Transkript
Schwerpunkt
Chronischer Schmerz ohne Befund?
Jeder Schmerz hat eine emotionale Komponente
Noch immer scheint es in der Vorstellung von Ärzten wie Patienten und ihren Familien fest verankert: Wenn sich keine organische Ursache für chronischen Schmerz findet, ist er «psychisch». Doch diese Entweder-oder-Vorstellung führt diagnostisch wie therapeutisch in die Irre. Welche Wege zu einer Lösung führen können und was es mit dem bio-psycho-sozialen Modell der Schmerzwahrnehmung auf sich hat, wurde am SGP-Kongress in Lausanne in mehreren Vorträgen thematisiert.
PD Dr. med. Eva Bergsträsser Dr. med. Alain Deppen
F alsche Vorstellungen zur Natur chronischer Schmerzen sind weitverbreitet, auch bei Ärztinnen und Ärzten. Noch immer glauben viele, dass chronischer Schmerz letztlich doch eine organische Ursache habe, man müsse halt nur intensiv genug danach suchen. Falls sich aber partout doch nichts findet, sei der Schmerz eben «nur» psychisch, in anderen Worten: eingebildet und irgendwie nicht wirklich berechtigt. Und nicht zuletzt: Der Schmerz muss weg, und zwar um jeden Preis! Die Praxis zeigt indes, dass man mit der dichotomen Vorstellung «entweder organisch oder psychisch» nicht weiterkommt, und das Gleiche gilt für das Therapieziel, einen chronischen Schmerz komplett verschwinden zu lassen.
Chronische Bauchschmerzen wegen «nichts»?
Chronisch rezidivierende Bauchschmerzen sind, neben Kopfschmerzen, das häufigste Schmerzsyndrom bei Kindern und Jugendlichen. Bei neun von zehn Patienten findet sich dafür keine organische Ursache. Nicht selten bekommen die Betroffenen dann zu hören, dass da «nichts» sei und sie sich keine Sorgen zu machen brauchten. Statt zu beruhigen, erwecken derartige Statements bei Kindern und Eltern jedoch eher den Eindruck, man nehme sie nicht ernst. Häufig wird auch, nicht zuletzt um den Erwartungen von Patienten und Eltern gerecht zu werden, eine symptomatische Therapie verordnet, welche die Schmerzen aber meist nicht oder nur vorübergehend lindert. Dann geht das somatische Abklären von vorne los. Das Kind wird eventuell an diverse Fachärzte verwiesen, um dies oder das noch abzuklären – oder die Eltern gehen gleich zu einem anderen Kinderarzt, damit dieser noch einmal «richtig» nachschaut, was da sein könnte. Doch auch der neue Arzt wird höchstwahrscheinlich «nichts» finden …
Funktionelle Bauchschmerzen sind nicht harmlos
Die Weichen für den Weg in diesen Teufelskreis werden früh gestellt. Die Familien kommen mit der Hoffnung auf
eine ungefährliche, gut behandelbare organische Ursache für die chronischen Bauchschmerzen ihres Kindes in die Praxis. «Nichts» zu finden, stösst auf Unverständnis. Für viele Ärzte ist der negative Befund hingegen eine gute Nachricht, denn funktionelle Bauchschmerzen gelten aus der Sicht vieler Pädiater nicht als therapiebedürftig, weil die Prognose gut sei. Doch die Prognose sei gar nicht so rosig, gab Dr. med. Christian Wüthrich, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik für Kinderheilkunde, Inselspital Bern, zu bedenken: Bei 20 bis 25 Prozent der Betroffenen persistieren diese Bauchschmerzen bis ins Erwachsenenalter, und zehn Jahre nach der Erstdiagnose klagt ein Viertel der Betroffenen über Schmerzsyndrome an anderen Körperstellen. Auch sei bekannt, dass bei Kindern mit funktionellen Bauchschmerzen häufiger mit funktionellen Beschwerden und/oder psychischen Auffälligkeiten im Erwachsenenalter zu rechnen sei, meist handelt es sich dann um Angststörungen und Depressionen.
