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SERIE: MEDIZIN & RECHT
Was macht ein gutes Gutachten aus: Qualität und Struktur ärztlicher Gutachten
TEIL 2
Die Qualität medizinischer Gutachten wird von der Öffentlichkeit und den Medien immer wieder in Zweifel gezogen. Der Psychiater Dr. Gerhard Ebner ist Präsident der Swiss Insurance Medicine (SIM). Er war bei der Erstellung der versicherungspsychiatrischen Qualitätsleitlinien in den Jahren 2012 und 2016 federführend beteiligt. Im Interview gibt er Auskunft über die Bedeutung medizinischer Gutachten und darüber, welche Voraussetzungen ein beweisfähiges Gutachten zu erfüllen hat.
Psychiatrie + Neurologie: Was ist ein (versicherungs-) medizinisches Gutachten? Dr. Gerhard Ebner: Ein Gutachten ist ein begründetes Urteil eines Sachverständigen über eine Zweifelsfrage. Damit ein Gutachten begründet ist, muss es gemäss Bundesgericht umfassend sein, auf allseitigen Untersuchungen beruhen, die geklagten Beschwerden der zu begutachtenden Person berücksichtigen, auf der Kenntnis der Anamnese beruhen, und die medizinische Beurteilung muss einleuchtend sein. Ein Gutachten dient dann als Beweismittel vor Gericht. Prinzipiell geht es beim medizinischen Gutachten darum, medizinische Begriffe in Rechtsbegriffe zu übersetzen; der Gutachter leistet damit eine wichtige Übersetzungsfunktion zuhanden des Rechtsanwenders, respektive der Rechtsprechung.
Welche Formen gibt es? Gerhard Ebner: Unterschieden wird zum einen nach dem rechtlichen Hintergrund des Auftrages; so gibt es medizinische Gutachten im Straf-, Zivil-, Sozialversicherungs-, Verkehrsrechtrecht und so weiter. Des Weiteren unterscheiden wir nach Fachgebieten, aus denen medizinische Gutachten hervorgehen, beispielsweise psychiatrische, rheumatologische, neurologische Gutachten und so weiter. Ferner werden Gutachten vom Auftragsverhältnis her unterschieden: Bei einem versicherungsexternen Gutachten erteilt ein Gericht oder eine Versicherung einem aussenstehenden Gutachter den Auftrag; versicherungsinterne Gutachten werden von intern angestellten Ärzten einer Versicherung erstellt; ein Parteigutachten wird meist von der versicherten Person in Auftrag gegeben, unabhängig davon, ob die Versicherung den Gutachter akzeptiert oder nicht. Generell gilt: Die Wertigkeit eines Gutachtens ist eine Funktion der Unabhängigkeit eines Gutachters – höchste Wertigkeit haben von einem Gericht in Auftrag gegebene Gutachten – und des Ausmasses, der Komplexität des Berichtes. Höchste Wertigkeit inhaltlich hat ein umfassendes, gemäss Gutachtenleitlinien erstelltes Gutachten mit Untersuchung der versicherten Person.
Gerhard Ebner
Welche Qualifikation muss ein medizinischer Gutachter mitbringen? Gerhard Ebner: Entscheidend ist die Fachkompetenz! Es bedarf eines Facharzttitels und juristischer Grundkenntnisse im entsprechenden Rechtsgebiet. Die Unabhängigkeit des Gutachters gegenüber dem Begutachtenden muss gewährleistet sein. Eine verbindliche Ausbildung zum Erstellen von versicherungsmedizinischen Gutachten fehlt in der Schweiz. Allerdings werden auf Anfrage der FMH seit der Gründung der Swiss Insurance Medicine (SIM) im Jahr 2003 durch diese Gutachtenweiterbildungen mit dem Abschluss «zertifizierter medizinischer Gutachter SIM» durchgeführt. Die Referenten stammen aus den juristischen und medizinischen Fakultäten der Universitäten, aus Arzt- und Anwaltspraxen, aus Begutachtungsinstitutionen oder aus Versicherungen. Alle fünf Jahre erfolgt eine Rezertifizierung. Diese gewährleistet den Nachweis einer kontinuierlichen Fortbildung. Seit 2017 wird zudem ein weiteres Modul angeboten, das sehr praxisnah aufgebaut ist und sich – unter Einsatz von Videosequenzen und weiterer technischer Mittel – der konkreten Begutachtung verschiedener Krankheiten, Unfallfolgen und Begutachtungssituationen widmet.
Wie wird bei der Begutachtung vorgegangen? Gerhard Ebner: Die einzelnen Fachgesellschaften der Psychiatrie/Psychotherapie, Orthopädie, Rheumatologie
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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haben Leitlinien zu den Kriterien der jeweiligen Gutachten erstellt; die Neurologen sind gerade dabei, solche zu erstellen. Diese Leitlinien sind einem Manual vergleichbar und zeigen, wie bei einer Begutachtung ganz konkret vorgegangen werden soll; man sollte nur im begründeten Einzelfall davon abweichen.
ungerechtfertigten Vorwürfen die Anwesenheit einer zum Versicherten gleichgeschlechtlichen, von ihm unabhängigen Person sinnvoll sein. Bei Menschen mit schweren Einschränkungen ist allenfalls die Anwesenheit einer medizinischen Fachperson oder sonst einer Betreuungsperson notwendig.
