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Traumatologie im Alter
Geriatrische Patienten brauchen mehr als Frakturversorgung
BERICHT
Fotos: H.B.
Über Patientenfaktoren mit Einfluss auf den Verlauf nach Traumata im Alter, Rehabiliationsprogramme im Allgemeinen und bei der proximalen Femurfraktur sowie Charakteristika des Langzeitverlaufs nach Frakturen im Alter und die häufige und wichtige Angst vor Stürzen sprachen verschiedene Referenten am 4. Alterstraumatologiekongress in Regensdorf.
Dr. med. Juliane Barthel Dr. med. Andreas Wiedl
Erfassung von Mangelernährung
Traumatologiezentren registrieren einen steigenden Anteil geriatrischer Patienten, und bei diesen liegt in 20 bis 50 Prozent eine Mangelernährung vor, berichtete Dr. med. Juliane Barthel, Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Marburg. Ein mangelhafter Ernährungszustand ist ein wichtiger Kofaktor für Komplikationen und Sterblichkeitsraten, aber bis heute gibt es keine übereinstimmenden Diagnosekriterien. Zwar existieren die ESPEN-Leitlinien für die Ernährung von chirurgischen und polymorbiden medizinischen Patienten (1, 2), eine Guideline für die Ernährung geriatrischer Traumapatienten fehlt jedoch. Zwei Umfragen an jeweils 571 deutschen Kliniken für Unfallchirurgie/Orthopädie belegen immerhin, dass die Problematik 2016 im Vergleich zu 2012 deutlich mehr Aufmerksamkeit erfährt. So wird der Ernährungszustand bei Aufnahme häufiger erfasst, und Ernährungsvisiten auf Intensivstationen erfolgen öfter.
Harnwegsinfektrate erwiesen sich als von der Immobilisation unabhängig. Postoperative Delire und gastrointestinale Infekte traten hingegen nach immobilisierenden Frakturen häufiger auf. «Ein Konzept der frühen Mobilisation mit Vollbelastung scheint die Rate der Pneumonien und Harnwegsinfekte auf ein mit der Rate nicht immobilisierender Frakturen vergleichbares Niveau zu bringen», kommentierte Wiedl.
«Während die Häufigkeit der proximalen Femurfraktur stagniert oder sogar rückläufig ist, nimmt diejenige von Frakturen an anderen Lokalisationen (Wirbelsäule, Becken, Kopf) zu.»
Das häufigere Auftreten von Deliren nach Frakturen der unteren Extremität erklärt sich durch die postoperative Immobilisation und den höheren Volumenverlust.
Frühe Mobilisation verhindert so manche Komplikation
Die postoperative Immobilisation ist eine allge-
mein anerkannte Ursache für Komplikationen
nach alterstraumatologischen Frakturen,
stellte Dr. med. Andreas Wiedl, Klinikum
Augsburg, fest. Als wichtigste Komplikationen
Prof. Clemens Becker
erwähnte er Pneumonien, Harnwegsinfekte, Delir, tiefe Beinvenenthrombose sowie Lun-
genembolie. In einer Erhebung wurden die Daten von gut
500 Patienten der alterstraumatologischen Einheit mit der
Fragestellung untersucht, wie sich die Komplikationsraten
nach streng immobilisierenden Frakturen der unteren Extre-
mität beziehungsweise nicht immobilisierenden Frakturen
der oberen Extremität verhielten. Nach versorgten Frakturen
der oberen Extremität erfolgte eine frühe funktionelle Kran-
kengymnastik, nach solchen der unteren Extremität eine
frühe postoperative Mobilisation. Die Pneumonie- und die
Weniger proximale Femurfrakturen, mehr Brüche an anderen Lokalisationen
Für den Stellenwert der frühen, möglichst intensiven und ausreichend langen Rehabilitation ist die Evidenz mit Ausnahme der proximalen Femurfraktur (3) unzureichend, sagte Prof. Clemens Becker, Zentrum für Alterstraumatologie, Robert-Bosch-Krankenhaus, Stuttgart. Wie Erhebungen an fast 60 000 alten Hüftfrakturpatienten in Deutschland zeigten, verringerte sich die Mortalitätsrate nach 30 Tagen bei Versorgung an Kliniken mit unfallchirurgisch-geriatrischer Kooperation im Vergleich zu Kliniken ohne ein formalisiertes geriatrisches Komanagement um mehr als ein Viertel. «Die Frührehabilitation in der Alterstraumatologie wirkt», kommentierte Becker die vorliegenden Studien, «und sie verbessert die Funktionalität und senkt die Mortalität» (4). Während die Häufigkeit der proximalen Femurfraktur stagniert oder sogar rückläufig ist, nimmt diejenige von Frakturen an anderen Lokalisationen (Hals-, Brust-, Lendenwirbelsäule,
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Becken, Kopf) zu. Bei diesen Knochenbrüchen ist jedoch der Stellenwert der Rehabilitation noch unzureichend untersucht.