Wege aus der kommunikativen Sackgasse
Als «kommunikative Sackgasse» bezeichnete Wüthrich die Situation, in welcher Familien und Ärzte aneinander vorbeireden, weil beide Seiten unterschiedliche Krankheitsmodelle haben. Ein für beide Seiten akzeptables Krankheitsmodell zu schaffen, sei die Aufgabe der Pädiater, so Wüthrich. Die typischen Bauchschmerzkinder ohne organischen Befund sind nicht psychisch krank: Vielmehr haben sie und/oder ihr Umfeld besondere Eigenschaften. Das bio-psycho-soziale Modell des chronischen Schmerzes bildet diese Eigenschaften ab. Es bedeutet im Wesentlichen, dass jeder Schmerz immer drei Komponenten hat: eine biologische, eine psychologische und eine umfeldbedingte. Die Balance der drei Komponenten ist in jedem Fall individuell unterschiedlich, aber alle drei sind stets vorhanden. Das bio-psycho-soziale Modell ist aber mehr als eine Klassifikation verschiedener Faktoren, es eröffnet auch
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Abbildung: Integriertes Krankheitsmodell bei chronischen, funktionellen Bauchschmerzen; potenzielle Angriffspunkte für die Behandlung sind kursiv und unterstrichen markiert (Grafik nach C. Wüthrich, Workshop am SGP-Jahreskongress in Lausanne 2018).
neue therapeutische Ansätze. Die Biologie, wie etwa eine erniedrigte Schmerzschwelle oder eine erhöhte nozizeptive Empfindlichkeit, lässt sich zwar kaum oder gar nicht beeinflussen, aber auf eine ganze Reihe anderer Faktoren kann man sehr wohl Einfluss nehmen, zum Beispiel auf die Angst, die Wahrnehmung oder den Umgang mit körperlichen und psychischen Beschwerden (Abbildung).
Und wie erklärt man das den Betroffenen?
Allen Beteiligten muss klar vermittelt werden, dass der Schmerz als solcher als Tatsache akzeptiert und nicht infrage gestellt wird. «Der Schmerz ist auf jeden Fall echt»,
Tabelle:
Akuter und chronischer Schmerz
akuter Schmerz
chronischer Schmerz
Dauer
kurz
lang anhaltend (3–6 Monate)
oder rezidivierend
Ursache
bekannt und behandelbar
unbekannt, multifaktoriell
(Verletzung, Entzündung)
oder bekannt, aber nicht behandelbar
Funktion
Alarmfunktion
keine Alarmfunktion
Intervention
Ruhe, Behandlung
Verminderung von Schmerztriggern
der Ursache, Schmerz-
medikamente
Therapieziel
Schmerzfreiheit
Schmerzverminderung, Verbesserung
des Lebens mit dem Schmerz,
weniger Behinderung
psychische Faktoren Hoffung auf Heilung,
Resignation, Hilf- und
Kontrollierbarkeit
Hoffnungslosigkeit
nach Kröner-Herwig B et al. (Hrsg.): Schmerzpsychotherapie. Springer-Verlag 2017
betonte PD Dr. med. Eva Bergsträsser, Leitende Ärztin und Co-Leiterin Schmerzsprechstunde am UniversitätsKinderspital Zürich, in ihrem Vortrag an der Session «La douleur». Sie benannte die drei typischen Fallstricke beim Umgang mit funktionellen Schmerzen: Fallstrick Nr. 1: «Ich finde keine organische Ursache, also ist der Schmerz ausschliesslich psychisch bedingt.» Hierbei wird der Einfluss biologischer Faktoren negiert, wie beispielsweise eine erhöhte nozizeptive Sensibilität. Fallstrick Nr. 2: «Ich finde eine organische Ursache, darum ist der Schmerz ausschliesslich körperlich bedingt.» Es ist eine verständliche Annahme, dass etwas derart Schmerzhaftes eine organische Ursache haben müsse. Je mehr Abklärungen durchgeführt werden, umso wahrscheinlicher wird es jedoch, dass klinisch irrelevante Befunde als Schmerzursache fehlgedeutet werden, während die psychische Komponente ausgeblendet wird. Fallstrick