Transkript
STUDIE REFERIERT
Chirurgie bei pharmakotherapieresistenter Temporallappenepilepsie
Warum noch oft zu selten und zu spät?
Da randomisierte kontrollierte
Studien kaum möglich erscheinen,
versucht eine Entscheidungsana-
lyse, mit rechnerischen Mitteln die
Vorteile der Epilepsiechirurgie bei
dafür geeigneten Patienten auszu-
leuchten.
JAMA
Trotz einem grossen Spektrum an Antiepileptika bleiben 20 bis 40 Prozent der Epilepsiepatientinnen und -patienten unter medikamentöser Behandlung refraktär. Für diese Patientengruppe ist weltweit festzustellen, dass die Epilepsiechirurgie zu selten eingesetzt wird, so Hyunmi Choi und Mitautoren in ihrem Originalbeitrag im «JAMA» einleitend. Nur wenige Patienten würden zu einer entsprechenden Abklärung überwiesen, und etliche Patienten würden erst 20 Jahre nach Beginn der Epilepsie einer epilepsiechirurgischen Behandlung zugeführt. Die Temporallappenepilepsie ist die häufigste Form des Anfallsleidens und auch diejenige, die am ehesten gegenüber einer Pharmakotherapie refraktär bleibt. Eine pharmakoresistente Epilepsie ist alles andere als harmlos. Gegenüber der epilepsiefreien Allgemeinbevölkerung haben solche Patienten auch ein kürzeres Überleben. Patienten, die nach einer
anterioren Temporallappenresektion anfallsfrei werden, haben im Vergleich mit solchen, die unter Medikation weiter Anfälle erleiden, geringere Mortalitätsraten, was für einen möglichen langfristigen Überlebensvorteil spricht. Ideal wäre eine randomisierte kontrollierte Studie, die das Langzeitüberleben mit und ohne Chirurgie direkt vergleicht. Eine derartige Studie ist jedoch wegen methodischer Hürden (gleichgewichtige Patientenauswahl, Verblindung) unwahrscheinlich. Eine solche Studie musste in den USA wegen Rekrutierungsschwierigkeiten vorzeitig aufgegeben werden. Daher entschlossen sich die Autoren zu einer theoretischen Studie mit einem entscheidungsanalytischen Modell.
Methodik Für ihre Entscheidungsanalyse benützten die Autoren eine «Monte-Carlo-Simulation», ein rechnerisches Modell, das sie mit verschiedenen Daten beziehungsweise Annahmen fütterten. Sie gingen dabei von Patienten mit refraktären partiellen Anfällen (einfache partielle, komplexe partielle, sekundär generalisierte oder alle drei Anfallsarten zusammen) aus, die gegenüber mindestens zwei Antiepileptika resistent waren. Voraussetzung für eine mögliche Operationsindikation war die Identifikation einer epileptogenen Region im vorderen Schläfenlappen durch diagnostische Abklärung mittels Klinik, EEG, MRI oder funktioneller Bildgebung (Positronenemissionstomografie [PET], Single-PhotonEmissionscomputertomografie [SPECT]). Als mittleres Alter zum Zeitpunkt der
Epilepsiechirurgie wurden gemäss gewichteten Daten bisheriger Studien 35 Jahre angenommen. Die Schätzungen basierten auf einer systematischen Literatursuche unter Berücksichtigung der ausgeprägten Heterogenität zwischen den Studien. Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität stammten von Patienten mit pharmakoresistenter Schläfenlappenepilepsie. Das statistische Simulationsmodell unterschied nur zwischen zwei Vorgehensweisen – chirurgische Temporallappenresektion oder fortgeführte medikamentöse Behandlung – und berücksichtigte, aufgrund beschränkter Daten, keine anderen Verfahren wie die Gamma-KnifeRadioresektion oder Vagusstimulation, wie die Autoren schreiben. Als potenzielle Komplikationen des chirurgischen Eingriffs berücksichtigte das Modell die Mortalität, Langzeitkomplikationen wie verbale Gedächtnisbeeinträchtigung, homonyme Hemianopsie oder Hemiparese oder vorübergehende Störungen wie postoperative Infektionen oder Depressionen. Hinsichtlich des weiteren Verlaufs unterschied das Modell zwischen Anfallsfreiheit (inkl. einfachen partiellen Anfällen ohne Beeinträchtigung des Bewusstseinszustands), invalidisierenden (partiellen oder sekundär generalisierten) Anfällen oder Todesfall.
Merksätze
■ Bei Patienten mit medikamentös nicht beherrschbaren, vom Schläfenlappen ausgehenden epileptischen Anfällen führt die anteriore Temporallappenresektion zu einer Verlängerung des Überlebens und zu einer deutlichen langfristigen Verbesserung der Lebensqualität.
■ Die bessere Lebensqualität beruht auf einer Zunahme der Jahre ohne invalidisierende Anfälle.
■ Das längere Überleben ist Folge einer Senkung der anfallsbedingten Überschussmortalität.
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KOMMENTAR
Dr. Thomas Dorn, Leitender Arzt, Schweiz. Epilepsie-Zentrum, Zürich
Bereits beim ersten Anfall an Epilepsiechirurgie denken
«Frau X., die Behandlung Ihrer Epilepsie ist nun fünf Jahre nach der Operation abgeschlossen. Sie sind nun seit der Operation, zuletzt auch ohne Medikamente, anfallsfrei geblieben.» Diese Sätze sind in der Epileptologie schon seit vielen Jahren ein Teil der Realität. Was ist nun die wissenschaftliche Evidenz für eine epilepsiechirurgische Therapie? Wann ist sie indiziert? Seit Langem ist bekannt, dass bei zirka 30 Prozent der Epilepsien mit Medikamenten keine dauerhafte Anfallsfreiheit erreicht werden kann, wobei die Prognose im Einzelfall zum Teil von der Ätiologie abhängt. Einem Teil dieser Patienten kann durch einen epilepsiechirurgischen Eingriff geholfen werden. Dies ist dann möglich, wenn im Falle einer lokalisationsbezogenen (= fokalen) Epilepsie das sogenannte epileptogene Areal, also diejenige Hirnregion, deren Entfernung notwendig und hinreichend ist, um dauerhaft Anfallsfreiheit zu erreichen, reseziert werden kann, ohne dass hierdurch nicht tolerable Funktionseinbussen wie zum Beispiel Lähmungen oder Sprachstörungen entstehen (1). Zur Präzisierung sei angefügt, dass das Ziel eines epilepsiechirurgischen Eingriffs zunächst ist, eine medikamentös nicht ausreichend behandelbare Epilepsie in eine mit Medikamenten anfallsfrei zu haltende zu überführen. Bei einem gegenwärtig nicht genau bestimmbaren Anteil von Patienten kann nach einem solchen Eingriff die antiepileptische Medikation allerdings im postoperativen Verlauf ganz abgesetzt werden, ohne dass wieder Anfälle auftreten — so wie im oben erwähnten Beispiel (2). Epilepsiechirurgische Eingriffe werden in allen Hirnlappen durchgeführt. Da aber viele fokale Epilepsien ihren Ursprung im Temporallappen haben, liegt die grösste epilepsiechirurgische Erfahrung für den Schläfenlappen vor. Hier werden auch im Vergleich zu anderen Hirnregionen die besten Resultate
erreicht. Diese Resultate wurden bis anhin fast ausschliesslich in Form retrospektiver Studien von einzelnen Zentren berichtet. Als Beispiel sei hier die grosse Studie von Wieser aus Zürich mit knapp 400 Patienten angeführt (3), wonach zirka 67 Prozent der Patienten durch die Operation, das heisst eine selektive Amygdalahippocampektomie, bezüglich behindernder Anfälle und 57 Prozent bezüglich aller Anfallsformen, also auch bezüglich nicht weiter beeinträchtigender Auren, symptomfrei wurden. Solche retrospektiven Studien vergleichen aber nicht das Resultat eines operativen Vorgehens mit dem einer weiteren ausschliesslich medikamentösen Therapie. Auch sagen sie nichts aus zu anderen wichtigen Zielparametern wie Lebensqualität und Lebenserwartung, die ja durch anfallsassoziierte Unfälle, einen plötzlichen, unerwarteten Tod bei Epilepsie (SUDEP = sudden unexpected death in epilepsy), medikamentöse Nebenwirkungen sowie Operationskomplikationen und ihre Folgen eingeschränkt sein können. Indessen gibt es bis anhin nur 1 prospektive randomisierte