Transkript
FORTBILDUNG
«Die Diskussion um Ritalin geht an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei»
Prof. Dr. Alexandra Philipsen ist neue Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn. Sie setzt auf eine störungsorientierte Behandlung und baut insbesondere den Schwerpunkt ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/ -Hyperaktivitätsstörung) aus. Am diesjährigen Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) war sie Stateof-the-Art-Rednerin zum Thema «ADHS im Erwachsenenalter – Diagnostik und Therapie». Im Gespräch geht sie auf aktuelle Entwicklungen in der Behandlung der ADHS ein und auf die Forschungsbemühungen am Universitätsklinikum Bonn.
Psychiatrie + Neurologie: Über ADHS wird immer noch sehr kontrovers diskutiert, nicht nur in der Publikumspresse. Womit hängt das zusammen? Prof. Alexandra Philipsen: Möglicherweise wird das Thema immer noch kontrovers diskutiert, weil die Prävalenzraten in Abhängigkeit der untersuchten Gruppen, also Bevölkerung versus Patienten, unterschiedlich ausfallen. Zudem polarisiert immer noch die Behandlung mit Methylphenidat, also zum Beispiel Ritalin. Die Verschreibungszahlen in Bezug auf Ritalin sind in den letzten Jahren gestiegen. In manchen Altersgruppen, wie bei den 10- bis 12-jährigen Kindern, vielleicht auch entsprechend der zu erwartenden Behandlungsbedürftigkeit, zu stark. Das gab Anlass zur Skepsis. Allerdings steigt auch die Prävalenz von diagnostizierten Autismus-Spektrum-Störungen, das wird jedoch weniger kontrovers diskutiert, wahrscheinlich auch deshalb, weil es in diesem Bereich kein zugelassenes Medikament gibt. Leider geht die Diskussion um Ritalin an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei und führt nur zu einer weiteren Stigmatisierung in der Psychiatrie. Denn viele Menschen denken, sie seien halt auch «ein bisschen ablenkbar». Fakt ist aber, dass die Stimulanzien bei Menschen mit ADHS in der Regel sehr wirksam sind und deshalb auch eingesetzt werden sollten, wenn es eine Indikation, das heisst eine relevante Beeinträchtigung durch die Symptome, gibt.
Die Prävalenzraten bei ADHS sind sehr unterschiedlich. Woher kommen diese unterschiedlichen Daten? Alexandra Philipsen: Das hängt von der Art der Erhebung ab. Also davon, ob die Untersuchungen bei Patientenpopulationen oder in der Bevölkerung stattgefunden haben und mit welchen Erhebungsinstrumenten. Wurde beispielsweise eine Fremdeinschätzung der
Alexandra Philipsen
Angehörigen miteinbezogen, oder basiert die Erhebung rein auf einem Fragebogen? So können sich aufgrund der unterschiedlichen Erhebungsmethoden auch unterschiedliche Prävalenzraten ergeben. 2016 haben Kollegen (Seixas et al.) beispielsweise systematisch untersucht, wie häufig ADHS bis ins Erwachsenenalter fortbesteht. Die Analyse zeigt, dass dies stark abhängig von der Art der Methode ist, die zur Diagnosefindung eingesetzt wurde. Das ICD-10 geht von einer Prävalenzrate von 1 bis 2 Prozent im Erwachsenenalter aus, die Prävalenz ist also nicht sehr hoch. Für die Praxis ist jedoch relevant, dass in bestimmten klinischen Populationen an ADHS gedacht werden muss. Liegt eine Suchterkrankung vor, ist diese bei bis zu 30 Prozent mit ADHS assoziiert. Auch leiden bis zu 60 Prozent der ADHS-Betroffenen unter eine Depression. Zudem ist ADHS gehäuft mit Persönlichkeitsstörungen assoziiert.
Am Kongress haben Sie gesagt, dass sich die Symptome vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter auch stark verändern. Womit hängt das zusammen?
5/2018
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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FORTBILDUNG
Alexandra Philipsen: Die motorische Unruhe wird im Alter weniger, was bleibt, ist die innere Unruhe, und sehr häufig treten Gefühlsregulationsprobleme mehr in den Vordergrund. Liegen bei einem Kind mit ADHS Störungen in der Emotionsregulation vor, finden wir diese in der Regel auch noch im Erwachsenenalter, und die Wahrscheinlichkeit, dass ADHS dann fortbesteht, ist bei solchen Patienten erhöht. Die medikamentöse Behandlung wirkt auf die Gefühlsregulationsprobleme nicht so gut wie auf die Aufmerksamkeitsstörung, auch die Psychotherapie wirkt im Vergleich zu den Medikamenten weniger gut, aber sie hilft, Stärken zu identifizieren und mit Gefühlsschwankungen umgehen zu lernen.