Was macht ein gutes Gutachten aus? Welche Unterlagen gehören dazu? Gerhard Ebner: Ein Gutachten stützt sich auf die vorliegende Aktenlage, auf zusätzliche Unterlagen, auf weitere Beweismittel, auf die Befragung und die persönliche Untersuchung, auf die erhobenen Untersuchungsbefunde, auf Zusatzbefunde wie Labor, Bildgebung, Neurophysiologie und so weiter sowei auf die Auskünfte von Drittpersonen. Nach Vorliegen der vollständigen Unterlagen, der erhobenen Befunde, Zusatzbefunde und Auskünfte kann die versicherungsmedizinische Beurteilung erfolgen. Dazu gehören neben der Diagnosenennung die Beurteilung der Prognose und allfällig zu ergreifende medizinische oder berufliche Massnahmen, die Beurteilung, ob die geklagten Beschwerden und Einschränkungen Diskrepanzen aufweisen und ob diese gemäss dem jeweiligen medizinischen Fachgebiet plausibel sind. Ganz zentral ist abschliessend die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in der bisherigen und in einer dem Leiden optimal angepassten Tätigkeit, konkret geht es darum, wie viele Stunden eine Person pro Tag, pro Woche mit welcher Leistungsfähigkeit welche Tätigkeiten ausführen kann, und wo sie seit wann in welchem Ausmass aus welchen Gründen wie lange darin eingeschränkt sein wird.
Welche Sprache ist geeignet? Gerhard Ebner: Ein Gutachten sollte so formuliert sein, dass es «der interessierte Laie» verstehen kann.
Wer haftet bei fehlenden Infos oder Angaben? Gerhard Ebner: Wird wissentlich ein falsches Gutachten erstellt, ist das in erster Linie von strafrechtlicher Relevanz. Haftungsfälle dürften selten sein. Liegen nachweislich Mängel vor, dann erfolgen im Allgemeinen Zusatzfragen an den Gutachter, oder es wird ein neuer Gutachter zur Klärung beauftragt.
Wie kann man Simulanten herausfiltern? Ist das überhaupt möglich? Gerhard Ebner: «Simulant» ist meines Erachtens nach nicht das richtige Wort. Simulation heisst, dass jemand bewusst alle Symptome vorsätzlich vortäuscht. Das kommt erstens nicht sehr häufig vor, zudem ist es dem Gutachter im Allgemeinen nicht möglich, zu belegen, dass alle geklagten Beschwerden und Einschränkungen vorgetäuscht werden; oftmals handelt es sich bei solchen Fällen um ein Mischbild. Prinzipiell wird bei jeder Begutachtung überprüft, ob die geklagten Beschwerden und Einschränkungen konsistent und plausibel sind.
Kann ein Gutachten auch verweigert und ein Sachverständiger abgelehnt werden? Gerhard Ebner: Wird das Gutachten verweigert oder wird nicht kooperiert, ist dies in erster Linie dem Auftraggeber zu melden. Im Einzelfall ist dann abzuklären, ob dieses Verhalten krankheitsbedingt ist. Bei der Ablehnung eines Gutachters sind im Allgemeinen Gründe vom Versicherten respektive von dessen Rechtsvertreter zu benennen.
Sind die Anforderungen an die Begutachtung gestiegen? Gerhard Ebner: In der Psychiatrie sind diese immens gestiegen. Nur schon bei einem Vergleich der psychiatrischen Gutachtenleitlinien aus den Jahren 2004–2012– 2016 lassen sich die massiv gestiegenen Anforderungen für diesem Zeitraum gut erkennen. Heute muss nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung in jedem Einzelfall ausführlich anhand vorgegebener Indikatoren eine gutachtliche Beurteilung vorgenommen werden. Auch die Bedeutung von Zusatzuntersuchungen – in der Psychiatrie sind es unter anderem Laboranalysen und psychodiagnostische Verfahren – hat zugenommen.
Was passiert, wenn der Betroffene nicht kooperiert? Gerhard Ebner: Wenn der Explorand nicht kooperiert und eine Begutachtung lege artis nicht möglich ist, muss der Auftraggeber informiert werden. Dieser entscheidet über das weitere Vorgehen.
Wer übernimmt die Kosten?
Gerhard Ebner: Die Kosten werden im Allgemeinen
vom Auftraggeber übernommen; bei Gerichtsgutach-
ten werden sie je nach Situation auf die unterlegene
Partei abgewälzt.
G
Braucht es manchmal auch die Anwesenheit einer weiteren Person bei der persönlichen Begutachtung? Gerhard Ebner: Im Regelfall wird die Untersuchung ohne die Anwesenheit von Drittpersonen durchgeführt. Der Gutachter kann im Einzelfall entscheiden, ob die Anwesenheit einer Drittperson erforderlich ist. Bei Fremdsprachigen muss hingegen niederschwellig ein Dolmetscher hinzugezogen werden. Bei körperlichen Untersuchungen kann zum Schutz des Gutachters vor
Korrespondenzadresse: Dr. med. Gerhard Ebner M.H.A. Facharzt für Psychiatrie
und Psychotherapie (CH), Mitglied FMH Seefeldstrasse 25, 8008 Zürich
Sehr geehrter Herr Dr. Ebner, wir bedanken uns für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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