Studie, die sich dieser Frage angenommen hat (4). Insgesamt 80 Patienten mit pharmakotherapieresistenter Temporallappenepilepsie wurden eingeschlossen und auf 1 von 2 Therapiearmen randomisiert, sodass 40 einer anterioren Temporallappenresektion zugeführt und die anderen 40 weiter medikamentös behandelt wurden. Nach einem Jahr waren 58 Prozent der operierten, aber nur 8 Prozent der ausschliesslich medikamentös behandelten Patienten anfallsfrei. Die operierten Patienten hatten auch eine signifikant bessere Lebensqualität. 10 Prozent der operierten Patienten hatten Nebenwirkungen der Operation (1 Patient erlitt einen kleinen Thalamusinfarkt mit sensiblen Ausfällen, 1 weiterer eine Wundinfektion, 2 mussten Verbalgedächtniseinbussen hinnehmen). In der
nicht operierten Gruppe starb 1 Patient an SUDEP. Die Studie wurde viel diskutiert und auch kritisiert, bis anhin wurde aber keine weitere vergleichbare Untersuchung veröffentlicht, da die Rekrutierung hierfür schwierig sein dürfte und auch ethische Aspekte zu beachten sind. Die hier vorgestellte Studie von Choi und Mitarbeitern (5) versucht nun, durch eine statistische Simulation das langfristige Ergebnis eines operativen Vorgehens (d.h. anteriore Temporallappenresektion) mit dem einer ausschliesslich medikamentösen Therapie bei pharmakotherapieresistenten Temporallappenepilepsien zu vergleichen, wobei die Lebenserwartung und die Lebensqualität untersucht werden. Die Annahmen des Modells beruhen auf den Ergebnissen der oben angesprochenen unkontrollierten Studien und der einen erwähnten randomisierten Untersuchung; ferner wurden Untersuchungen zur Prognose der medikamentösen Behandlung von Epilepsien sowie zu Auftretenswahrscheinlichkeit und Risiken eines SUDEP berücksichtigt. Dabei wird von einem zum Zeitpunkt der Therapieentscheidung 35-jährigen Patienten ausgegangen. Dieser erhält durch die Operation eine um fünf Jahre längere Lebenserwartung und eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität. Das Risiko von die Lebenserwartung und die Lebensqualität beeinträchtigenden Effekten der Operation ist im Vergleich hierzu sehr gering. Der Reiz dieser Untersuchung besteht darin, dass durch sogenannte Sensitivitätsanalysen gezeigt wurde, dass der Vorteil eines ausschliesslich medikamentösen Vorgehens nur unter der Voraussetzung absurder Annahmen, wie zum Beispiel einer Operationsmortalität von 24 Prozent, gegeben ist. So lautet auch die Empfehlung der Autoren, dass im Fall einer Temporallappenepilepsie ein epilepsiechirurgischer Eingriff dann erwogen werden sollte, wenn 2 geeignete Antiepileptika bis zur individuellen Nebenwirkungsgrenze ausdosiert worden sind, ohne dass damit Anfallsfreiheit erreicht worden ist. Im bisherigen Text ist ja nun von zwei epilepsiechirurgischen Verfahren bei Temporallappenepilepsien die Rede, nämlich von der selektiven Amgydalahippocampektomie und der anterioren Temporallappenresektion. In den letzten Jahren setzte sich international das erstere, in Zürich seit den Siebzigerjahren