Die S3-Leitlinien wurden neu überarbeitet. Welche Veränderungen bringen sie mit sich, insbesondere für die medikamentöse Therapie, und welche Konsequenzen wird das haben? Alexandra Philipsen: Die neuen S3-Leitlinien haben insofern Konsequenzen, als bereits bei moderater ADHS mit einer moderaten Beeinträchtigung pharmakologisch behandelt werden soll. Wir haben das in den Leitliniengremien intensiv diskutiert. Aber die Daten sprechen dafür, dass auch eine moderate ADHS am besten auf die medikamentöse Behandlung anspricht.
Kommt aufgrund der neuen Leitlinien der Psychoedukation und dem therapeutischen Arbeiten eine grössere Bedeutung zu? Alexandra Philipsen: Ja, denn die Leitlinien geben auch vor, dass die Psychoedukation immer die Grundlage sein soll und sehr ausführlich zu erfolgen hat. Wir wissen, dass allein das Wissen, was ADHS ist, oftmals zu einer erheblichen Entlastung beiträgt. Die Psychotherapie wiederum wird bei einer leichten ADHS angewendet, wenn man kein Medikament einnehmen möchte, wenn ein Medikament gegeben wird und noch Restsymptome bestehen oder wenn Kontraindikationen vorliegen, wie beispielsweise eine nicht behandelbare Hypertonie, ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt in der Vorgeschichte. Ich bin eine Verfechterin der evidenzbasierten Psychotherapie und habe mich intensiv auch mit der Wirkung von Sport, von Achtsamkeit und Meditation bei ADHS auseinandergesetzt. Das sind alles auch hilfreiche Verfahren, aber am wirksamsten ist die Medikation hinsichtlich der Kernsymptome. Dem Betroffenen eine wirksame Behandlung vorzuenthalten, ist meiner Ansicht nach unethisch.
Sie haben am SGPP-Kongress damit geschlossen, dass «noch viel zu tun ist». Was wäre für Sie entscheidend in der Diagnostik und der Therapie? Alexandra Philipsen: Wir wissen leider bis heute noch nicht, welches Medikament genau und weshalb bei
welchem Betroffenen wirkt. Wir wissen auch noch nicht genügend über die genetische Disposition. Aus diesem Grund verfolgen wir in Bonn in der Forschung einen translationalen Ansatz und arbeiten unter anderem eng mit den molekularen Psychiatern und dem Bereich der Humangenetik zusammen. Wir möchten auch wissen, wie genau Sport auf das Gehirn wirkt. Geforscht wird zudem im Bereich der Neurostimulation. Wir sind dabei, ein Projekt zu Wechselstrom aufzustellen, um herauszufinden, wie durch eine Veränderung der Hirnoszillationen bei ADHS die Konzentration verbessert werden kann. In Kontrollpopulationen konnten wir bereits zeigen, dass die Konzentration unter dieser Stimulation besser wird. Das wäre vielleicht ein Ansatz für ADHS-Patienten, der mittelfristig auch zu Hause angewendet werden könnte. In Bonn haben wir zudem ein virtuelles Realitätenlabor aufgebaut. Im Bereich der Angstforschung ist das zunehmend verbreitet, bei ADHS bisher noch nicht. Die Patienten werden mittels Cyberbrille im virtuellen Raum abgelenkt und lernen durch eine direkte Rückmeldung, wie sie sich wieder besser konzentrieren können.
Welche Bedeutung spielen in diesem Zusammenhang
die Projekte «AwareMe» und «ESCAlife»?
Alexandra Philipsen: Bei «ESCAlife» sind wir in einem
Verbund von verschiedenen Spitälern zusammen-
geschlossen. Bonn ist ein Prüfzentrum. Es geht um
die Bedeutung einer stufenweisen Behandlung. In
«ESCAlife» beginnen wir die Behandlung mit einer in-
tensiven Psychoedukation, das heisst 8-mal wöchent-
lich 30 Minuten lang. Eine Gruppe wird Fact-to-Face
behandelt, die Kontrollgruppe erhält eine telefonassi-
stierte Psychoedukation. Wir waren zuerst skeptisch, ob
die Telefonberatung sinnvoll ist. Bei den Betroffenen
kommt das aber sehr gut an, da sie dadurch flexibler
sind. Anhand der Symptome wird dann stufenweise die
Behandlung eskaliert. «AwareMe» ist ein Projekt zur kör-
pernahen Medizintechnik, es geht um Wearables oder
tragbare Medizin. Über Biofeedbackschleifen wird der
Betroffene informiert, wenn er unruhig wird. Eine App
schlägt dann beispielsweise vor, dass ein Spaziergang
gut wäre.
G
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Alexandra Philipsen
Klinikdirektorin
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Universitätsklinikum Bonn
E-Mail: Alexandra.Philipsen@ukbonn.de
Sehr geehrte Frau Prof. Philipsen, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
38 5/2018
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE