Transkript
GESUNDHEITSPOLITIK • GESUNDHEITSPOLITIK
ILLUSTRATION: WA-DESIGN
Die fast unendliche Geschichte der Selbstdispensation in Zürich
Die nun endlich auch in den Grossstädten Zürich und Winterthur bald erlaubte direkte Medikamentenabgabe durch den behandelnden Arzt gibt Anlass, die seit Jahren geforderte Selbstdispensation näher zu beleuchten.
von Dr. med. Hans-Ulrich Kull*
W as das Stimmvolk des Kantons Zürich mehrheitlich schon seit Jahrzehnten für richtig befand, aber mit allen möglich politischjuristischen Einsprachen und Vorstössen vor allem von Apothekerseite durchkreuzt werden sollte, ist nun im September 2011 vom Bundesgericht zugunsten der Ärzte für rechtens erklärt worden: Auch in den Städten Zürich und Winterthur soll es möglich sein, was schon immer in den übrigen Gemeinden des Kantons selbstverständlich war. Der Patient soll frei bestimmen können, wo und bei wem er seine Medikamente beziehen will, ob bei seinem behandelnden Arzt (= direkte Medikamentenabgabe, DMA) oder in einer Apotheke oder auf einem anderen Bezugsweg. Der Patient ist
schliesslich mündig, und liberale Lösungen werden in allen Belangen angestrebt.
Ein geschichtlicher Rückblick Im Jahr 1982 (!) wurde im Kanton Zürich die Vorlage für eine Revision des Gesundheitsgesetzes von den Stimmbürgern verworfen. Dieses neue Gesetz hätte den Patienten verbieten sollen, ihre Medikamente wie bisher auch bei ihrem Hausarzt zu beziehen. In den Jahren 2001 und 2003 wurde nochmals vergeblich versucht, die ärztliche Medikamentenabgabe in einer Schutzzone von 500 m rund um eine Apotheke oder bei Bestehen einer 24-Stunden-Apotheke zu verbieten, was in den grossen Städten des Kantons zu einem generellen Verbot
SPRECHSTUNDE 4/11
6
• GESUNDHEITSPOLITIK • GESUNDHEITSPOLITIK
geführt hätte. Auch dieses Ansinnen lehnten die Stimmbürger deutlich ab. Aber bereits 2008 kam es zur dritten, massgeblichen Abstimmung: Diesmal ging es um die von Ärzteseite lancierte Initiative, endlich auch in den benachteiligten Städten Zürich und Winterthur die direkte Medikamentenabgabe zuzulassen. Mehrheitlich stimmten die Stimmberechtigten des Kantons Zürich für diese Initiative. Aber auch gegen diesen eindeutigen Entscheid wurde bisher erfolgreich Beschwerde geführt – bis vor Bundesgericht.
Nach langem Warten
ist der Weg nun frei Neben der inzwischen widerlegten Behauptung, die Stimmbürger seien im Vorfeld der Abstimmung von der Zürcher Regierung irregeführt worden, wurde zudem geltend gemacht, für die direkte Medikamentenabgabe sei der Arzt gar nicht qualifiziert. Das Bundesgericht hat nun nach langem Warten endlich den Weg geebnet, dass dem mehrfach geäusserten Volkswillen Genüge getan werden kann. Es ist erfreulich, dass die Bundesrichter die haltlosen Einwände ablehnten und die kantonale Entscheidungsbefugnis in gesundheitspolitischen Fragen bestätigten. Demnach entspricht die neue Regelung von Zürich auch geltendem Bundesrecht (KVG). Deshalb informierte die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich nun am 13.10.11 in einer Medienmitteilung darüber, dass die notwendige Anpassung des Gesundheitsgesetzes per 1. Januar 2012 in Kraft gesetzt werde. Allerdings wird bereits vom Apothekerverband erwogen, dagegen erneut zu rekurrieren … Es ist natürlich noch offen, wie viele Ärzte in den beiden Grossstädten von der zukünftigen Möglichkeit Gebrauch machen werden, bei der Gesundheitsdirektion Antrag auf Führung einer eigenen Praxisapotheke zu stellen. Unbestritten ist aber, dass die meisten Patienten den Direktbezug ihrer Medikamente bei ihrem Arzt ohne zusätzlichen Gang in eine Apotheke oder ohne den unpersönlichen Weg der Lieferung per
Post (Medikamentenversand) schätzen werden.