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mitentwickelte Verfahren durch, das die teilweise Entfernung der ja bei den meisten Temporallappenepilepsien im Sinn einer sogenannten mesiotemporalen Sklerose betroffenen Strukturen Amygdala und Hippocampus umfasst und im Hinblick auf neuropsychologische Folgen wahrscheinlich schonender ist. Allerdings existiert für die angenommene Gleichwertigkeit hinsichtlich der Anfallskontrolle und die Überlegenheit hinsichtlich der neuropsychologischen Nebenwirkungen der selektiven Amygdalahippocampektomie keine Evidenz aus kontrollierten Vergleichsstudien (6). Wie Choi und Mitarbeiter einleitend in ihrer Arbeit (5) darlegen, werden viele Patienten erst 20 Jahre nach Epilepsiebeginn einer epilepsiechirurgischen Behandlung zugeführt, obwohl man zur Darstellung der Pharmakotherapieresistenz, das heisst dem Austesten zweier Antiepileptika maximal ein bis zwei Jahre benötigen sollte (2). So erfolgt die epilepsiechirurgische Behandlung oft erst dann, wenn bedingt durch die lange bestehende Epilepsie eine ungünstige psychosoziale Entwicklung nicht mehr so einfach rückgängig gemacht werden kann. In der Diskussion ihrer Ergebnisse stellen die Autoren dann auch die Frage nach dem Grund für diese oft sehr lange Dauer bis zum epilepsiechirurgischen Eingriff. Die Antwort auf diese Frage ergebe sich aus den in der Arbeit zitierten Umfragen bei Neurologen, die zum einen die Risiken epilepsiechirurgischer Eingriffe überschätzten, zum anderen sich aber auch nicht klar darüber seien, wie Pharmakotherapieresistenz eigentlich definiert sei. Es ist nun zu hoffen, dass pharmakotherapieresistente Epilepsien künftig früher erkannt und die betroffenen Patienten deutlich schneller einer epilepsiechirurgischen Be-
handlung zugeführt werden. So sollte man sich schon nach einem ersten epileptischen Anfall beziehungsweise ersten epileptischen Anfällen die Frage stellen, ob hier allenfalls eine epilepsiechirurgisch behandelbare Epilepsie vorliegt, um rechtzeitig die Weichen für diese Therapie stellen zu können. Wichtig ist dabei die Durchführung eines hochauflösenden MRI mit Sequenzen, die besonders die Beurteilung der mesiotemporalen Strukturen erlauben. Aber auch nach anderen epileptogenen Hirnpathologien wie zum Beispiel Kavernomen oder kortikalen Dysplasien, die ebenfalls einer epilepsiechirurgischen Behandlung zugänglich sind, sollte gezielt mit entsprechenden Analyseverfahren gesucht werden. Natürlich muss bei Vorliegen einer Epilepsie eine Pharmakotherapie begonnen und systematisch weitergeführt werden, wobei vor allem eine Pseudopharmakotherapieresistenz durch eine sorgfältige Erfassung und Förderung der Adhärenz auszuschliessen ist (2). Im Falle einer Pharmakotherapieresistenz, also des Scheiterns zweier bis zur individuellen Toxizitätsgrenze ausdosierten antiepileptischen Monotherapien, sollte die Frage nach einer epilepsiechirurgischen Behandlungsoption gestellt und zügig beantwortet werden. Dabei müssen dann zunächst patiententypische Anfälle im Video-EEG erfasst und die sich daraus ergebende Hypothese zur Lokalisation des epileptogenen Areals mit den Befunden aus der Bildgebung verglichen werden. Im Fall konkordanter Befunde ist mithilfe neuropsychologischer Verfahren, allenfalls mit dem Wada-Test und auch der funktionellen Bildgebung zu prüfen, ob das epileptogene Areal ohne nicht zu tolerierende Defizite entfernt werden kann. In seltenen Fällen mit diskordanten Befunden, fehlendem Nachweis einer epileptogenen Pathologie im MRI oder
auch einer wahrscheinlichen Beteiligung von
eloquentem Kortex sind noch weitere invasive
Abklärungen, das heisst die Implantation von
Elektroden im Schädelinneren inklusive einer
elektrischen Hirnkartierung erforderlich, um
die obigen Fragen zu klären (1).
In der Schweiz gibt es mehrere Zentren, die
derartige epilepsiechirurgische Abklärungen
und Behandlungen, zum Teil schon seit vielen
Jahren, durchführen. Dennoch sehen wir Epi-
leptologen hier immer noch viele Patienten,
die schon vor vielen Jahren hätten operiert
werden können.
