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Titel
Neurologie – Können wir all die tollen Fortschritte überhaupt sachgerecht ans Patientenbett bringen?
Untertitel
Interview mit Dr. med. Thomas Dorn Leitender Arzt Neurologie Berner Klinik Montana
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Rückblick 2018/Ausblick 2019
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39128
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Rückblick 2018/Ausblick 2019

Neurologie
Dr. med. Thomas Dorn Leitender Arzt Neurologie Berner Klinik Montana
Können wir all die tollen Fortschritte überhaupt sachgerecht ans Patientenbett bringen?
Welche neuen Erkenntnisse des letzten Jahres in Ihrem Fachgebiet fanden Sie besonders spannend?
Besonders spannend sind für mich zunächst einmal immer Erkenntnisse, die zu einem vertieften Verständnis der Ätiopathogenese von bisher nicht gut zu behandelnden Erkrankungen führen und damit die Perspektive auf wesentliche Verbesserungen der Therapie erwarten lassen. Hier denke ich vor allem an Befunde zur Neurobiologie der hirneigenen Tumoren. Neben der für die Therapiesteuerung und Prognosebestimmung immer wichtiger werdenden Genotypisierung ist der Befund besonders interessant, dass die Tumorzellen über lange Zellfortsätze komplexe und weitverzweigte Netzwerke bilden und dass auch synapsenähnliche Verbindungen zwischen gesunden glioneuralen und Tumorzellen entstehen können. Es ergeben sich hierdurch sicher Ansatzpunkte für neue Therapien. Unter anderem wird auch spekuliert, ob eine Verminderung der epileptischen Aktivität in diesen Netzwerken das Tumorwachstum hemmen kann (1, 2). Bei den neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen falsch gefaltete Eiweisse zu nicht mehr abbaubaren Ablagerungen in den Zellen und damit zu deren Tod führen, zeichnen sich indessen schon Therapieansätze ab, die zunehmend an Mensch und Tier untersucht und angewendet werden. Neben schon seit Längerem versuchten immunologischen Therapien mit Vakzinationen und monoklonalen Antikörpern gegen Epitope dieser Proteine

sowie Antiaggregativa spielen hier auch sogenannte AntisenseOligonukleotide eine Rolle (3). Das Wirkprinzip besteht in einer Beeinflussung der Genexpression auf mRNA-Ebene. Unlängst wurde in der Schweiz bereits ein derartiges Medikament zugelassen. Es handelt sich um Nursinisen, das für bestimmte Formen der spinalen Muskelatrophie, also genetisch bedingte degenerative Erkrankungen der motorischen Vorderhornzellen im Rückenmark, zugelassen wurde und sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen intrathekal anzuwenden ist. Es verstärkt die Synthese des «gesunden» Proteins (4). Vor einigen Wochen war in den Tageszeitungen zu lesen, dass ab Mitte 2019 auch eine Gentherapie für die spinale Muskelatrophie zur Verfügung stehen soll, bei der mithilfe eines viralen Vektors die «gesunde» Variante des pathogen veränderten Gens in die betroffenen Motoneurone eingeschleust und so die Synthese des intakten Genprodukts ermöglicht wird. Daneben sind es natürlich neue Erkenntnisse und Therapieverbesserungen bei den häufigeren Erkrankungen, die sowohl den Neurologen als auch den Hausarzt regelmässig beschäftigen, wie Migräne und Schlaganfälle. Bei Ersterer wurde mit der Zulassung des monoklonalen Antikörpers gegen den CGRP-(«calcitonin gene-related peptide»-)Rezeptor Erenumab ein neues Therapieprinzip in die Prophylaxe von Migräneattacken eingeführt (5). Bei Letzteren gewinnt man zunehmend Routine mit den interventionell neuroradiologischen endovaskulären Therapieverfahren und präzisiert deren Indikation, insbesondere die Zeitfenster für deren Einsatz.
Welche davon könnten die Diagnose und/oder Therapie in der Hausarztpraxis künftig verändern?
Die oben angesprochenen Erkenntnisse zur Indikation endovaskulärer Thrombektomien sind für Haus- und Notfallärzte relevant. Vor allem bei Schlaganfällen in der Nacht, deren Symptome erst am Morgen nach dem Erwachen bemerkt werden, ist der genaue Zeitpunkt ihres Auftretens unklar. Deshalb besteht die Gefahr, dass diesen Patienten eine Lyse- oder auch endovaskuläre Therapie vorenthalten wird, da man davon ausgeht, dass das Zeitfenster für den Einsatz solcher Therapien schon geschlossen ist. Wie die sogenannte DAWN-Studie aber zeigt, kön-

