Transkript
FORTBILDUNG
Medikamentencheck nicht vergessen!
Vorgehen bei Mangelernährung im Alter
Kau- und Schluckbeschwerden, Schmeck- und Riechstörung, schlechter Zahnstatus – all diese Faktoren führen beim älteren Menschen häufig zu einer schleichenden und unbemerkten Mangelernährung. Auch viele Medikamente beeinflussen den Ernährungsstatus, weil sie Übelkeit und Appetitlosigkeit verursachen. Der Arzt sollte hier gezielt nach Interferenzen suchen – für die Patienten ist das von erheblicher prognostischer Relevanz.
Ilse I. W. Gehrke
Die Zusammenhänge zwischen Appetitlosigkeit und Medikamentengabe sind leider selten so evident wie in dem beschriebenen Fall (vgl. Kasuistik). In der Praxis wichtig ist die Wahrnehmung eines Mangelernährungsrisikos durch den Arzt.
Mangelernährungsrisiko erfassen
Am Anfang der diagnostischen Kette gilt es, das Risiko eines Mangelernährungszustands zu erfassen. Die Frage nach dem Gewichtsverlust in der Vergangenheit ist wesentlich. Dies stellt Patienten häufig schon vor grosse Probleme. Die regelmässige Gewichtskontrolle bei Älteren im Rahmen eines Sprechstundenbesuchs (etwa halbjährlich) ist bei mobilen Patienten wenig aufwendig und kann im Praxisalltag valide Daten liefern. Auch den Flüssigkeitshaushalt sollte man kontrollieren, nicht nur bei herzinsuffizienten Patienten. Zudem ist der Body-Mass-Index (BMI) wichtig. Wie erwähnt, steigt der prognostisch günstige «ideale» BMI mit dem Alter an (1). Fragen nach dem Appetit und der Verzehrmenge, die sich auch an Angehörige richten können, geben bei entsprechendem Risiko frühzeitige Hinweise auf ein Ernährungsproblem, unter Umständen bevor ein Gewichtsverlust eintritt. Restriktive Ernährungsempfehlungen, etwa bei Altersdiabetes, sind möglichst zu vermeiden (11).
MERKSÄTZE
Es sollte ein einfaches Therapieschema angewendet werden nach dem Motto: So viel wie nötig, so wenig wie möglich.
«Start low, go slow – but go» – Beginn mit niedriger Dosis, dann titrieren.
Eine sorgfältige Aufklärung, auch der Angehörigen, ist zur Verbesserung der Adhärenz erforderlich.
Es sollten regelmässige Medikationschecks erfolgen, welche auch die nicht verschreibungspflichtige Selbstmedikation erfassen.
Auch Untermedikation (Osteoporose, Vorhofflimmern) sollte vermieden werden.
Kasten 1:
Malnutrition Universal Screening Tool (MUST)
1. BMI: Klinischer Eindruck – dünn, akzeptables Gewicht, übergewichtig. Offensichtliche Auszehrung (sehr dünn) und Adipositas (starkes Übergewicht)
2. Ungeplanter Gewichtsverlust: Kleidung oder Schmuck sind zu weit geworden (Gewichtsabnahme). Verminderte Nahrungsaufnahme in der Vorgeschichte, reduzierter Appetit oder Probleme beim Schlucken über 3 bis 6 Monate und Grunderkrankung oder psychosoziale/körperliche Behinderungen, die zu Gewichtsverlust führen können.
3. Akute Krankheitseffekte: Akut krank und keine Nahrungsaufnahme beziehungsweise keine erwartete Nahrungsaufnahme für > 5 Tage.
Quelle: Malnutrition Advisory Group, A Standing Committee of BAPEN, erstveröffentlicht 2004, http://www.bapen.org.uk
Für die weitergehende Diagnostik sind unterschiedliche Screeninginstrumente etabliert. Im ambulanten Umfeld wird häufig der MUST empfohlen (Kasten 1) (9), für alte Patienten die Kurzform des MNA (Kasten 2) (2, 3). Falls sich Hinweise auf eine evidente oder drohende Ernährungsproblematik ergeben, ist die Ursachensuche im Hinblick auf eine aktive therapeutische Intervention der nächste Schritt. Dabei wird einem weiten Spektrum von Erkrankungen der Verdauungsorgane, Allgemeinerkrankungen, Tumorleiden, aber auch psychischen, sozialen oder wirtschaftlichen Faktoren nachgegangen (Kasten 3). Hier spielen die Evaluation der Medikamente und eventuelle Nebenwirkungen beziehungsweise Interferenzen eine besondere Rolle.