Vielleicht müssen die Empfehlungen von Choi
und Mitarbeitern, denen ich nur zustimmen
kann, noch verbindlicher formuliert werden –
analog den Patientenpfaden für onkologische
Patienten —, um gänzlich zu verhindern, dass
Patienten 10 bis 20 Jahre auf eine adäquate
Therapie warten müssen.
■
Literatur: 1. Kurthen M, Grunwald T, Huppertz HJ: Präoperative Diagnostik
und chirurgische Therapie von Epilepsien bei Erwachsenen und Kindern. Schweiz Med Forum 2008; 8: 836–843. Französische Version: Kurthen M, Grunwald T, Huppertz HJ: Diagnostic préopératoire et traitement chirurgical des épilepsies. Schweiz Med Forum 2008; 8: 836—843. 2. Dorn T, Huppertz HJ, Vogt H, Ganz R, Sälke-Kellermann RA, Krämer G: Diagnostik und medikamentöse Therapie von Epilepsien. Schweiz Med Forum 2009, im Druck. 3. Wieser HG, Ortega M, Friedman A, Yonekawa Y: Long-term seizure outcomes following amygdalohippocampectomy. J Neurosurg. 2003; 98: 751—763. 4. Wiebe S, Blume WT, Girvin JP, Eliasziw M: Effectiveness and Efficiency of Surgery for Temporal Lobe Epilepsy Study Group. A randomized, controlled trial of surgery for temporal-lobe epilepsy. N Engl J Med. 2001; 345: 311—318. 5. Choi H, Sell RL, Lenert L, Muennig P, Goodman RR, Gilliam FG, Wong JB: Epilepsy Surgery for pharmacoresistant temporal lobe epilepsy. A Decision Analysis. JAMA 2008; 300: 2497— 2505. 6. Schramm J: Temporal lobe epilepsy surgery and the quest for optimal extent of resection: a review. Epilepsia. 2008; 49: 1296—1307.
Resultate Die Voraussagen des Rechenmodells hinsichtlich Anfallsfreiheit fünf oder zehn Jahre nach anteriorer Temporallappenresektion stimmen mit den Ergebnissen publizierter Studien überein. Für einen 35-jährigen Patienten mit gegebener Operationsindikation, der weiterhin nur medikamentös behandelt wird, ergab sich eine durchschnittliche Lebenserwartung
von 27,3 Jahren, verglichen mit 44,3 Jahren in der Allgemeinbevölkerung. Die anteriore Schläfenlappenresektion würde diese Lebenserwartung um 5,0 Jahre verlängern. Die qualitätsadjustierte Lebenserwartung würde durch den Eingriff um 7,5 Jahre (QALY) verlängert. Für den 35-jährigen Epilepsiepatienten würde die Resektion des epileptogenen Areals laut Modell die Zahl der anfallsfreien
Jahre um 15,0 erhöhen und über die gesamte Lebensspanne gesehen das absolute Risiko, an einer anfallsbedingten Ursache zu sterben, um 15 Prozent reduzieren. Verschiedene Sensitivitätsanalysen unter alternativen Annahmen wiesen die Ergebnisse zugunsten der chirurgischen Therapie bei geeigneten Patienten als robust aus. Ein Vorteil für das konservative
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Vorgehen in der supponierten Situation liess sich rechnerisch nur bei völlig unplausiblen Annahmen (z.B. jährliche Wahrscheinlichkeit einer Anfallsremission unter Medikamenten von über 79%) darstellen.
Diskussion Aus ihren Berechnungen ziehen die Autoren Schlüsse für das Vorgehen unter realen Bedingungen. So wundern sie sich, dass auch heute nur eine Minderheit der Epilepsiepatienten zur Abklärung der Operationsindikation überwiesen würden und dass, wo dies geschehe, schon oft 20 Krankheitsjahre verstrichen seien, obwohl über die Effektivität der Temporallappenresektion schon in den Fünfzigerjahren publiziert wurde. Gerade bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen bedeute eine derartige Verzögerung eine möglicherweise signifikante Beeinträchtigung der psychosozialen Entwicklung.