Nr. 3: «Der Schmerz muss um jeden Preis verschwinden.» Damit wird die gesamte Kraft von Patient und Familie auf diesen einen Punkt konzentriert, während andere wichtige Aspekte nicht beachtet werden. Dem Schmerz wird zu viel Beachtung zuteil, was ihn letztlich noch steigern kann. Um allen Komponenten des Schmerzes gerecht zu werden und Fehlschlüsse von vorneherein auszuräumen, sprechen am ersten Termin eines Patienten in der Schmerzsprechstunde in Zürich grundsätzlich eine Ärztin und eine Psychologin gemeinsam mit den Betroffenen. Die Funktion der Psychologin ist als «Schmerzcoach» definiert, denn es geht primär nicht um das Aufdecken irgendwelcher psychischer Defizite, sondern darum, dem Patienten dabei zu helfen, besser mit seinem Schmerz umzugehen. Vor dem ersten Termin muss ein ausführlicher Fragebogen ausgefüllt und eingeschickt werden, worin weit mehr als die üblichen Punkte abgefragt werden, unter anderem eben auch, welche Vorstellungen die Betroffenen über die Ursache und Behandlungsziele ihrer Schmerzen haben, das sogenannte Krankheitskonzept. Vielen Patienten und ihren Eltern werde erst in der Schmerzsprechstunde klar, dass chronischer und akuter Schmerz zwei völlig unterschiedliche Dinge seien (Tabelle), erläuterte Bergsträsser. Sie schilderte ein Beispiel für eine kindgerechte Visualisierung des chronischen Schmerzes: «Deine Nervenfasern lassen die Schmerzsignale wie auf einer Autobahn ganz schnell in dein Gehirn sausen, und wir müssen nun versuchen, diese Autobahn wieder zu einem schmalen Pfad zurückzubauen.» Christian Wüthrich nannte ähnliche Punkte in Bezug auf den Umgang mit Kindern, die unter chronischen, funktionellen Bauchschmerzen leiden: Welches Krankheitsverständnis hat die Familie? Was wissen die Betroffenen tatsächlich über die Natur chronischer Schmerzen? Ist ihnen bewusst, wie seelische Faktoren das körperliche Empfinden direkt beeinflussen? Es ist bekannt, dass ständig eine Vielzahl neuronaler Signale vom Bauch zum Zentralnervensystem laufen, in der Regel, ohne dass diese bewusst wahrgenommen werden. Anders sieht es bei typischen Bauchschmerzkindern aus: Sie nehmen diese Reize war, haben also sozusagen «überempfindliche Nerven». Derart kommuni-
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ziert, bewegt man sich weg von dem Bild, dass etwas Defektes repariert werden müsse. Diese neue Einstellung kann den Umgang mit solchen Schmerzen verbessern. Um die Zusammenhänge zwischen Gefühlen und körperlichen Empfindungen für die Betroffenen fassbarer zu machen, kann man ihnen wohlbekannte Begriffe aus der Alltagssprache ins Gedächtnis zurückrufen: Da hüpft das Herz vor Freude, die Angst schnürt die Kehle zu, oder etwas schlägt einem auf den Magen. Jeder kennt diese Phänomene, aber Bauchschmerzkinder sind besonders empfänglich dafür; sie reagieren sensibler auf Alltagsstress als andere Kinder. Auch sollte man den Fokus der Familie mithilfe hypothetischer Fragen weg von den somatischen Erklärungsversuchen lenken, empfahl Wüthrich. Diese Fragen können allgemeiner Natur sein (angenommen, wir finden keine organische Erklärung, was könnte es aus Ihrer Sicht sonst sein?), eine Bemerkung aufgreifen (Sie haben gesagt, dass Ihr Kind Probleme in der Schule hat, sollten wir das einmal besprechen, auch unabhängig von den Bauchschmerzen?) oder sich ganz direkt an das Kind wenden (wenn die Bauchschmerzen reden könnten, was würden sie uns sagen?).