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nen auch Patienten, deren Infarkt älter als sechs Stunden ist, noch von einer endovaskulären Therapie profitieren, wenn es eine Diskrepanz zwischen Klinik und bereits infarziertem Gewebe gibt, was nur durch eine entsprechende Evaluation und Bildgebung in einer Stroke Unit beziehungsweise einem Stroke Center möglich ist. Deshalb sollten Patienten mit einer für einen akuten oder subakuten Schlaganfall suspekten Symptomatik unabhängig von deren genauer Zeitdauer einer entsprechend ausgestatteten beziehungsweise vernetzten Klinik zugewiesen werden (6). Als pathophysiologischer Hintergrund dieser Studienergebnisse werden bei einzelnen Patienten gut funktionierende Kollateralgefässsysteme diskutiert.
Wurden 2018 in Ihrem Fachbereich Medikamente zugelassen, die die Therapie erheblich verbessern?
Hinsichtlich der bereits erwähnten, 2018 neu zugelassenen Pharmaka für die Migräne und bestimmte spinale Muskelatrophien ist es jetzt noch zu früh, um zu beurteilen, ob sie die Therapie wirklich revolutionieren beziehungsweise die Prognose erheblich verbessern. Gerade bei neuen Therapiemechanismen, die eine Beeinflussung sehr grundlegender biologischer Prozesse umfassen, ist es denkbar, dass völlig neuartige und bis anhin unbekannte unerwünschte Wirkungen auftreten. Wir haben dergleichen beim Daclizumab, einem monoklonalen Antikörper für die Therapie der Multiplen Sklerose (MS), im vergangenen Jahr erlebt. Das Medikament musste vom Markt genommen werden, nachdem es bei mehreren Patienten hierunter zu einer Autoimmunenzephalitis gekommen war. So ist zu hoffen, dass bei den beiden oben erwähnten neu zugelassenen Medikamenten solche negativen Signale nicht auftreten und die breitere Anwendung den betroffenen Patienten zum Nutzen gereicht.
Auf welche Studienresultate sind Sie für 2019 besonders gespannt?
Natürlich interessieren alle weiteren Studien zur Biologie und Therapie der Hirntumoren und der neurodegenerativen Erkrankungen. Besonders bin ich gespannt auf weitere neue Therapieansätze bei seltenen genetisch bedingten Erkrankungen, die dank der rasch wachsenden Erkenntnisse zu deren Ätiopathogenese zu erwarten sind. Spannend wird auch die weitere Entwicklung zum Cladribin in der Therapie der MS sein, es wurde in Deutschland inzwischen zugelassen, sodass Nutzen und Risiko dieses Medikaments, das die Perspektive einer langfristigen Unterdrückung der Krankheitsaktivität nach Durchführung zweier Behandlungszyklen innerhalb von zwei Jahren bietet und über das bereits vor einem Jahr an dieser Stelle berichtet wurde, bald noch besser beurteilt werden können. Zunehmend rücken bei der MS nun auch die primär und sekundär progredienten Formen bezüglich neuer therapeutischer Ansätze in den Fokus, nachdem einige Aspekte ihrer Pathogenese in den letzten Jahren etwas klarer geworden sind: Neben lokal entzündlicher Aktivität hinter einer intakten Blut-Hirn-Schranke dürften neurodegenerative Prozesse und damit auch der Neokortex eine Rolle spielen. So werden sicher neue therapeutische Ansätze in klinischen Studien getestet werden können, während das klinische Profil des ersten für primär progrediente Formen zugelassenen Präparats, also von Ocrelizumab, klarer werden dürfte.