Schon vor einigen Jahren publizierte Expertenmeinungen stellten fest, dass die anteriore Temporallappenresektion bei zwei Dritteln der dafür geeigneten, pharmakotherapieresistenten Patienten zur Freiheit von invalidisierenden Anfällen führt und die Gesamtlebensqualität verbessert. Die hier vorgelegten Berechnungen bestätigen dies und deuten darauf hin, dass der Eingriff auch die absolute und die qualitätsbereinigte Lebenserwartung in einem Ausmass verlängert, das etwa jenes aufgrund von Bypassoperation oder Betablockerverschreibung nach Herzinfarkt deutlich übertrifft. Warum besteht dennoch eine Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Überweisungsverhalten und den Empfehlungen? Die Autoren diskutieren hier eine übervorsichtige Haltung der Neurologen, welche die Wahrscheinlichkeit chirurgischer Komplikationen – nicht selten nach anekdotischer eigener Erfahrung mit operierten Epilepsiepatienten – über-
schätzen oder auch Zweifel an einer
günstigen Beeinflussung der Langzeit-
mortalität haben.
Zu ihren eigenen Berechnungen merken
die Studienautoren an, dass sie nicht
besser sein könnten als die Daten, auf
die sie sich stützen und diese stammten
überwiegend aus nicht randomisierten
Studien mit ihren bekannten Mängeln.
Dennoch plädieren sie abschliessend für
einen häufigeren Einsatz der Epilepsie-
chirurgie bei für dieses Vorgehen geeig-
neten Patienten mit pharmakotherapie-
resistenter Epilepsie.
■
Hyunmi Choi et al.: Epilepsy surgery for pharmacoresistant temporal lobe epilepsy. A decision analysis. JAMA 2008; 300 (No. 21): 2497—2505.
Interessenlage: Die Studie wurde durch öffentliche Gelder der US-amerikanischen National Institutes of Health ermöglicht. Die Autoren deklarieren keine finanziellen Interessenkonflikte.
Halid Bas
ADDENDUM
«Klimakterische Beschwerden», ARS MEDICI 1/09, Seiten 21 bis 24.
Wir wurden von Leserseite darauf aufmerksam gemacht, dass die Literaturhinweise zum Beitrag «Klimakterische Beschwerden — gibt es Alternativen zum Hormonersatz?» offenbar durch ein Versehen am angegebenen Ort elektronisch nicht abrufbar waren. Wir publizieren die Angaben daher an dieser Stelle und bitten um Nachsicht.
Literatur: 1. BfArM:http://www.bfarm.de/cln_030/nn_1160684/SharedDocs/Publikationen/DE/
Pharmakovigilanz/stufenplverf/kava_bescheid_071221,templateId=raw,property=publication File.pdf/kava_bescheid_071221.pdf 2. Cassidy A, Albertazzi P, Nielsen I et al. (2006) Critical review of health effects of soyabean phyto-oestrogens in post-menopausal women. Proc Nutr Soc 65: 76—92. 3. Cheema D, Coomarasamy A, El-Toukhy T (2007) Non-hormonal therapy of post-menopausal vasomotor symptoms: a structured evidence-based review. Archives of Gynecology and Obstetrics 276: 463—469. 4. Cheng G et al. (2007) Isoflavone treatment for acute menopausal symptoms. Menopause 14: 468—473. 5. Geller SE, Studee L (2005) Botanical and dietary supplements for menopausal symptoms: what works, what does not. J Womens Healt 14 (7): 634—649. 6. Huntley AL et al. (2004) Soy for the treatment of perimenopausal symptoms — a systematic review. Maturitas 47: 1—9. 7. Huntley AL, Ernst E (2003) A systemic review of herbal medicinal products for the treatment of menopausal symptoms. Menopause 10: 465—476. 8. Huntley AL, Ernst E (2003) A systematic review of the safety of black cohosh. Menopause 10: 58—64. 9. Krebs EE, Ensrud KE, MacDonald R, Wilt TJ (2004) Phytoestrogens for treatment of menopausal symptoms: a systematic review. Obstet Gynecol 104 (4): 824—836. 10. Kronenberg F et al. (2002) Complementary and alternative medicine for menopausal symptoms: a review of randomised, controlled trials. Ann Int Med 137: 805—813.
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