Transkript
Rückblick 2018/Ausblick 2019
Psychiatrie
PD Dr. med. Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter Chefarzt Alters- und Neuropsychiatrie St. Gallen
Prof. Dr. med. Henning Wormstall FA Psychiatrie und Psychotherapie, Neurologie Schaffhausen
Kontinuierliche und enge Zusammenarbeit von Hausärzten und Psychiatern ist von grosser Bedeutung
Welche neuen Erkenntnisse des letzten Jahres in Ihrem Fachgebiet fanden Sie besonders spannend?
Im gesamten psychiatrischen Fachgebiet gab es auch 2018 wieder Neuerungen oder Weiterentwicklungen. Hierbei sind sowohl neue Therapieoptionen, die medikamentöse und psychotherapeutische Verfahren umfassen, wie auch neue organisatorische Aspekte des Versorgungsnetzes zu nennen. Zudem rücken einzelne Patientengruppen vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Dies sind zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund und psychiatrischen Erkrankungen. In dieser Situation sind besonders das Erkennen und die Evaluation psychischer Störungen gefragt, vor allem aber der richtige Zugang zum Helfernetz und eine effektive Therapie. Im Bereich der psychotherapeutischen Angebote liegt ein Fokus auf den traumaorientierten Therapieverfahren. Zu erwähnen sind auch die im Jahr 2018 neu erschienenen Behandlungsempfehlungen der Schweizer Fachgesellschaften für die Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie für die Altersdepression, die beide am Jahreskongress der Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie vorgestellt wurden (1). Bei Patienten mit psychosomatischen Störungen, insbesondere Schmerzsymptomen, kommen die noch recht jungen Psychotherapiemethoden der achtsamkeitsbasierten Verfahren (z.B. Acceptance and Commitment Therapy [ACT]) zunehmend zum Tragen (2). Auf diesem Feld konnten neue Erfahrungen gemacht und evidenzbasierte Daten zur Wirksamkeit gewonnen werden.
Weitere Themen sind die aufsuchenden psychiatrischen Behandlungen zur Akut- oder Langzeittherapie der Patienten im häuslichen Milieu (Home Treatment), verbunden mit neuen Modellen zur Wiedereingliederung dieser Patienten in den Arbeitsprozess. Hierdurch lassen sich immer wieder stationäre Behandlungen vermeiden oder verkürzen. In Zeiten der zunehmenden Arbeitsverdichtung und -flexibilisierung hat die Erforschung von Resilienz, das heisst der Aufrechterhaltung beziehungsweise Rückgewinnung der psychischen Gesundheit während oder nach widrigen Lebensumständen, eine zunehmende Bedeutung. Die Resilienzförderung auf individueller oder systemischer Ebene wurde als ein Ziel der WHO («Health 2020») formuliert (3). In mehreren Längsschnittstudien (z.B. MIDUS, MARP, LORA) laufen Untersuchungen zu dieser Thematik. Ein Thema, von dem die psychiatrische Arbeit derzeit tangiert wird, ist die weiterhin bestehende Unklarheit bezüglich medizinischer Indikationen, aber auch der Öffnung des Konsums von Cannabinoiden im Hinblick auf psychische Risikofaktoren (kognitive Leistungsstörungen, Risiko der Psychosetriggerung bei Jugendlichen etc.) und der damit verbundenen Emotionalisierung der fachlichen Diskussion (4). Mittlerweile sind 400 Stoffe der Cannabispflanze bekannt, wobei derzeit ein besonderes Augenmerk auf potenziell heilende Wirkungen von Cannabidiol gelegt wird.
Welche davon könnten Diagnostik und/oder Therapie in der Hausarztpraxis künftig verändern?
Da über ein Viertel der Bevölkerung mindestens einmal im Leben an einer behandlungsbedürftigen psychischen Symptomatik erkrankt, dürften wohl alle der oben aufgeführten Themenbereiche für die Hausarztmedizin von grossem fachlichen Interesse sein. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Nationalen Demenzstrategie (5) Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie der Demenzen entwickelt, die die diagnostischen Standards vereinheitlichen und aktualisieren, aber auch Empfehlungen für die Grundversorgung von Patienten mit Demenz bereitstellen.
