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FORTBILDUNG
Opioidmissbrauch: Wird jetzt Europa süchtig?
In den USA ist es über die vergangenen zehn Jahre zu einem alarmierenden Anstieg des Gebrauchs und Missbrauchs von Opioiden sowie der Todesfälle durch Überdosierungen gekommen. Angesichts dieser Daten stellt sich die Frage, ob Europa eine ähnliche Entwicklung bevorsteht.
von Reno Barth
I n den USA nimmt der legale und illegale Opioidgebrauch seit einigen Jahren einen epidemischen Zustand an. Dieser lag seit den 1980er-Jahren höher als in Europa, blieb jedoch bis zur Jahrtausendwende stabil und etwa auf dem gleichen Niveau wie beispielsweise in Australien. Doch ab dem Jahr 2000 nahmen die Verläufe eine andere Richtung, und der Pro-Kopf-Verbrauch vervierfachte sich innerhalb von nur zehn Jahren. Eine landesweite Erhebung zeigte, dass im Jahr 2015 fast 40 Prozent der erwachsenen US-Bevölkerung (91,8 Millionen Menschen) Opioidverschreibungen erhalten hatten. Missbräuchliche Verwendung gaben 11,5 Millionen an, und 1,9 Millionen waren abhängig. Der am häufigsten genannte Grund für Missbrauch von Opioiden war körperlicher Schmerz. Auch Arbeitslosigkeit, fehlende Krankenversicherung und niedriges Einkommen waren mit missbräuchlichem Opioidkonsum assoziiert (1). «Es ist ein enormes Problem. Betroffen sind Weisse genauso wie Schwarze, Frauen genauso wie Männer», sagte Prof. Dr. Wim van der Brink von der Universität Amsterdam.
Anstieg der Todesfälle Parallel zu dieser Entwicklung kam es zu einem steilen Anstieg der Todesfälle durch legal verschriebene Opioide. Diese Zunahme konnte ab 2010 zwar stabilisiert werden, jedoch nahmen seitdem die Todesfälle durch Heroin massiv zu, und zwar von 1 Überdosis pro 100 000 Einwohner im Jahr 2010 auf 3,4 im Jahr 2014 (2). Van der Brink: «Derzeit sterben täglich rund 200 Amerikaner an einer Opioidüberdosierung. Längst ist davon auch die weisse Mittelschicht betroffen.» Daten zu Patienten, die eine Suchtbehandlung in Anspruch nehmen, zeigen, dass es zunächst zu einer Verschiebung von Heroinkonsumenten zu Konsumenten verschreibungspflichtiger Opioide kam, dass die Entwicklung seit 2010 aber wieder zurück in Richtung Heroin geht (3). Van der Brink: «Das Problem begann mit den Patienten, die Opioide nicht wegen Krebsschmerz, sondern wegen anderer Schmerzformen erhielten.» Seit 2010 steigen die Konsumenten aber wieder verstärkt auf Heroin und potentere synthetische Opioide wie illegal hergestelltes Fentanyl um. Letztere stellen ein besonderes Problem dar, weil es damit häufig zu Unfällen kommt. Van der Brink: «Praktisch alle Fentanylkonsumenten sterben an einer Überdosis. Insofern ist mir auch das kriminelle Geschäftsmodell unverständlich. Die Droge tötet die Konsumenten meist schon nach kurzer Zeit.» Angesichts der bedenklichen Zahlen stellt sich aus europäischer Perspektive die Frage, ob dieser Trend irgendwann auf Europa übergreifen wird. Beunruhigende
Daten kommen aus Australien, wo seit 2006 ebenfalls ein Anstieg der Opioidtoten verzeichnet wird, der allerdings praktisch zur Gänze auf das Konto von verschreibungspflichtigen Opioiden geht. Von Bedeutung sind Oxycodon und in den letzten Jahren zunehmend auch Fentanyl (4). Aus Europa werden entsprechende Zahlen gegenwärtig nicht gemeldet. Im Vereinigten Königreich wurde seit 2007 ein leichter Anstieg der Opioidverschreibungen beobachtet, der allerdings nicht von einem Anstieg der Todesfälle begleitet war (5). Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Niederlanden, wo es zwischen 2004 und 2013 zu einem Anstieg der Verschreibungen kam, die Zahl der tödlichen Überdosierungen jedoch auf niedrigem Niveau stabil blieb. Die Zahl der Opioidabhängigen in Behandlung ist von 13 000 auf 9000 zurückgegangen (6). Van der Brink: «Das hat wesentlich damit zu tun, dass viele alte Heroinkonsumenten in den letzten zehn Jahren verstorben sind.» Alles in allem liege der Gebrauch von verschreibungspflichtigen Opioiden, so van der Brink, in den USA rund viermal höher als in Europa. Auch ein Risikokonsum ist mit 0,1 bis 0,6 Prozent der Bevölkerung deutlich seltener als in den USA. Van der Brink: «Wir stehen deutlich besser da.» Von den geschätzten 1,3 Millionen europäischer Risikokonsumenten (also in der Regel Heroinkonsumenten) stehen 48 Prozent unter Substitutionstherapie – in den USA sind es lediglich 13 Prozent (7). Van der Brink: «Wir haben in Europa also mehr Opioidverschreibungen als vor zehn Jahren, es kommt jedoch nicht zu einer vermehrten missbräuchlichen Verwendung. Es scheint, dass die unterschiedlichen Gesundheitssysteme hier den Unterschied ausmachen. Auch die in den USA legale Laienwerbung für Medikamente dürfte zu den amerikanischen Problemen beigetragen haben.» G
Reno Barth
Referenzen: 1. Han B et al.: Prescription Opioid Use, Misuse, and Use Disorders in
U.S. Adults. Ann Intern Med. 2018 Mar 6; 168(5): 383–384. 2. Skolnick P: The Opioid Epidemic: Crisis and Solutions. Annu Rev Phar-
macol Toxicol. 2018 Jan 6; 58: 143–159. 3. Cicero TJ et al.: The changing face of heroin use in the United States:
a retrospective analysis of the past 50 years. JAMA Psychiatry. 2014 Jul 1; 71(7): 821–826. 4. Roxburgh A et al.: Trends in heroin and pharmaceutical opioid overdose deaths in Australia. Drug Alcohol Depend. 2017 Oct 1; 179: 291–298. 5. Weisberg DF et al.: Prescription opioid misuse in the United States and the United Kingdom: cautionary lessons. Int J Drug Policy. 2014 Nov; 25(6): 1124–1130. 6. van Amsterdam J et al.: European rating of drug harms. J Psychopharmacol. 2015 Jun; 29(6): 655–660. 7. European Drug Report 2017: http://www.emcdda.europa.eu/edr 2017_en
Quelle: Symposium «Chronic Pain and Risk of Addiction», Vortrag «The Misuse of Prescription Opioids: A Threat for Europe?», 26th European Congress of Psychiatry, 5. März in Nizza.
5/2018
PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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