Interventionskonzepte
Mangelernährung ist bei betagten Patienten häufig ein multifaktorielles Geschehen, das ein individuelles Interventionskonzept erfordert. Denn geriatrische Patienten können einen eingetretenen Substanzverlust kaum ausgleichen. Muskelab-
708
ARS MEDICI 17 | 2018
FORTBILDUNG
bau, körperliche Schwäche, Verlust von Mobilität und Sturzneigung mit Immobilisierung können einen unumkehrbaren Teufelskreis bilden. Der Arzt sollte frühzeitig ein Beratungs- und Ernährungsangebot an die Betroffenen und deren Bezugspersonen richten. Hier gilt es, zunächst auf konventionellem Weg die Energieund Nährstoffzufuhr zu verbessern, etwa durch Anreicherung der Kost, bevor man zu Supplementen greift. Bestandteil der Beratung ist auch immer die Bewegungsförderung (11). Basale Prinzipien der Ernährungsintervention sind: L Ursachen behandeln L keine Diät L pflegerische Intervention L Anpassen des Nahrungsangebots L Anreicherung der Mahlzeiten L individualisierte Ernährungsintervention (verbessert bei
Mangelernährung[-srisiko] den Ernährungsstatus, den Krankheitsverlauf und die Lebensqualität) L kombinierte Interventionen (z.B. Ernährung und Bewegung).
Medikamente und Ernährung
Die Zahl der Medikamente, die den Magen-Darm-Trakt und den Appetit beeinflussen, ist gross. Viele Substanzgruppen, die in der Selbstmedikation üblich sind, führen zu Übelkeit und Erbrechen. Auch Geschmacksstörungen werden durch mehr Arzneimittel ausgelöst, als man vielleicht erwartet (Tabelle). Zu beachten ist hier etwa der Einfluss der Z-Substanzen auf den Geschmack. Mit der häufigen Indikation zur Antikoagulation, besonders bei betagten Patienten, ist mit den direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) eine Substanzgruppe in die Medikation eingezogen, die in einem relevanten Anteil Übelkeit und weitere Magen-Darm-Beschwerden auslöst. Unter Vitamin-KAntagonisten tritt dieses Problem erheblich weniger auf. Dass Antibiotika die verschiedensten gastrointestinalen Nebenwirkungen erzeugen, ist bekannt. Zu beachten ist hierbei vor allem das Risiko für eine Darmfloraüberwucherung durch Clostridium difficile bei älteren Patienten – selbst bei nur kurzzeitigem ambulantem Antibiotikagebrauch. Säureblocker in der Begleitmedikation erhöhen dieses Risiko erheblich. Und wird auch bei jedem Patienten, den man mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) antidepressiv behandelt, die appetitmindernde Wirkung dieser Substanzen bedacht? Mirtazapin kann hier bei Risikopatienten eine Alternative sein. Die Behandlung der chronischen Schmerzsyndrome betrifft beim Hausarzt mehr als die Hälfte der Patienten im Alter jenseits von 60 Jahren (10). Weder die peripher wirksamen, eigentlich nur kurzzeitig einzusetzenden Schmerzmittel noch die heute so beliebten Opioide sind bezüglich der Ernährungssituation neutral. Obwohl inzwischen allgemein akzeptiert ist, dass nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils bei geriatrischen Patienten als obsolet gelten, sind auch die zentral wirksamen Analgetika nicht problemfrei. Diese Probleme können erst nach Klinikentlassung in der ambulanten Praxis evident werden. Die Dosisfindung schon in der Klinik abzuschliessen, ist schwierig. Im Einzelfall kann nach Behandlung einer akuten
Schmerzexazerbation der Dauerbedarf niedriger sein als erwartet. Übelkeit und Appetitlosigkeit sind typisch, Übersedierung und Atemdepression können ebenfalls auftreten. Auch wenn die Auswirkungen weniger gravierend sind, kann es bei multimorbiden Patienten rasch zu funktionellen Einbrüchen kommen. Hier sind die Medikation und insbesondere die Frage der Dosisreduktion regelmässig zu prüfen.