Wurden 2018 in Ihrem Fachbereich Medikamente zugelassen, die die Therapie erheblich verbessern?
Nachdem in den letzten Jahren keine neuen Medikamente zur Behandlung der Schizophrenie auf den Markt gekommen waren, wurden im zu Ende gehenden Jahr gleich zwei neue Substanzen zugelassen, Cariprazin und Brexpiprazol (6). Cariprazin (Reagila®) ist ein antipsychotischer Wirkstoff aus der Gruppe der atypischen Neuroleptika, der in der Schweiz (und in Deutschland) seit 2018 für die Behandlung einer Schizophrenie zugelassen ist (in einigen Ländern auch für die Akutbehandlung manischer oder gemischter Episoden bei der bipolaren Störung
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vom Typ I). Die Effekte beruhen auf der Interaktion mit Dopamin- und Serotoninrezeptoren im zentralen Nervensystem. Cariprazin hat eine partiell antagonistische Wirkung am D2und noch mehr am D3-Rezeptor. Es ähnelt somit ein wenig dem Aripiprazol. Es wurde ein Zusatznutzen vor allem für Patienten mit Negativsymptomatik beschrieben, zudem soll die Substanz nebenwirkungsärmer als ähnliche Neuroleptika sein. Die Kapseln werden einmal täglich unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen. Zu den möglichen unerwünschten Wirkungen gehören extrapyramidale Störungen und eine Akathisie (Sitzunruhe). Cariprazin ist ein Substrat von CYP3A4 und CYP2D6, hat aktive Metaboliten und eine lange Halbwertszeit. Brexpiprazol (Rexulti®) ist ebenfalls ein antipsychotischer Wirkstoff aus der Gruppe der atypischen Neuroleptika, der 2018 in der Schweiz zur Behandlung der Schizophrenie zugelassen wurde, in einigen Ländern auch zur Behandlung einer Depression in Kombination mit einem Antidepressivum. Die Effekte beruhen ebenfalls auf der Interaktion mit Serotonin- und Dopaminrezeptoren im zentralen Nervensystem. Auch Brexpiprazol ist strukturell eng mit Aripiprazol (Abilify®) verwandt. Die Tabletten werden einmal täglich und unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen. Zu den häufigsten möglichen unerwünschten Wirkungen ist die Akathisie zu zählen, eine Gewichtszunahme scheint nicht aufzutreten. Brexpiprazol ist ein Substrat von CYP3A4 und CYP2D6, und entsprechende Arzneimittel-Wechselwirkungen sind nicht auszuschliessen. Beide Substanzen erweitern das Spektrum der pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten der Schizophrenie; inwieweit sie einen signifikant grösseren Nutzen in der Alltagsbehandlung dieser Patienten darstellen, wird sich im kommenden Jahr und in den Folgejahren zeigen.
Auf welche Studienresultate sind Sie für 2019 besonders gespannt?
Trotz gegenteiliger Äusserungen in der Tagespresse wird an der Weiterentwicklung der medikamentösen Behandlungsoptionen der Demenz, insbesondere der Alzheimer-Demenz, gearbeitet. Neben Studien, die sich vor allem auf die prospektive Wirkung von Substanzen bei noch nicht erkrankten Risikopersonen mit einem hohen Amyloid-Beta-Load konzentrieren, werden zusätzlich Studien mit Substanzen durchgeführt, die an der Tau-Pathologie angreifen. Sollten sich diese Studien als erfolgreich erweisen, könnten davon nicht nur Patienten mit Alzheimer-Demenz, sondern auch Patienten mit Demenzen aus dem ganzen Spektrum der Tauopathien profitieren. Im Bereich der Schizophrenie liegt der Fokus auf der Früherkennung von Psychosen, verbunden mit der Frage, ob Patienten mit einem hohen Psychoserisiko bereits mit antipsychotischer Medikation behandelt werden sollen, bevor sie erkrankt sind. Zu diesen Fragen laufen derzeit drei Studien, die amerikanische NAPLS-Studie und die beiden europäischen Studien PSYSCAN und PRONIA. Sie kombinieren klinische Merkmale mit biologischen Markern. Ziel dieser Studien ist es, individuelle Vorhersagen zum Auftreten einer Psychose zu machen und auf dieser Grundlage den Nutzen therapeutischer Frühinterventionen zu erforschen (7). Im Bereich der Depressionsbehandlung wurde in den letzten Jahren die Wirkung von Ketamin, einem glutamatergen Modulator, intensiv untersucht. Sowohl die intravenöse wie auch die
intranasale Applikation bewirkt eine gute und vor allem schnelle antidepressive Wirkung (innerhalb von 24 h). Mit der Zulassung von Es-Ketamin als intranasale Applikationsform ist in den nächsten Jahren zu rechnen (8). Im letzten Jahr ist es zudem zu einer Renaissance der Forschung (bisher in kleinen Pilotstudien) mit Psychostimulanzien wie LSD oder Psylocybin gekommen (9). Hier darf man auf die Studienresultate gespannt sein.
