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FORTBILDUNG
Primäre Hirntumore und Hirnmetastasen
Das Wichtigste der neuen NICE-Guideline für die Hausarztpraxis
Im Juli hat das britische National Institute for Health and Care Excellence (NICE) eine neue Guideline zum Management von Gliomen, Meningeomen und Hirnmetastasen bei Erwachsenen herausgegeben. Die Empfehlungen betreffen unter anderem die längerfristige Nachbetreuung von Patienten mit solchen Erkrankungen und die potenziellen Komplikationen der Behandlung – Aspekte, die auch für Ärzte in der Grundversorgung von Bedeutung sind.
BMJ
Obwohl primäre Hirntumore nur 3 Prozent aller Krebsleiden ausmachen, sind sie für die meisten verlorenen Lebensjahre verantwortlich. Die Überlebenschancen mit malignen Hirntumoren bleiben trotz Verbesserungen bei Diagnostik und Therapie schlecht. In der Primärversorgung sind Hirnmetastasen die häufigsten intrakraniellen Tumore, aber auch die anderen Formen von Hirntumoren kommen zur Beobachtung. Die NICE-Guideline beschäftigt sich mit dem Management von Gliomen, Meningeomen und Hirnmetastasen, die je nach Histologie, molekularer Stratifizierung, Grad und
MERKSÄTZE
Bei einem Hirntumor variiert der Verlauf beträchtlich in Abhängigkeit vom Grad, von der Lokalisation sowie weiteren Faktoren, sodass die Lebenserwartung nach Therapie Wochen (rezidivierendes Glioblastom) bis Jahrzehnte (komplett reseziertes, niedriggradiges Gliom) betragen kann.
Auswirkungen des Tumors und Nebenwirkungen der Therapie können sich noch Monate oder Jahre nach der Behandlung äussern und Verhalten, Kognition und Persönlichkeit beeinflussen.
Jede Veränderung bei neurokognitiven Befunden und Symptomen ist als potenzielles Tumorrezidiv zu betrachten und erfordert die prompte Überweisung zur Abklärung.
Für Patienten mit Hirntumoren muss sichergestellt sein, dass eine medizinische Fachkraft in der Krankengeschichte benannt ist, welche die Verantwortung für die Koordination der medizinischen und sozialdienstlichen Unterstützung wahrnimmt.
Zu jedem Zeitpunkt im Krankheitsverlauf ist zu überprüfen, ob eine neurologische Rehabilitationsabklärung körperlicher, kognitiver und emotionaler Funktionen angezeigt ist.
Lokalisation sehr unterschiedliche mediane Überlebenszeiten und damit auch differenzierte Betreuungsanforderungen mit sich bringen (Tabelle 1); einige neue Empfehlungen wurden formuliert (Kasten). Für Nichtspezialisten am relevantesten sind vier Bereiche der NICE-Guideline: L Betreuungsbedürfnisse von Hirntumorpatienten L Beurteilung der Neurorehabilitation L späte Auswirkungen der Tumore L Zeitpläne für Routinenachkontrollen.
Betreuungsbedürfnisse von Hirntumorpatienten
Die Guideline betont, wie wichtig die Betreuungsbedürfnisse sind, da Hirntumoren neben körperlicher Behinderung auch Auswirkungen auf Verhalten, Kognition und Persönlichkeit nach sich ziehen. Diese Aspekte müssen mit den Patienten und ihren Angehörigen oder Pflegepersonen besprochen werden. Dazu ist ausreichend Zeit zu reservieren. Um die komplexen medizinischen Behandlungsaspekte und das Netz sozialer Unterstützung zu koordinieren, ist eine Kontaktperson von herausragender Bedeutung, mit der Hirntumorpatienten ihre Anliegen besprechen können. Diese Kontaktperson (oft eine «clinical nurse») arbeitet gewöhnlich an einer sekundären Nachsorgeinstitution oder einem tertiären Neurozentrum. Oft sind Hirntumorpatienten mit der Art, wie ihnen Informationen vermittelt werden, unzufrieden. Die Informationsvermittlung soll auf eine realistische und empathische Weise erfolgen. Dazu können passende Formate (geschrieben oder gesprochen, Informationsblätter zum Mitnehmen) verwendet werden. Die Information soll jeweils zu angemessenen Zeitpunkten im Behandlungsverlauf erfolgen. Ergebnisse klinischer Untersuchungen, beispielsweise Berichte zu bildgebenden oder pathologischen Untersuchungen, sollen mit Patienten und Angehörigen so rasch wie möglich besprochen und erklärt werden. Schliesslich müssen die Patienten auch darüber informiert werden, dass sie die zuständige Strassenverkehrsbehörde von ihrem Hirntumor in Kenntnis setzen müssen, und dass dies Auswirkungen auf die Fahrerlaubnis haben kann.