Multimedikation
Ein regelmässiger Medikationscheck sollte bei Risikopatienten auch die nicht verschreibungspflichtige Selbstmedikation konsequent und akribisch erfassen. Das Problem der pflanzlichen und daher als natürlich und harmlos angesehenen Johanniskrautpräparate, die jedoch ein grosses Interaktionspotenzial haben, ist inzwischen fast legendär. Generell empfiehlt sich, vor allem bei Multimedikation, ein sehr kritischer Umgang mit allen Substanzen. Die Indikationen sind regelmässig auf Fortbestehen zu prüfen, Änderungen und Ergänzungen möglichst moderat einschleichend vorzunehmen. Empfohlen werden immer wieder auch Ausschleich- und Absetzversuche, vor allem, wenn sich der Verdacht auf unerwartete Nebenwirkungen ergibt. Das trifft
Kasten 2:
Mini Nutritional Assessment (MNA) Kurzform (2)
A Hat der Patient während der letzten drei Monate:
wegen Appetitverlust, Verdauungsproblemen, Schwierigkeiten beim Kauen oder Schlucken
weniger gegessen?
0 = starke Abnahme der Nahrungsaufnahme 1 = leichte Abnahme der Nahrungsaufnahme 2 = keine Abnahme der Nahrungsaufnahme
B Gewichtsverlust in den letzten drei Monaten?
0 = Gewichtsverlust > 3 kg 1 = nicht bekannt 2 = Gewichtsverlust zwischen 1 und 3 kg 3 = kein Gewichtsverlust
C Mobilität?
0 = bettlägerig oder in einem Stuhl mobilisiert 1 = in der Lage, sich in der Wohnung zu bewegen 2 = verlässt die Wohnung
D Akute Krankheit oder psychischer Stress? 0 = ja 2 = nein
E Neuropsychologische Probleme?
0 = schwere Demenz oder Depression 1 = leichte Demenz 2 = keine psychologischen Probleme
F Body-Mass-Index (BMI)?
Körpergewicht (kg)/Körpergrösse2 (m2)
0 = BMI < 19 2 = 21 < BMI < 23 1 = 19 < BMI < 21 3 = BMI > 23
Auswertung
12–14 Punkte: 8–11 Punkte: 0–7 Punkte:
normaler Ernährungszustand Risiko für Mangelernährung Mangelernährung
ARS MEDICI 17 | 2018
709
FORTBILDUNG
Kasten 3:
Ursachen der Mangelernährung – «10D»
Dentition – Zahnstatus Dysgeusie – Schmeck- und Riechstörung Dysphagie – Schluckstörung Diät – Essgewohnheiten und -möglichkeiten Darm – Magen-/Darmerkrankung Drug – Medikamente Depression/Demenz Disease – chronische Erkrankungen Dysfunktion – soziale/funktionelle Gründe Don’t know – unbekannt
besonders auf Psychopharmaka und Sedativa ausserhalb validierter psychiatrischer Indikationen zu. Hilfreich in der Analyse von Medikationslisten sind die in Deutschland inzwischen breit etablierten Positiv- (FORTA [12]/STARTSTOPP [6]) oder Negativlisten (PRISCUS [7]). Auch wenn die Forderung nach einer reduzierten Substanzzahl auf zum Beispiel fünf Medikamente in der Altersmedizin Tradition hat: Die Revision von Medikamentenlisten sollte sich – nach Expertenmeinung – nicht nur mit der Über-, sondern auch mit der Untermedikation beschäftigen. Bestes Beispiel hierfür ist die Antikoagulation bei Vorhofflimmern, von der gerade die betagten Hochrisikopatienten besonders profitieren (4).