Und was «fürchten» Sie am meisten?
Ein wichtiges Thema in unserem Fachgebiet ist die vorhandene Unsicherheit der zukünftigen Finanzierung der Psychiatrie als sogenannte «sprechende Medizin». Dies betrifft sowohl den Tarifeingriff des Bundesrats im ambulanten Bereich (TarmedEingriff) als auch die Anwendung des neuen Tarifsystems für die stationäre Psychiatrie (TARPSY) (Start 1.1.2018). Erste Erfahrungen mit dem Tarmed-Eingriff zeigen neben einer Einkommenseinbusse bei Psychiatern, dass insbesondere die neu eingeführten Limitationen – vor allem für die Leistungen in Abwesenheit des Patienten – die Behandlungsabläufe erschweren und verzögern können. Für TARPSY besteht bei den Kliniken derzeit Unsicherheit darüber, zu welchen finanziellen Ergebnissen die erbrachten Leistungen tatsächlich führen. Dieser Aspekt wie auch die Notwendigkeit einer exakten Datenlieferung hat zu einem erhöhten administrativen Aufwand für die Kliniken geführt. Damit stellt die adäquate ökonomische Planung eine grosse Herausforderung für Institutionen und psychiatrische Kliniken dar und somit auch für die adäquate Versorgung der psychisch Kranken in der gesamten Schweiz. Nicht unerwähnt bleiben darf der gravierende Nachwuchsmangel bei Psychiatern. Dies betrifft im Moment (noch) weniger die Versorgung im Bereich der niedergelassenen Psychiater, sondern vor allem die Schwierigkeit bei der Besetzung von Assistenz- und Oberarztstellen (wie auch Pflegestellen) in den psychiatrischen Kliniken.
Was ist Ihre wichtigste Botschaft für die Kolleginnen und Kollegen in der Hausarztpraxis 2019?
Da eine kontinuierliche und enge Zusammenarbeit zwischen Psychiatern/Psychotherapeuten und den hausärztlichen Kollegen von erheblicher Bedeutung ist, haben wir die Beantwortung dieser Frage im Vergleich zum letzten Jahr bewusst nahezu unverändert belassen. Psychiatrische Erkrankungen haben eine hohe Inzidenz (v.a. Depressionen und Angststörungen, im höheren Alter auch Demenzen). Dementsprechend zahlreich kommen sie auch in der Hausarztpraxis vor. Oftmals verbirgt sich hinter vorrangig körperlichen Symptomen (z.B. Schmerzen) eine seelische Erkrankung, sodass bei somatisch kranken Patienten (z.B. bei dermatologischen, gynäkologischen oder orthopädischen Erkrankungen) psychiatrische Begleiterkrankungen wie eine Depression, eine Angststörung oder eine Suchterkrankung übersehen werden können. Schlafstörungen können Ausdruck einer Vielzahl von körperlichen Störungen, aber auch von psychiatrischen Erkrankungen sein. Deshalb ist es notwendig, Patienten in der Hausarztpraxis in ihrer Gesamtheit zu betrachten und auch nach psychiatrischen Erkrankungen zu «fahnden». Bei Verdachtsmomenten
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oder Unsicherheit sollten diese Patienten zur weiteren Abklärung an einen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie überwiesen werden. Kann eine Diagnose gestellt werden, lässt sich oftmals eine gezielte Therapie in die Wege leiten, die sowohl dem Patienten wie auch den Angehörigen zu einem deutlichen Zuwachs an Lebensqualität verhilft. Gerade unter diesen Aspekten ist eine gute Zusammenarbeit zwischen den Psychiatern und der somatischen Medizin, insbesondere den Hausärzten als zentralen Ansprechpartnern in der Gesundheitsversorgung, unbedingt notwendig. Den Hausärzten kommt darüber hinaus die wichtige Rolle zu, bei Patienten unter Psychopharmakabehandlung zusammen mit dem behandelnden Psychiater an somatische Nebenwirkungen zu denken, Laboruntersuchungen (cave: Hyponatriämie, medikamentös induzierte Hepatose, renale Veränderungen etc.)