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Betreuungsanforderungen bei Hirntumoren in Abhängigkeit vom medianen Überleben
Tumortyp Längeres Überleben: lebenslange Betreuung zur Erhaltung der Lebensqualität nötig
Meningeom Grad I oder II Gliom Grad I, IDH1-Mutation Oligodendrogliom Grad III, IDH1-Mutation, 1p19q-Kodeletion, ATRX-Mutation Begrenztere Lebenserwartung: rasche Abklärung und maximale Versorgung und Unterstützung ohne Verzögerung notwendig, um die Lebensqualität zu schützen
Meningeom Grad III Mittellinien-Gliom Grad I, H3-K27M-Mutation Gliom Grad II, IDH1-Wildtyp Astrozytom Grad III, IDH1-Mutation, 1p19q nicht kodeletiert, ATRX-Mutation Glioblastom Grad IV primär zentralnervöses Lymphom Rezidive der obigen Tumore Hirnmetastasen, für Operation oder stereotaktische Radiotherapie nicht geeignet Hirnmetastasen, für Operation oder stereotaktische Radiotherapie geeignet
medianes Überleben
≥ 10 Jahre 5–10 Jahre 5–10 Jahre
1–5 Jahre 1–2 Jahre 1–3 Jahre 1–3 Jahre 1–2 Jahre 1–2 Jahre 6–12 Monate 2–6 Monate 6–18 Monate
IDH1 = Isocitratdehydrogenase 1
Kasten:
Was in der Guideline neu ist
L Es wird empfohlen, die Tumorfeldtherapie (kontinuierliche Applikation elektrischer Felder an der Kopfhaut) bei Glioblastomen nicht anzubieten, da sie unter konventionellen Kriterien nicht kosteneffektiv ist.
L Nach Resektion von einer bis drei Hirnmetastasen wird die Bestrahlung der Operationshöhle empfohlen. L Der Einsatz von 5-Aminolävulinsäure (5-ALA) wird empfohlen, wenn das multidisziplinäre Team es als möglich erachtet, dass das ganze
anreichernde Gliom reseziert werden kann.
Beurteilung der Neurorehabilitation
Überweisungen zur neurologischen Rehabilitation werden meist von Spezialisten veranlasst, können aber auch durch Grundversorger erfolgen. Dieser Schritt sollte bei Diagnosestellung sowie in jedem weiteren Stadium des Krankheitsverlaufs in Betracht gezogen werden. Dabei geht es jeweils um eine Beurteilung körperlicher, kognitiver und emotionaler Funktionen. Patienten und Angehörigen sollen über die ambulanten oder stationären Möglichkeiten und Therapieaussichten der Neurorehabilitation aufgeklärt werden.
Späte Auswirkungen der Tumore
Die Behandlung von Hirntumoren kann noch nach Monaten oder Jahren Nebenwirkungen haben. Zu unterscheiden ist zwischen direkten Therapiefolgen sowie vier- bis sechswöchigen Nachwirkungen und den Spätfolgen (Tabelle 2). Bei Abschluss der Behandlung soll das individuelle Risiko für Spätfolgen bestimmt und mit den Betroffenen besprochen werden. Die Guideline erwähnt, auch anhand von Beispielen, wie diesem Risiko begegnet werden kann. Nach Schädelbestrahlung soll ein gesunder Lebensstil mit körperlichem Training, gesunder Ernährung und Rauchverzicht propagiert werden, um das Hirnschlagrisiko zu senken. Bei Hirnschlag-
risiko sollen auch Blutdruck, HbA1c-Spiegel und Lipidprofil regelmässig überwacht werden. Mangels Konsens gibt die Guideline hierfür jedoch keinen Zeitplan vor. Bei Risiko für eine kognitive Abnahme kommt eine wiederholte neuropsychologische Abklärung in Betracht. Bei Risiko für Hör- oder Sehverlust ist eine Überweisung zum Spezialisten angezeigt. Besteht nach Bestrahlung ein Risiko für Hypophyseninsuffizienz, müssen die endokrinen Funktionen regelmässig kontrolliert werden.
