Erkrankungen (z.B. Neuropathien, neuromuskuläre Erkrankungen), aber auch sekundär, beispielsweise als Folge einer Spastizität, auftreten können.
Welche Differenzialdiagnosen aus Ihrem Fachgebiet sind die Wichtigsten, wenn chronische Schmerzen im Vordergrund stehen? Jünemann: Die Ursachen chronischer, neuropädiatrisch bedingter Schmerzen sind vielfältig und damit auch die Liste der Differenzialdiagnosen. Je nach Schmerzlokalisa-
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tion, Vorliegen einer Grunderkrankung, Auftreten von Begleitsymptomen oder Red Flags ist oft bereits anamnestisch eine engere Zuordnung möglich. Kopfschmerzen werden beispielsweise als primär und sekundär bedingt eingeteilt, was bezüglich der Abklärung und Therapie sehr unterschiedliche Vorgehensweisen beinhaltet. Differenzialdiagnosen von Kopfschmerzen können Spannungskopfschmerzen oder eine Migräne sein, deutlich seltener sind Schmerzen im Rahmen einer Entzündung (z.B. Demyelinisierung, Neuroborreliose), posttraumatisch, bei Medikamentenübergebrauch, einer Raumforderung, einem Hydrocephalus, einer Blutung oder einer Arnold-Chiari-Malformation. Auch in der Neuropädiatrie sind funktionelle Ursachen nicht selten und sollten in der Differenzialdiagnose mit bedacht werden.
über mögliche Zufallsbefunde, die nicht ursächlich sind, aber eine Reihe von weiteren Abklärungen nach sich ziehen können (z.B. Verdacht auf niedriggradige Gliome, unspezifische White-matter-Veränderung in der Kernspintomografie), zu informieren. Dies gilt insbesondere für die Patienten, bei denen die «Tumorangst» besänftigt werden soll. Teilweise, wenn es die klinische Einschätzung erlaubt und dies auch im Konsens mit den Betroffenen vereinbart werden kann, lohnt es sich, den Spontanverlauf abzuwarten und die Patienten zeitnah zu reevaluieren. Gerade bei Kopfschmerzen, vorausgesetzt es gibt keine Red Flags, ist es besser, diese mit einem Kopfschmerztagebuch in einem übersichtlichen Zeitintervall zu klassifizieren, als gleich ein MRI zu machen.
Es ist aus neuropädiatrischer Sicht wichtig, unabhängig von der Ursache chronischer Schmerzen, frühzeitig einen Schmerztherapeuten hinzuzuziehen.
Bei den neuropathischen Schmerzen ist an eine hereditäre Erkrankung aus dem grossen Bereich der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathien (HMSN) zu denken, aber auch an Stoffwechselerkrankungen, Morbus Fabry und Intoxikationen ist zu denken und auch bei initial akut auftretenden und in der Folge chronisch werdenden Schmerzen an eine chronisch inflammatorische, demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP). Die Differenzialdiagnose von Rückenschmerzen ist lang. Neurologisch stehen hier die Abklärungen einer Raumforderung (z.B. Sanduhrneurofibrom bei einer Neurofibromatose Typ 1), einer entzündlichen, zum Beispiel demyelinisierenden Erkrankung (MS, ADEM), oder einer Anlagestörung (z.B. Syrinx, MMC) im Vordergrund.
Wann muss ein Haus- oder Kinderarzt einen Patienten unbedingt zu einem Spezialisten Ihres Fachgebiets überweisen? Jünemann: Red Flags in der Neuropädiatrie sind (3): ● konstante oder stetige Zunahme der Schmerzen,
keine schmerzfreien Intervalle ● Auftreten der Schmerzen mit nächtlichem Erwachen ● Zeichen eines erhöhten Hirndrucks wie Änderung der
Schmerzen bei Lageänderung, morgendliches Nüchternerbrechen, Wesens- oder Verhaltensänderungen, Leistungsabfall bei Schulkindern ● neurologische Symptome, wie zum Beispiel Hirnnervenausfall, Papillenveränderung, Spastik, Hohlfüsse ● Muskelschmerzen, colabrauner Urin ● Sorgen der Familie oder des Patienten, dass «etwas Schlimmes» dahintersteckt.
Auf welche diagnostischen Fallstricke muss man achten? Jünemann: Neben der Anamnese und der klinisch-neurologischen Untersuchung, welche essenziell sind für die Planung oder auch Nichtplanung weiterer Abklärungen, kommen apparative Untersuchungen zum Einsatz. Hierbei ist es wichtig, die genaue Fragestellung zu formulieren, um die entsprechende Untersuchung zu veranlassen, aber auch die Familien vor der Untersuchung
Welche Rolle spielen psychologische Faktoren bei chronischen Schmerzen in Ihrem Fachgebiet und wie gehen Sie darauf ein? Jünemann: Psychologische Faktoren sind ein wichtiger Bestandteil der Schmerzen, sei es bei der primären Entstehung, beispielsweise als Triggerfaktoren für Kopfschmerzen, aber eben auch bei der Bewältigung von und dem Umgang mit chronischen Schmerzen. In der Anamnese werden mögliche psychologische Einflussfaktoren angesprochen, je nach Situation und Patient sind diese Informationen aber erst in einem Zweit- oder Drittgespräch eruierbar.
Wann ziehen Sie einen Schmerztherapeuten oder einen Psychosomatiker/Psychologen hinzu? Jünemann: In der Behandlung von Schmerzen ist es aus neuropädiatrischer Sicht wichtig, unabhängig von der Ursache, frühzeitig einen Schmerztherapeuten hinzuzuziehen, da nicht nur die eigentliche somatische Behandlung der Schmerzen wichtig ist, sondern eben auch der Umgang mit diesen Schmerzen. Dazu gehören das Erlernen von Coping-Strategien, aber auch die Erkennung von Faktoren, die zum Schmerz führen. Zum Beispiel können Stress, ein voller Stundenplan, enge Freizeitplanung oder unregelmässiges Essen Triggerfaktoren für Schmerzen sein. Diese zu erkennen und damit umzugehen ist für die Familien eine Herausforderung und ein längerer Prozess, der gut begleitet werden sollte. Oft ist es jedoch so, dass insbesondere zu Beginn der Abklärung, die Findung der «somatischen Ursache» im Vordergrund steht, sodass erst im Verlauf gemeinsam mit den Patienten und deren Familien eine Anmeldung bei einem Schmerztherapeuten vereinbart werden kann.
Literatur: 1. Abu Arafeh I et al.: Prevalence of headache and migraine in children and adolescent: a systematic review of population-based studies. DMCN 2010; 52 (12): 1088–1097. 2. Kelly M et al.: Pediatric headache: overview. Curr Opin Pediatr 2018; 30 (6): 748–754. 3. Yonker M et al.: Secondary headaches in children and adolescents: What not to miss. Curr Neurol Neurosci Rep 2018; 18: 61.
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