Linktipp
Die Empfehlungen der WHO zu Resilienz sowie die Empfehlungen für Grundversorger der nationalen Demenzstrategie finden Sie unter den folgenden Links bzw. direkt via QRCode: Resilienz: www.rosenfluh.ch/qr/health2020
Nationale Demenzstrategie: www.rosenfluh.ch/qr/demenzstrategie_6-1
in etwa halbjährigen Abständen durchzuführen, gegebenenfalls
ergänzt durch ein individuelles therapeutisches Drug-Monito-
ring. Weiterhin sehr sinnvoll ist im Behandlungsverlauf eine
EKG-Ableitung, um zum Beispiel eine QT-Zeit-Verlängerung
oder eine medikamentös ausgelöste Rhythmusstörung nicht zu
übersehen (10).
L
Literatur: 1. Euler S et al., www.sgpp.ch und Hatzinger M et al.: Praxis 2018; 107 (3):
127–144, www.sgap.ch 2. Vowles KE et al.: An analysis of within-treatment change trajectories in
valued activity in relation to treatment outcomes following interdisciplinary acceptance and commitment therapy for adults with chronic pain. Behav Res Ther 2018 Oct 27; pii: S0005-7967(18)30165-7. 3. WHO (2017) Strengthening resilience: a priority shared by Health 2020 and the Sustainable Development Goals. http://www.euro.who.int/_ data/ assets/pdf_file/0005/351284/resilience-report-20171004-h1635.pdf 4. Ilyasov AA et al.: The endocannabinoid system and oligodendrocytes in health and disease. Front Neurosci 2018; 12: 733. 5. Nationale Demenzstrategie, BAG 2014 bis 2019, Teilprojekt 6.1. Empfehlungen für die Grundversorgung. Homepage BAG, Hemmeter et al., Link https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/ nationale-gesundheitsstrategien/nationale-demenzstrategie/ Demenzstrategie-Handlungsfeld-Qualitaet-Fachkompetenz/Demenz spezifische_Empfehlungen_Grundversorgung.html 6. Mauri MC et al.: Clinical pharmacokinetics of atypical antipsychotics: an update. Clin Pharmacokinet 2018 Jun 19; doi: 10.1007/s40262-018-0664-3 (Epub ahead of print). 7. Koutsouleris N et al., PRONIA Consortium: Prediction models of functional outcomes for individuals in the clinical high-risk state for psychosis or with recent-onset depression: a multimodal, multisite machine learning analysis. JAMA Psychiatry 2018; 75(11): 1156–1172. 8. Zhang K, Hashimoto K: An update on ketamine and its two enantiomers as rapid-acting antidepressants. Expert Rev Neurother 2018: 1–10. 9. De Gregorio D et al.: d-Lysergic acid diethylamide, psilocybin, and other classic hallucinogens: mechanism of action and potential therapeutic applications in mood disorders. Prog Brain Res 2018; 242: 69–96. 10.Benkert, Otto, Hippius, Hanns (Hrsg.): Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. 2019, 12. Auflage, Springer Verlag.
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