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KONGRESSBERICHT
ZÜRCHER DERMATOLOGISCHE FORTBILDUNGSTAGE
Mastzellaktivierungssyndrom
Medienhype oder seriöse Medizin?
Mediatoren wie Histamin sind bei Patienten für die Erklärung rätselhafter Symptomkonstellationen weiterhin hoch im Kurs. Nachdem die Welle der Histaminintoleranz nachgelassen hat, kommt mit dem Mastzellaktivierungssyndrom eine neue Epidemie auf Hausärzte und Allergologen zu. Darüber sprach Prof. Peter Schmid-Grendelmeier aus Zürich an den Zürcher Dermatologischen Fortbildungstagen 2018.
Er berichtete von einer 36-jährigen Patientin, die über wiederholte, häufige Attacken mit Niesen, Herzrasen und Schwindel klagte. Ohne erkennbare Auslöser, auch ohne Zusammenhang mit histaminreichen Speisen, traten etwa 12 Attacken pro Monat auf. Unter H1-Antihistaminika war eine Besserung feststellbar. Aufgrund der Informationen im Internet war für die Patientin die Sache ziemlich klar: «Ich glaube, dass ich an einem MCAS leide».
Was ist MCAS?
Zu MCAS (Mast Cell Activation Syndrome) gibt es seriöse wissenschaftliche Veröffentlichungen. MCAS wird als Mastzellaktivierungssyndrom ohne erkennbare Ursache der Mastzellaktivierungsepisoden definiert (1). Mastzellen sind sehr potent und jederzeit bereit, Triggerfaktoren zu erkennen und als Reaktion viele Mediatoren freizusetzen. Mastzellen können nicht nur von Allergenen durch Quervernetzung zell-
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gebundener, allergenspezifischer IgE-Antikörper aktiviert werden, sondern auch unabhängig von IgE durch zahlreiche andere Trigger wie Anaphylatoxine, gewisse Medikamente, Tiergifte, physikalische Einflüsse (z.B. Druck, Temperaturwechsel), Zytokine und Neuropeptide (2). Wahrscheinlich ist ein geringes Mass an Mastzellaktivierung normal und für die Homöostase des Körpers sogar nötig (1). Zu heftige Mastzellaktivierung kann allerdings zahlreiche Symptome verschiedener Organe und Systeme auslösen (2): L Herz-Kreislauf-System: Hypotonie, (Beinah-)Syn-
kope, Schwindel, Tachykardie L Haut: Flush, Pruritus, Urtikaria, Angioödem L Magen-Darm-Trakt: Bauchkrämpfe, Diarrhö, öso-
phagealer Reflux, Nausea, Erbrechen L Respirationstrakt: Verstopfung und Pruritus der
Nase, Beeinträchtigung der Atmung L Zentralnervensystem: Angst, Depression, Beein-
trächtigung von Konzentration und Gedächtnis, Schlafstörungen, Migräne L Bewegungsapparat: Muskel- und Knochenschmerzen, Osteoporose L Allgemeinsymptome: Fatigue, Malaise, Gewichtsverlust.
Diagnostische Abklärungen und Therapie bei MCAS
Bei Patienten mit MCAS kommt es spontan zu Episoden verstärkter Mastzellaktivität, ohne dass die Mastzellzahl in der Haut oder im Knochenmark erhöht ist. Für die Diagnose von MCAS sind drei Kriterien erforderlich (1): L Episodische Symptome, die zur Freisetzung von
Mastzellmediatoren passen und mindestens zwei Organe oder Systeme betreffen L Anstieg der Serumtryptase innerhalb von 4 Stunden nach einer symptomatischen Episode um mindestens 20 Prozent des Basiswertes plus 2 ng/ml L Ansprechen auf medikamentöse Behandlungen gegen Mastzellaktivierung. Für die Abklärung ist eine genaue Anamnese sehr wichtig. Sie kann bei der Suche nach Allergien mit IgE-vermittelter Mastzellaktivierung die Richtung anzeigen (z.B. Symptome nach Fischgerichten). Um eine Mastozytose auszuschliessen, gilt es, die Serumtryptase (Basiswert) zu messen. In einer Attacke soll der Patient in die Praxis kommen, um den Anstieg der Serumtryptase dokumentieren zu können.
Zur Behandlung kann ein nicht sedierender H1-Rezeptorantagonist in einfacher, doppelter oder dreifacher Dosierung über längere Zeit (4–6 Wochen) verwendet werden. Bei Magen-Darm-Beschwerden kann zusätzlich ein H2-Rezeptorantagonist (z.B. Ranitidin) nützlich sein. In speziellen Situationen kommen bei refraktären Symptomen orale Glukokortikoide oder Omalizumab in Betracht. Bei der eingangs erwähnten Patientin mit anfallsweisem Herzrasen verlief die Allergiesuche ergebnislos. Haut-Pricktestung, totales IgE, spezifisches IgE (fx5, ISAC) waren negativ. Der Basiswert der Serumtryptase betrug 4,9 ng/ml (im Normbereich). Zwei Stunden nach einer Attacke wurde ein Anstieg um fast das Doppelte auf 9,2 ng/ml gemessen.
Erstaunliche Zusammenhänge
Neuerdings wird auf Interaktionen zwischen Mastzel-
len und Bindegewebe hingewiesen. Es wurde beob-
achtet, dass Patienten mit dem hypermobilen Typ III
des Ehlers-Danlos-Syndroms (angeborene Binde-
gewebsstörung mit überdehnbarer Haut und über-
beweglichen Gelenken) gehäuft an verschiedenen
Symptomen von Mastzellaktivierung und an lage-
abhängigen Kreislaufbeschwerden (Postural Ortho-
static Tachycardia Syndrome) leiden. Bei MCAS-
Patienten können freigesetzte Mediatoren auch
Herzschmerzen hervorrufen (instabile vasospastische
Angina pectoris oder akuter Myokardinfarkt = Kou-
nis-Syndrom).
L
Alfred Lienhard
Referenzen: 1. Akin C: Mast cell activation syndromes. J Allergy Clin Immunol 2017; 140:
349–355. 2. Theoharides TC et al.: Mast cells, mastocytosis, and related disorders. N Engl J Med
2015; 373: 163–172.
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