Transkript
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Als die Autos skifahren lernten
Siegeszug der einstigen «machina non grata»
Autofahrten durch Alpentäler und über Bergpässe sind heute, dank perfektem
Von Heini Hofmann
Hauptinitiant – das Engadin Es resultierte eine erstaunliche, rückblickend
Strassennetz und Winterdienst, ein
kaum mehr zu verstehende Situation: Ausge-
Ganzjahresvergnügen. Dem war, zumal im Bündner-
rechnet in jenem Kanton, den ein Schulbub im Aufsatz cha-
land, nicht immer so, und das hat zudem eine ge-
rakterisierte mit «Die Bündner ernähren sich von Touristen»,
samteuropäisch einmalige Vorgeschichte: zuerst
gab es keine Automobile, weil Autofahren im ganzen Bünd-
knallhartes Autoverbot, dann Schneemobil-Welt-
nerland aufgrund eines Beschlusses des Kleinen Rates seit
sensation!
1900 schlichtweg verboten war.
Dabei lieferte das Engadin scheinbar den Tropfen, der das
Diese azyklische Bündner Geschichtsepisode eines weltweit
Fass überlaufen liess; denn in der Botschaft an den Grossen
einmaligen Fahrverbots für den «pustenden, tutenden und
Rat wird das kleinrätliche Verbot wie folgt begründet: «Seine
stinkenden Hohn» namens Automobil, der die Strassen für
Entstehung verdankt das Verbot von 1900 wirklicher Gefähr-
Mensch und Vieh lebensgefährlich mache, wurde von den ei-
dung und arger Belästigung des Strassenverkehrs im Enga-
nen als mutige Demonstration einer Willensnation belobigt,
din durch fremde Automobilbesitzer.»
von den anderen als hinterwäldlerischer Schildbürgerstreich
apostrophiert. Sie dauerte ganze 25 Jahre, um dann plötzlich
Ganze zehn Abstimmungen
dem puren Gegenteil Platz zu machen – Ski fahrenden Autos!
Die einen freute diese «friedliche Oase», während sich die
Mit diesen schneetüchtigen Raupenfahrzeugen erfuhr der
anderen über solch «mittelalterliche Grenzsperrung» ärger-
Wintersport eine neue Dimension. Und wie Bilddokumente
bezeugen, wurden bei schwierigsten winterlichen Strassen-
verhältnissen sogar länderübergreifende Winterrallyes inszeniert.
Kuriosum Bündner Autoverbot Seinen ersten Auftritt in der Schweiz hatte das Automobil an der Landesausstellung von 1896 in Genf – also mit einem Jahrzehnt Verzögerung zum übrigen Europa. Doch während überall auf der Welt das Auto seinen Siegeszug kontinuierlich beschleunigte, wurden im Bündnerland, also ausgerechnet in einer Hochburg der Belle-Epoque-Hotellerie, im 20. Jahrhundert die Weichen anders gestellt. Der Eisenbahn zeigte man dort die grüne Kelle, dem Auto dagegen die rote Karte; es wurde zur «machina non grata» erklärt. Das mochte auch damit zusammenhängen, dass die Bündner durch ihre Stimmabgabe am Entscheidungsprozess direkt teilhaben konnten. So hat sich denn, ganz im Gegensatz zur
Stimmen zum Autoverbot
Flugblatt gegen das Auto «Wer bezahlt dem Bauer den Schaden, der links und rechts der Strasse durch den Staubstreifen entsteht? Wer zahlt dem Häuserbesitzer an den Minderwert seines Hauses? Wie werden die Toten, die die Automobilisten auf dem Gewissen haben, wieder lebendig gemacht? Für wen ist die Strasse da? Für uns oder für fremde Automobilisten? Bündnervolk! Du hast vor Jahrhunderten nicht zuletzt für die Freiheit der Strassen die Zwingherrenburgen gebrochen, lass heute die modernen Strassenzwingherren nicht aufkommen.»
Bahnpolitik, die Bündner Automobilpolitik nicht nur zu einem paneuropäischen Sonderfall, sondern nachgerade zu einem anachronistischen Kuriosum der Automobilgeschichte schlechthin entwickelt.