Tiefenpsychologische Deutung chronischer Schmerzen
Die Physiotherapie als weiteren möglichen Zugang zu den Kindern nannte Dr. med. Alain Deppen, Service Universitaire de Psychiatrie de l’Enfant et de l’Adolescent (SUPEA) am CHUV Lausanne. Wenn Schmerzpatienten psychologische Hilfe ablehnen, sollte man zuerst den Körper behandeln, denn manche Therapeuten könnten dem Patienten damit helfen, Schritt für Schritt Körper und Geist wieder in Einklang zu bringen. Deppen erinnerte in seinem Vortrag an der Session «La douleur» überdies an verschiedene tiefenpsychologische Hypothesen zur Natur chronischer, funktioneller Schmerzen. So werden derartige Schmerzen auch als «Fähre verdrängter Erinnerungen» interpretiert, die frühere Traumata ans Licht bringen. Manche Autoren deuten sie auch als Schutz des Ich, das heisst, die somatischen Schmerzen überdecken den eigentlich psychischen Schmerz und entziehen diesen dem Bewusstsein. Doch wo immer die Wurzeln chronischer, funktioneller Schmerzen im Einzelfall auch liegen mögen, Alain Deppen fasste eine ganz wesentliche Botschaft für Ärzte und Psychologen in einem Satz zusammen: «Ärzte sollten nicht vergessen, über die psychologische Dimension des Schmerzes nachzudenken, aber Psychotherapeuten sollten auch die körperliche Dimension bedenken.»
Renate Bonifer
Quellen: Workshop KIS Kinderärzte Schweiz mit Dr. med. Christian Wüthrich «Chronische Bauchschmerzen aus kinderpsychiatrischer Sicht: Wie verstehen? Wie vermitteln? Wie begleiten?» Session «La douleur» mit den Referaten von Dr. med. Alain Deppen «Le point de vue du pédopsychiatre» und PD Dr. med. Eva Bergsträsser «Chronische Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen – ein interprofessionelles Vorgehen ist gefragt». SGP-Jahrestagung in Lausanne, 24. bis 25. Mai 2018.
BUCHTIPPS
Michael Dobe und Boris Zernikow Rote Karte für den Schmerz Wie Kinder und ihre Eltern aus dem Teufelskreis chronischer Schmerzen ausbrechen Taschenbuch, 190 Seiten, 4. Aufl. 2016, Verlag Carl Auer, ISBN 978-3-8497-0130-7; Fr. 27.90. Ein Buch für Kinder und Eltern. Die Autoren erklären in verständlicher Weise, wie Kinder, Jugendliche und Eltern den Schmerzen aktiv begegnen können. Auf der Basis ihrer Erfahrungen aus der ambulanten und stationären Kinderschmerztherapie zeigen die Autoren Reaktionsmöglichkeiten bei akuten Schmerzzuständen auf. Viele der Tricks und Verhaltensweisen sind einfach umzusetzen; sie erfordern manchmal ein wenig Mut und Geduld, aber keine aufwendigen Hilfsmittel oder Instrumente.
Martina Gross und Petra Warschburger Chronische Bauchschmerzen im Kindesalter Das Programm «Stopp den Schmerz mit Happy-Pingu» Taschenbuch, 83 Seiten, mit CD-ROM, 1. Aufl. 2011, Hogrefe-Verlag, ISBN 978-3-8017-2379-8, Fr. 59.90, auch als E-Book erhältlich (EAN 978-3-8409-2379-1; Fr. 47.90). Das Manual für Therapeuten beschreibt die Durchführung des Programms zur Behandlung von Kindern mit chronischen Bauchschmerzen im Alter von 7 bis 12 Jahren (Grundlagen, Einzel- oder Gruppentraining). Die Kinder sollen lernen, eigenverantwortlich mit ihren Schmerzen umzugehen. Ausführlich wird zudem die Arbeit mit den Eltern vorgestellt. Für die Durchführung des Trainings stehen Arbeitsmaterialien zur Verfügung, die direkt von der beiliegenden CD-ROM ausgedruckt werden können.
B. Kröner-Herwig, J. Frettlöh, R. Klinger, P. Nilges (Hrsg.) Schmerzpsychotherapie Grundlagen, Diagnostik, Krankheitsbilder, Behandlung gebunden, 780 Seiten, 8. Aufl. 2017, Springer-Verlag, ISBN 978-3-662-50511-3, Fr. 93.90, auch als E-Book erhältlich (EAN 978-3-662-50512-0; Fr. 70.90). Etabliertes Standardwerk für die schmerzpsychotherapeutische Aus- und Weiterbildung sowie als Nachschlagewerk für Psychologen und Ärzte. Von den Ausbildungskommissionen der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. und der Deutschen Gesellschaft für psychologische Schmerztherapie und -forschung empfohlen.
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