Zeitpläne für Routinenachkontrollen
Das Guidelinekomitee diskutierte die vielen Aufgaben der Nachsorge, so auch die proaktive Unterstützung von Hirntumorpatienten zur frühen Erkennung von Rezidiven, berücksichtigte dabei aber auch die potenziellen negativen Auswirkungen von zu vielen Krankenhauskontrollen und Bildgebungen. Bei den Nachsorgeprogrammen gibt es in der Praxis grosse Unterschiede. Die Guideline schlägt für Patienten mit Gliomen je nach Tumorgrad unterschiedliche Zeitpläne für die Nachkontrollen vor, ebenso für Meningeome. Bei zufällig entdeckten, asymptomatischen Meningeomen wird eine erste Kontrollbildgebung nach zwölf Monaten empfohlen. Stellt sich keine Veränderung dar, kann auf Abwarten entschieden
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Tabelle 2:
Beispiele für frühe und späte Nebenwirkungen der Hirntumortherapie
Therapie Radiotherapie
Chemotherapie Temozolomid, Lomustin, Procarbazin, Vincristin Procarbazin (selten: Vincristin) Procarbazin, Vincristin Temozolomid Procarbazin Lomustin, Carmustin Vincristin
frühe Effekte während der Behandlung und 4–6 Wochen nach Radiotherapie Müdigkeit Haarverlust (vorübergehend oder bleibend) Kopfweh und Nausea
Dermatitis
Otitis externa oder media Geschmacksveränderungen Appetitmangel
späte Effekte Monate bis Jahre nach Behandlung
Hypophyseninsuffizienz kognitive Abnahme Strahlennekrose (Anfälle, fokale Defizite): v.a. > 3 Jahre nach Therapie SMART (stroke-like migraine attacks): > 4 Jahre nach Therapie Stroke (Strahlenvaskulitis): > 4 Jahre nach Therapie Sekundärmalignom: 1% in 10–20 Jahren Kavernom: > 5 Jahre nach Therapie Katarakte: > 10 Jahre nach Therapie Infertilität (kraniospinale Bestrahlung oder Hypophyseninsuffizienz) Hörverlust
Knochenmarkssuppression
Infertilität
Epilepsie Neuropathie Hirnnervenstörungen autonome Neuropathie Nausea, Erbrechen, Kopfweh, Müdigkeit, Obstipation, Exanthem Nausea, Erbrechen, Benommenheit
Hyponatriämie
viele Monate bis zur Rückbildung
Infertilität pulmonale Toxizität
oder eine nächste Bildgebung nach fünf Jahren empfohlen werden. Bei Hirnmetastasen sollte nach Therapie während des ersten Jahres alle drei Monate eine klinische Untersuchung erfolgen, ab dem zweiten Jahr alle vier bis sechs Monate, danach jährlich. Als wichtigste Empfehlung für Nichtspezialisten betont die Guideline, dass neurologische Befunde und Symptome immer als potenzielle Signale für ein Rezidiv zu betrachten sind, und dass in dieser Situation das ursprüngliche Behandlungszentrum kontaktiert werden muss. Für gewisse Aspekte sah sich das Guidelinekomitee mangels ausreichender Evidenz hoher Qualität ausserstande, Empfehlungen abzugeben. Dazu gehört die Antwort auf die auch für Grundversorger wichtige Frage, ob eine Früherkennung von
Rezidiven nach Behandlung das Gesamtüberleben und den
Krankheitsverlauf bei molekular stratifiziertem Gliom ver-
bessert. Hier besteht Forschungsbedarf, um herauszuarbei-
ten, ab welchem Punkt der Schaden der höheren Patienten-
belastung und des gesteigerten Abklärungsbedarfs den Nut-
zen übersteigt.
L
Halid Bas
Quelle: Bates A et al.: Primary and metastatic brain tumours in adults: summary of NICE guidance. BMJ 2018;362:k2924. Die vollständige Guideline ist verfügbar unter: www.nice.org.uk/guidance/ng99
Interessenlage: Einige Autoren der Guideline deklarieren Forschungstätigkeiten in Studien, die von Pharmafirmen gesponsert wurden und Therapien bei Glioblastomen und anderen Tumorarten galten.
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