Grosser Rat schliesslich dafür
«Nur die allergrössten Kälber wählen ihren Metzger
«Das Automobil wird als Verkehrs- sälber.»
(Bild: Public Domain)
mittel zweifellos mit der Zeit allent-
halben seinen Weg machen, und es erscheint weder klug noch möglich, dem Rad der
Zeit in die Speichen fallen zu wollen.»
HH
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ten. So gab es denn immer wieder groteske Bilder: Zum Beispiel durfte ein Graf aus Carrara, Besitzer der Marmorbrüche, mit seiner Nobelkarosse nur bis Castasegna fahren. Ab hier zogen die Pferde das Auto hinauf. Auch Karl August Lingner, der Odolkönig und Retter von Schloss Tarasp, musste, um mit seinem Auto im Schlosspark spazierenfahren zu können, dieses per Pferdezug von der Landesgrenze hinaufbefördern. Ein volles Vierteljahrhundert sollte es dauern, bis sich dies – nach sage und schreibe zehn (!) Volksabstimmungen – erst 1925 änderte.
Automobilfabrikant André Citroën, hier mit Gattin und Kindern, führte die ersten Prototypen in St. Moritz höchst persönlich vor (1929).
(Bild: Archiv Badrutt’s Palace Hotel, St. Moritz)
Die Ära der Raupenautos Nach dem Fall des Bündner Autoverbots war es nun am Automobil selber, Graubünden zu erobern. Doch die Bündner Passstrassen, als naturgegebene Nord-Süd-Verbindung über die Alpenbarriere, stellten an die Benzinkarossen, zumal in schneereichen Wintern, ganz spezielle Anforderungen. Das veranlasste findige Automobilkonstrukteure, diesem Handicap durch einen so einfachen wie genialen Trick zu begegnen. Sie verpassten den Automobilen Gleit- und Raupenhilfen. Dies führte zur spassigen Situation, dass die Autos, als sie im Bündnerland endlich zugelassen waren, gleich skifahren lernten …
Dieser fotodokumentarische Zufallsfund (man beachte die Autonummern 5472 und 5473) belegt, dass schon früher länderübergreifende Rallyes durchgeführt wurden, und erst noch mit schneetüchtigen Raupenfahrzeugen: Wie diese Bildstrecke zeigt, passierte man zuerst die italienischschweizerische Grenze in Müstair, machte Zwischenhalt im Hotel Schweizerhof in Sta. Maria und traf sich schliesslich vor Badrutt’s Palace Hotel in St. Moritz.
(Bilder: Biblioteca Jaura, Valchava und Archiv Badrutt’s Palace Hotel, St. Moritz)
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Eine geniale Erfindung Eine ganz besondere Konstruktion tauchte jetzt vor den Nobelhotels im Engadin auf: wintertaugliche Stahlrosse mit Raupenantrieb hinten und Skiern unter den Vorderrädern. Automobilfabrikant André Citroën führte die ersten Prototypen höchst persönlich in St. Moritz vor. Mit solchen Skimobilen wurde nun auch die Anreise über den verschneiten Julierpass komfortabler. Und es wurden bereits in den 1930er-Jahren sogar Winterrallyes möglich, wie eine Bildstrecke von der italienischschweizerischen Grenze in Müstair via Hotel Schweizerhof in Sta. Maria zu Badrutt’s Palace Hotel in St. Moritz zeigt.
Lange Vorgeschichte Der Raupenantrieb ist allerdings viel älter als die schneetauglichen Autochenilles, wie André Citroën seine Schneeautos nannte. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen – aufgrund einer englischen Erfindung – in Amerika schwere Raupengeräte (Caterpillars) zum Einsatz. Nachteil war deren beschränkte Geschwindigkeit. Für Baumaschinen waren sie geeignet, nicht aber für militärische und touristische Zwecke. Entscheidend waren dann die Tüfteleien des französischen Ingenieurs Adolphe Kégresse (1879–1943) am Hof des russischen Zaren Nikolaus II, zuerst mit Kamelleder, dann mit Gummibändern. So gab es im Fuhrpark des Zaren verschie-
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dene geländegängige und sogar – mit Kufen unter den Vorderrädern – schneetaugliche Fahrzeuge. Später bediente sich auch Lenin der neuen Technik mit einem Rolls Royce mit Raupenantrieb, Baujahr 1915.