Und was «fürchten» Sie am meisten?
Auch wenn ungünstige Entwicklungen wie beim oben erwähnten Daclizumab Unsicherheit erzeugen und die Frage aufkommen lassen, ob die wissenschaftliche und behördliche Begleitung der Entwicklung solcher komplexen Behandlungsverfahren immer sorgfältig genug erfolgt, sehe ich grössere Gefahren für das Fach Neurologie eher auf der gesellschaftlichen und ökonomischen Ebene. So muss man sich angesichts des in den Medizinalberufen überall spürbaren Fachkräftemangels schon fragen, ob wir all die tollen Fortschritte überhaupt sachgerecht an das Patientenbett bringen können. Ebenfalls aufhorchen sollten wir, wenn von gesundheitsökonomischer Seite darüber spekuliert wird, ob teure neue Medikamente, die – wie an einigen Beispielen bereits aufgezeigt – nun auch zunehmend in der Neurologie zur Anwendung kommen, nicht zwangsläufig das Ende eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems bedeuten. Die Frage der Finanzierung unseres immer teurer werdenden Gesundheitssystems kann nur in einem breiteren gesellschaftlichen Diskurs unter Einbezug aller Stakeholder, inklusive der forschenden Pharmaindustrie, beantwortet werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass ein leistungsfähiges und gegenüber Naturwissenschaft und Technik aufgeschlossenes Gesundheitssystem nicht nur Ressourcen verbraucht, sondern die Wirtschaft auch stimuliert und damit Wohlstand schafft.

Was ist Ihre wichtigste Botschaft für die Kolleginnen und Kollegen in der Hausarztpraxis 2019?

Auch in der Neurologie kommen zunehmend völlig neuartige

Therapien zum Einsatz, deren Nebenwirkungsspektrum eben-

falls vollkommen neu und mit der Marktzulassung auch noch

längst nicht ausreichend bekannt ist, um routiniert damit umzu-

gehen. Daneben kommen auch in anderen Bereichen der Medi-

zin Therapien zum Einsatz, die neurologische Symptome und

Erkrankungen auslösen können. Dies gilt auch für die 2018 mit

einem Nobelpreis bedachten Immuncheckpointtherapien in der

Onkologie. Der Haus- oder Notfallarzt ist möglicherweise zu-

erst mit diesen bisher unbekannten Symptomen konfrontiert.

Hier ist dann der interdisziplinäre Austausch mit den involvier-

ten Spezialisten gefragt, um entscheiden zu können, ob und al-

lenfalls auch wie eine derartige Therapie abgesetzt werden muss.

Und apropos Nobelpreis: Nicht nur für die erwähnten neuen

onkologischen Therapien, sondern auch für die Entdeckung

falsch gefalteter Proteine in den Zellen sowie der monoklonalen

Antikörper gab es Nobelpreise. Dies zeigt, wie eng Grundlagen-

und klinische Forschung zusammenhängen und dass deren Er-

kenntnisse jeden Tag in die Arbeit der Hausarztkollegen mit

dem Patienten und seinem Umfeld einfliessen.

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1. Winkler F: Tumour network in glioma. ESMO Open 2016; 1(6): e000133. 2. Izumoto S et al.: Seizures and tumor progression in glioma patients with
uncontrollable epilepsy treated with perampanel. Anticancer Res 2018; 38: 4361–4366. 3. Wurster CD, Ludolph AC: Antisense oligonucleotides in neurological disorders. Ther Adv Neurol Disord 2018; 11: 1756286418776932. 4. Stolte B et al.: Feasibility and safety of intrathecal treatment with nusinersen in adult patients with spinal muscular atrophy. Ther Adv Neurol Disord 2018; 11: 1756286418803246. 5. Tepper S et al.: Safety and efficacy of erenumab for preventive treatment of chronic migraine: a randomised, double-blind, placebo-controlled phase 2 trial. Lancet Neurol 2017; 16: 425–434. 6. Nogueira RG et al.; DAWN Trial Investigators: Thrombectomy 6 to 24 hours after stroke with a mismatch between deficit and infarct. N Engl J Med 2018; 378: 11–21.

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