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ILLUSTRATION: WA-DESIGN
Weltweite ärztliche Medikamentenabgabe
Obwohl die direkte Medikamentenabgabe durch den Arzt von den Patienten geschätzt wird, empfahl alt Bundesrat Pascal Couchepin kurz vor seinem Rücktritt, dieses System abzuschaffen: Es sei zu teuer und die Schweiz zudem praktisch das weltweit einzige Land, in dem die Selbstdispensation erlaubt ist.
Die direkte ärztliche Medikamentenabgabe wird gerne als helvetischer Anachronismus dargestellt. Doch ein Blick über die Landesgrenze hinaus zeigt ein anderes Bild: In zahlreichen Ländern erhalten die Patienten ihre Medikamente direkt vom Arzt, oft zwar nicht ausschliesslich, doch sind die Ärzte meist ein wichtiger Abgabekanal. Angesichts der weltweiten Verbreitung und Wertschätzung kann man sich fragen, ob nicht der Umweg des Medikamentenbezugs über die Apotheke einen Anachronismus darstellt.
Bei Weitem nicht nur
die Schweiz … Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Ländern, welche die direkte ärztliche Medikamentenabgabe kennen. Sie ist sowohl in Industriestaaten wie auch in Schwellen- und Entwicklungsländern verbreitet. In Europa kennen ausser der Schweiz zehn weitere Länder dieses System. In den USA wiederum war die Medikamentenabgabe durch Ärzte historisch stark verwurzelt. Dies änderte sich in den Fünfzigerjahren, als die Abgabe durch eine erdrückende Vielzahl von gesetzlichen Abgabevorschriften erschwert wurde. Doch heute steigt der Anteil selbstdispensierender Ärzte wieder, und
einer Umfrage von 2008 zufolge bevorzugen es 3 von 4 US-Bürgern, Medikamente direkt beim Hausarzt zu beziehen statt über eine Apotheke. Auf dem afrikanischen Kontinent gibt es die direkte Medikamentenabgabe in Kenia, Nigeria, Namibia und Südafrika. Für 50 Millionen Südafrikaner ist sie seit jeher die Grundlage der Medikamentenversorgung. Rund 11 000 Ärzte geben dort Medikamente an die Bevölkerung ab, die 3350 Apotheken in diesem riesigen Land könnten diese Aufgabe gar nicht bewältigen. In Indien, wo 1,2 Milliarden Menschen leben, haben alle Hausärzte das uneingeschränkte Recht auf Medikamentenabgabe. Aus Kostengründen werden in erster Linie Generika eingesetzt. Und im bevölkerungsreichsten Land China wie auch in Japan beziehen Patienten ihre Medikamente sowohl beim Arzt wie auch in Apotheken. In Hongkong, Singapur sowie Malaysia und Brunei ist seit jeher etabliert, dass die Patienten ihre Medikamente direkt vom Arzt erhalten.
Unzimperlicher
Verteilungskampf Während es in Entwicklungsländern das Ziel ist, den Menschen überhaupt den Zugang zu erschwinglichen Medikamenten zu
ermöglichen, ist die Medikamentenabgabe in den Industrieländern marktpolitisch gesteuert. Die Aufteilung der Vertriebskanäle ist ein wirtschaftlicher Zankapfel zwischen Ärzten und Apothekern. Dass bei diesem Verteilungskampf recht unzimperlich vorgegangen wird, müssen wir leider auch in der Schweiz erfahren. So wird immer wieder behauptet, die direkte Medikamentenabgabe schaffe einen Anreiz für Ärzte, mehr Medikamente zu verschreiben als notwendig. Und dies führe zu höheren Kosten im Gesundheitswesen. Doch Unwahrheiten werden nicht wahr, indem man sie unentwegt wiederholt: Die Erhebungen von santésuisse (Verband der Krankenversicherer) belegen seit Jahren, dass in Kantonen mit Selbstdispensation die Medikamentenkosten tiefer liegen als in Kantonen, in denen Patienten Medikamente mit einem Rezept über die Apotheke beziehen müssen. Weiter zeigt eine internationale Erhebung der Medikamentenkosten von 2007 für die Schweiz Ausgaben von umgerechnet 454 US-Dollar pro Kopf. Zum Vergleich die Medikamentenausgaben in unseren Nachbarländern: Österreich 500, Italien 518, Deutschland 542, Frankreich 588 Dollar. Welches Anreizsystem hat denn hier dafür gesorgt, dass die Medikamentenkosten bei Rezeptur 10 bis 30 Prozent höher sind?
Dr. med. Peter Müller ist Facharzt für Innere Medizin FMH und lebt in Horgen (ZH).
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