Führend war Citroën Wegen der Revolution kehrte Adolphe Kégresse wieder nach Frankreich zurück, arbeitete für André Citroën und leitete das neue Werk für Raupenfahrzeuge, die man dann später oft schlicht Kegressen nannte. Neben zivilen Modellen wurden auch ungepanzerte und gepanzerte Militärversionen hergestellt. Ab 1928 wurden die Typenreihen B2, B10 und B14 durch die leistungsstärkeren Baureihen C4 und C6 ersetzt. Zivil kamen die Autochenilles für öffentliche Transporte in den Bergen (Post), Feuerwehren und Ambulanzen, Land- und Forstwirtschaft sowie zum Treideln (Schleppen von Schiffen) zum Einsatz. Vor allem aber nutzten diese Raupenautos dann auch der Tourismus und der aufkommende Winter- und Freizeitsport für Schneefahrten im Gelände und über Pässe, fürs Schleppen von Skifahrern und Schlitten, aber auch für Strandfahrten und Jagdexpeditionen.
Heute fast vergessen Bald kamen auch Nachahmerprodukte auf den Markt, von White (USA) und von Hanomag (D), bei letzterem sogar als Motorrad, dem Ketten-Krad (Ketten-Kraftrad). Bei Citroën läutete schliesslich ein Konkurs (1934) das Ende der Raupenautos ein. Neue Allradfahrzeuge wie Jeep und Landrover waren sparsamer im Verbrauch und schneller. Die Landwirtschaft ihrerseits wechselte zum Traktor. Eines ist sicher: Das Engadin und St. Moritz mit ihren Nobelhotel-Ikonen spielten damals als Werbeplattform für die Autochenilles eine wichtige Rolle. Wer weiss, vielleicht müsste man dies an einem nächsten Winterrallye wieder mal in Erinnerung rufen – mit einer in der Streckenplanung eingebauten Raupenauto-Demo. Gleichzeitig könnte man sich auch an das weltweit einmalige Bündner Automobilverbot zurückerinnern, indem auf einem anderen Streckenabschnitt (Nebenstrasse oder Flugpiste Samedan) die Autos wieder von Pferden gezogen werden müssten … Wetten, dass diese Nostalgie-Einlagen zum Hit würden!
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Korrespondenzadresse: Heini Hofmann Zootierarzt und freier Wissenschaftspublizist Hohlweg 11 8645 Jona
Highlights der Autochenilles
Berühmt wurden die Citroën-Raupenfahrzeuge, die Autochenilles, durch automobilis-
tische Kraftakte wie die Sahara-Durchquerung (1922), die Croisière noire (Durchque-
rung Afrikas, 1924/25), die Croisière jaune (Fahrt nach und durch China, 1931/32) und
die Antarktis-Expedition (1933/34).
Erstaunlich eigentlich, wie solch bahnbrechende Spitzenleistungen der Technik welt-
weit Furore machen – um dann bald mal in Vergessenheit zu geraten …
HH
Zwei Autochenilles vor dem Kulm Hotel. Mit ihnen wurde nun auch die Anreise über den verschnei-
ten Julierpass komfortabler.
(Bild: Archiv Badrutt’s Palace Hotel, St. Moritz)
Schneemobile aus Biel
Neben der Uhrenindustrie gab es in der bilinguen Seeland-Metropole schon früh, nach
Zürich und Basel, auch Automobilbau. Als zweiter Autopionier in Biel (nach den
Brüdern Charles-Edouard und Fritz Henriod) eröffnete Jean Gygax 1895 an der
Freiestrasse, neben der Druckerei Gassmann, die «Wagenfabrik Gygax» mit rund
60 Angestellten.
Seine für ihre Qualität und Ästhetik weitherum bekannten und in alle Welt exportierten
Karossen für Gebrauchs- und Luxusautos, Lastwagen und Busse montierte er auf Fahr-
gestelle anderer Automobilhersteller. Als Spezialität baute er auch schneetaugliche
Citroën-Raupenfahrzeuge.
HH
Der Bieler Autopionier Jean Gygax fährt im Winter 1923 in seinem Schneemobil nach Magglingen
hinauf.
(Bild: Memreg, Biel)
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