Ausblick
Geriatrische Patienten leiden häufig unter Mangelernährung und sind zudem mit umfänglichen Medikationskonzepten konfrontiert. Ernährungszustand, Prognose und Zahl der Medikamente korrelieren deutlich (5). Hinsichtlich Lebens-
Tabelle:
Geschmacksstörungen durch Medikamente
Mögliche Störung Gruppe
Xerostomie
Anticholinergika
Antihistaminika Antihypertensiva
Metallgeschmack Antibiotika
Hypogeusie Dysgeusie
Salzgeschmack
mod. nach (8)
Neuroleptika
Antikonvulsiva Gichtmittel Lipidsenker Schlafmittel Diuretika
Wirkstoffe (beispielhaft) Atropin, Scopolamin, Butylscopolamin Loratadin, Cetirizin ACE-Hemmer, Diltiazem, Dipyridamol Ampicillin, Fluorchinolone, Makrolide, Tetracycline, Metronidazol Chlorpromazin, Perphenazin, Amitriptylin Carbamazepin, Phenytoin Allopurinol, Colchicin Clofibrat, Statine Zopiclon 16–32% Amilorid, Hydrochlorothiazid, Spironolacton
qualität und Funktionalität gilt: Chronische Erkrankungen
dürfen nicht zu belastenden Symptomen führen. Die Lebens-
zeitverlängerung tritt mit zunehmendem Alter und funktio-
neller Einschränkung eher in den Hintergrund zugunsten der
Symptomlinderung und der Verbesserung der Lebensquali-
tät. Daran muss sich auch der Medikamenteneinsatz messen
lassen. Wenn der Arzt die Mangelernährung bei betagteren
Patienten auch hinsichtlich einer drohenden funktionellen
Verschlechterung in den Fokus rückt und gleichzeitig die Ri-
siken der inadäquaten Medikation beachtet, kann er den un-
günstigen Einfluss der Multimedikation auf den Ernährungs-
zustand gering halten.
L
Dr. med. Ilse I.W. Gehrke Klinik für Innere Medizin IV Schwarzwald-Baar Klinikum VS D-78166 Donaueschingen
Interessenlage: Die Autorin hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 7/2018. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
Literatur: 1. Corrada MM et al.: Association of body mass index and weight change
with all-cause mortality in the elderly. Am J Epidemiol 2006; 163: 938–949. 2. Kaiser MJ et al.: Validation of the Mini Nutritional Assessment shortform (MNA-SF): a practical tool for identification of nutritional status. J Nutr Health Aging 2009; 13: 782–788. 3. Kaiser MJ et al.: Frequency of malnutrition in older adults: a multinational perspective using the mini nutritional assessment. J Am Geriatr Soc 2010; 58: 1734–1738. 4. Kirchhoff P et al.: ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation developed in collaboration with EACTS. Eur Heart J 2016; 37: 2893–2962. 5. Jyrkkä J et al.: Polypharmacy status as an indicator of mortality in an elderly population. Drugs Aging 2009; 26: 1039–1048. 6. Hamilton H et al.: Potentially inappropriate medications defined by STOPP criteria and the risk of adverse drug events in older hospitalized patients. Arch Intern Med 2011; 171: 1013–1019. 7. Holt S et al.: Potentially inappropriate medication in the elderly: the PRISCUS list. Dtsch Arztebl Int 2010; 107: 543–551 8. Podlogar J, Smolich M: Dysgeusien und Xerostomie durch Arzneimittel. Dtsch Apotheker Zeitung 2016; 156: 54–57. 9. Stratton RJ et al.: Malnutrition Universal Screening Tool-predicts mortality and length of hospital stay in acutely ill elderly. Br J Nutr 2006; 95: 325–330. 10. Thomas E et al.: The prevalence of pain and pain interference in a general population of older adults: cross-sectional findings from the North Staffordshire Osteoarthritis Project (NorStOP). Pain 2004; 110: 361–368. 11. Volkert D et al.: S3-Leitlinie Klinische Ernährung in der Geriatrie. Aktuel Ernährungsmed 2013; 38: e1–e48. 12. Wehling M et al.: (2016) VALFORTA: a randomised trial to validate the FORTA (Fit fOR The Aged) classification. Age Ageing 2016; 45: 262–267.
710
ARS MEDICI 17 | 2018