Ein Blick über die Zürcher Kantonsgrenze hinaus Auch wenn vor allem die Westschweizer Kantone (und im deutschsprachigen Raum einzig die Kantone Aargau und Basel-Stadt) die Selbstdispensation nicht kennen, ist unser Land in dieser Frage übrigens kein exotischer Einzelfall. Es gibt rund um uns zahlreiche Länder, die eine Medikamentenabgabe durch Ärzte ebenso für selbstverständlich halten. Kantonale Entscheidungen haben zudem in den letzten Jahren diese patientengerechte Lösung immer gutgeheissen (so die Kantone AI 1998, SZ 2002, SO 3003, BL 2005, LU 2005, AR 2007). Denn gemäss Medizinalberufegesetz (MedBG Art 8c) sind auch Absolventen und Absolventinnen der Humanmedizin fähig, mit Arzneimitteln fach- und umweltgerecht sowie wirtschaftlich umzugehen. Der vielfach geäusserte, aber nie belegte Vorwurf der falschen Anreize ist ebenso nicht stichhaltig, er kann klar widerlegt werden. Die Selbstdispensation ist gemäss Krankenkassenstatistik kostengünstiger. Dies ist auch verständlich: Selbstdispensierende Ärzte kennen die Kosten ihrer bevorzugten Medikamente besser, sie geben durchschnittlich mehr Generika ab als die rezeptierenden Kollegen, bei Interaktionen von mehreren gleichzeitig verschriebenen Arzneimitteln erkennen sie die Nebenwirkungen rascher, und sie achten vor allem bei ihren Patienten mehr auf die Compliance (Einnahmetreue). Sie sind auch besser befähigt, einen Medikamentenmissbrauch rechtzeitig zu erkennen.
Vorteile der DMA und die Pflichten des Arztes Die direkte ärztliche Medikamentenabgabe ist für die Patienten somit einfacher, für die Versorgungssicherheit vorteilhaft, sie ist diskret und nachgewiesenermassen kostengünstig. Die DMA ist ein Teil der integrierten ärztlichen Beratung und Behandlung. Des-
halb beurteilten in einer repräsentativen Umfrage 90 Prozent der Patienten die Selbstdispensation als bequem und komfortabel, und 79 Prozent befürworteten eine allgemeine Liberalisierung im Medikamentenbezug. Der Patient soll selber wählen können, wo er seine Arzneien beziehen will. Das Führen einer Praxisapotheke verlangt vom Arzt aber einen entsprechenden Einsatz: Die Auflagen der Gesundheitsdirektion (Kantonsapotheke) für die Bewilligung einer Praxisapotheke sind gross, und die Qualitätssicherung in der ärztlichen Privatapotheke wird laufend überprüft. Die Lagerhaltung ist personalintensiv, und die Fortbildung des Praxisinhabers und der verantwortlichen MPA in Medikamentenfragen (inklusive Interaktionen und Nebenwirkungen der Arzneimittel) ist zeit- und kostenintensiv. Gleichwohl lohnt sich dieser Aufwand vor allem zugunsten der Kranken. Es muss immer wieder betont werden: Die DMA ist nicht ein blosser «Medikamentenhandel», das heisst eine zusätzliche Einnahmequelle für den Arzt. Die Kantone mit Selbstdispensation haben mehrheitlich einen niedrigeren TarmedTaxpunkt. Es wird sogar eine neue margenunabhängige Abgeltung diskutiert. Die DMA ist vielmehr primär eine Dienstleistung für den Patienten. Sie hat sich deshalb in den Kantonen mit Selbstdispensation sehr bewährt, und sie wird sich in Zukunft auch in den Grossstädten Winterthur und Zürich und in den Kantonen, die die direkte ärztliche Medikamentenabgabe erst auf ihrer Wunschliste haben, schliesslich durchsetzen. Der Patient wird Nutzen davon ziehen.
*Dr. med. Hans-Ulrich Kull, Küsnacht, ist Präsident der APA (Ärzte mit Patientenapotheke).
7 SPRECHSTUNDE 4/11