Transkript
Interview
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Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten Gesundheitsproblemen überhaupt. Fast jeder Erwachsene leidet ab und zu darunter. Im folgenden Gespräch erklärt ein Wirbelsäulenspezialist, weshalb nicht jeder mit Rückenschmerzen krank ist, wie man ernsthafte Rückenleiden erkennt und inwieweit Rückenschmerzen der Preis für unseren aufrechten Gang sind.
S prechstunde: Herr Dr. Min, unsere Wirbelsäule ist ein komplexes, starkes Gebilde und doch für viele Menschen auch ihre Schwachstelle. Wie verbreitet sind Rückenschmerzen wirklich? Dr. med. Kan Min: 25 Prozent der Bevölkerung leidet laut Studien unter Rückenschmerzen. Die Zahlen beziehen sich auf akute sowie chronische Schmerzen im unteren Rücken, der Lendenwirbelsäule. Und dafür gibt es viele Gründe: Haltungsprobleme, Übergewicht, wenig Sport, schwache Muskulatur in Rücken und Bauch, Abnützung in den Bandscheiben. Andererseits gehören Rückenschmerzen zu unserem Leben, weil wir aufrecht gehen und stehen. Unsere Lendenwirbelsäule ist dadurch ständig überbelastet.
Es handelt sich also um eine Volkskrankheit? Auch wenn jeder Vierte Rückenschmerzen hat, muss nicht jeder Betroffene auch krank sein. Wir müssen unterscheiden, denn 95 Prozent der Rückenschmerzen sind ohne Befund und haben keine spezifische Ursache. Man spricht dann von unspezifischen Rückenschmerzen. Ausserdem sind Abnutzungserscheinungen wie Arthrose oder Wirbelverkrümmungen die übliche Ursache von Rückenschmerz.
Kann man solchen Abnutzungen vorbeugen? Je älter der Mensch wird, desto mehr ist er auch von Abnutzungserscheinungen der Wirbel betroffen. Diese lassen sich nicht vermeiden, aber sie werden begünstigt und beschleunigt durch eine nicht rückenfreundliche Lebensweise. Dazu gehören Übergewicht und Rauchen als die wichtigsten Faktoren. Nikotin beeinträchtigt die Durchblutung der Bandscheiben. Bei Übergewicht ist das Gewicht vermehrt nach vorne verlagert, was eine sehr ungünstige Belastung für die Wirbelsäule bedeutet. Eine starke, trainierte Rücken- und Bauchmuskulatur kann die Wirbelsäule sehr wirkungsvoll auf Dauer stabilisieren und stützen.
Wann sind Rückenschmerzen krankhaft? Wenn sie unser tägliches Leben behindern, unsere Lebensqualität einschränken und wir privat und beruflich nicht mehr voll einsatzfähig sind. Für Schmerzen, die länger als sechs Wochen
anhalten, liegt meistens eine krankhafte Ursache vor.
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WIRBELSÄULE
Was sind die Ursachen für ständige Rückenschmerzen? Dazu gehören die häufig diagnostizierten abnutzungsbedingten Veränderungen der Bandscheiben oder Wirbelgelenke, Bandscheibenvorfälle, Wirbelkanalverengungen, Verkrümmungen oder Infektionen der Wirbelsäule. In seltenen Fällen können auch Tumoren in der Wirbelsäule die Ursache sein.
Wie unterscheiden sich die Symptome? Ein entzündlicher Schmerz bei Infektionen tritt meistens in der Nacht und in Ruhephasen auf. Abnutzungsschmerzen sind hingegen klare Belastungsschmerzen, die sich in Bewegung oder bei Veränderungen der Körperhaltung bemerkbar machen. Schmerz durch einen Tumor ist dauerhaft und nimmt ständig zu. Bei einer Wirbelkanalverengung oder einen Bandscheibenvorfall strahlen die Schmerzen in die Beine aus.
Können auch Überbelastungen dem Rücken schaden? Schmerzen, die durch eine kurzfristige Überbelastung entstehen, zum Beispiel durch schweres Tragen bei einem Umzug, sind in der Regel unbedenklich und klingen meist innerhalb von sechs Wochen von selbst wieder ab. Es sei denn, jemand erleidet bei starker momentaner Belastung einen Bandscheibenvorfall.
Gibt es ausser dem unteren Rücken noch andere Abschnitte der Wirbelsäule, wo Schmerzen auftreten können? Zwar treten die meisten Schmerzen im Bereich der unteren zwei bis drei Bandscheiben in der Lendenwirbelsäule auf. Doch auch im Halswirbelbereich gibt es Abnutzungserscheinungen.
Was verschafft Linderung bei akuten Rückenschmerzen? Wärme wirkt schmerzlindernd. Man sollte sich ein wenig Ruhe gönnen und sich eine Weile schonen. Auch kann man sich ein paar Tage mit einfachen Schmerztabletten helfen. Dann sollten die Schmerzen wieder abklingen.
Wann sollte man auf jeden Fall einen Arzt aufsuchen? Wenn zu den Schmerzen Schwäche oder ein Taubheitsgefühl in Armen und Beinen hinzukommen. Dann könnten die Nerven betroffen sein. Auch wenn die Schmerzen tendenziell keine spontane Besserung zeigen, ist ein Arztbesuch angezeigt.
Sie haben es schon angesprochen, dass eine starke Muskulatur eine gute Prävention ist. Welchen Sport können sie für den Rücken empfehlen? Auch Sport kann Rückenschmerzen nicht immer verhindern. Aber eine Person mit guten Muskeln und guter Haltung leidet sicher weniger als jemand mit untrainierten Muskeln. Man sollte es jedoch mit dem Sport auch nicht übertreiben, das kann unter Umständen die Beschwerden verstärken. «Rotationssportarten» wie Tennis oder Fussball, bei denen sich verschiedene Formen der Bewegung abwechseln, sind nicht immer rückenfreundlich. Ich empfehle regelmässiges Konditionstraining. Gut ist auch spezielle Rückengymnastik mit Übungen, die gezielt die Bauch- und Rückenmuskulatur stärken. Das passende Wohlfühlprogramm für den Rücken ist aber sehr individuell. Es kommt immer darauf an, welchen Belastungen der Rücken täglich ausgesetzt ist.
Die Menschen bewegen sich heute nachweislich zu wenig und sitzen im Büro zu viel. Hat dies Auswirkungen auf die Wirbelsäule? Bewegungsmangel führt nicht direkt zu Rückenschmerzen, indirekt wirkt sich die fehlende Kondition aber schwächend auf die Muskulatur aus. Sitzen ist für die Lendenwirbel die grösste Belastung. Als Faustregel gilt: Laufen und Liegen tun dem Rücken gut, langes Stehen und Sitzen dagegen sind Gift.
Wie wird der Rückenschmerz in der Regel behandelt? In erster Linie mit Physiotherapie, Medikamenten und wenn nötig Injektionen in Wirbelgelenke oder in den Wirbelkanal. Erst wenn diese Massnahmen nicht erfolgreich sind, wird eine Operation in Betracht gezogen.
Herr Dr. Min, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Schritt.
PD Dr. med. Kan Min ist auf Wirbelsäulenprobleme spezialisiert und leitet die Wirbelsäulenchirugie in der orthopädischen Universitätsklinik Balgrist in Zürich.
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