Überleben nach proximaler Femurfraktur
Über die Ergebnisse einer prospektiven Studie
über fünf Jahre an 402 Patienten mit proxi-
maler Femurfraktur berichtete Dr. med. Tom
Dr. med. Tom Knauf
Knauf, Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Marburg.
Diese Fraktur gilt als der «typische» geriatri-
sche Knochenbruch und wird mit einem un-
günstigen Verlauf assoziiert. Bei Studienende
lagen die Daten von 98 Prozent der initial
rekrutierten Patienten vor. Das Ausgangsalter
hatte 81 ± 8 Jahre betragen, 72 Prozent waren
Frauen, 84 Prozent hatten selbstständig ge-
wohnt, die übrigen in Pflegeheimen. Nach fünf
Jahren lebten noch 38 Prozent der Patienten.
Sabrina Morell
Im ersten Jahr nach Frakturversorgungen betrug die Sterblichkeit 28 Prozent, in den Folge-
jahren jeweils 7 bis 9 Prozent. «Die Erhebung
bestätigt also die erhöhte Mortalität, insbe-
sondere im ersten Jahr», erklärte Knauf. Die
Mortalität ist aber nach Hüftfraktur auch
langfristig erhöht, beträgt doch die allgemeine
Sterblichkeit bei 80- bis 84-jährigen Frauen
5,9 Prozent und bei Männern 8,5 Prozent
pro Jahr. Die Langzeitmortalität wird durch
verschiedene Patientenfaktoren (Alter, Ge-
cand. med. Puck van der Vet schlecht, Komorbiditäten) beeinflusst. «Über ein Drittel überlebende Patienten nach fünf
Jahren rechtfertigen die aufwendige Behandlung», ist Knauf
überzeugt.
Langzeitverlauf nach Trauma im Alter
Die Auswirkung des zunehmenden Alters auf den Langzeitverlauf nach Traumata hat eine Studie am Kantonsspital Aarau untersucht, die Sabrina Morell, Study Nurse, Kantonsspital Aarau, zusammenfasste. Darin ergab sich, dass die Schwere des Traumas tiefere Korrelationen mit dem Langzeitüberleben aufweist als allgemein angenommen. Ein deutlicher Einfluss des Alters liess sich bei über 80-Jährigen nur
nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zu testen, um therapeutische Angebote machen zu können.
Von der Angst, wieder zu stürzen
Für ältere Patienten nach Fragilitätsfrakturen ist die Angst
vor Stürzen ein häufiges Problem, das mit hoher Morbidität
und Mortalität sowie hohen Kosten einhergeht, sagte cand.
med. Puck van der Vet, Kantonsspital Luzern. Dabei entwi-
ckelt sich ein Teufelskreis: Ein Sturz führt zur Angst vor Stür-
zen, was die Inaktivität fördert, die ihrerseits Muskeln und
Knochen schwächt und das Risiko für Stürze erhöht. In eine
Studie, welche die Auswirkung der Angst vor Stürzen heraus-
arbeiten sollte, fanden 411 Patienten aus der Innerschweiz
Eingang. Von ihnen erlitten innert eines Jahres 15,5 Prozent
einen oder mehrere Stürze, und 39,7 Prozent berichteten von
einer Angst vor Stürzen, erfasst anhand der Falls Efficacy
Scale (FES). Der FES-Score war bei Patienten, die einen Sturz
erlebten, höher als bei Patienten ohne Stürze. Die Lebensqua-
lität wurde durch die Angst vor Stürzen beeinträchtigt, be-
sonders deutlich bei Patienten, die einen Sturz erlitten hatten.
Ein hohes Niveau bei der Angst vor Stürzen korrelierte mit
einer grösseren Inaktivität. Trotz der gewichtigen Auswir-
kungen der Angst vor Stürzen nahmen nur wenige Patienten
an einem Sturzpräventionsprogramm teil. Solche Programme
zur Vorbeugung von Stürzen und Frakturen sollten bessere
Verbreitung finden, schloss van der Vet.
s
Halid Bas
Quellen: 4. Alterstraumatologiekongress in Regensdorf, 22. März 2018.
Referenzen: 1. Weimann A et al.: ESPEN guideline: Clinical nutrition in surgery. Clin Nutr
2017; 36(3): 623–650. 2. Gomes F et al.: ESPEN guidelines on nutritional support for polymorbid
internal medicine patients. Clin Nutr 2018; 37(1): 336–353. 3. Diong J et al.: Structured exercise improves mobility after hip fracture:
a meta-analysis with meta-regression. Br J Sports Med 2016; 50(6): 346– 355. 4. Bachmann S et al.: Inpatient rehabilitation specifically designed for geriatric patients: systematic review and meta-analysis of randomised controlled trials. BMJ 2010;340:c1718.
«Über ein Drittel überlebende Hüftfrakturpatienten nach fünf Jahren rechtfertigen die aufwendige Behandlung.»
für körperliche Aspekte nachweisen, für mentale Langzeitverläufe jedoch überhaupt nicht. «Im körperlichen Sinn ‹betagt› sind ältere Menschen somit erst über 80 Jahre», hielt Morell fest. Eine Indikation für Rehabilitationsbemühungen besteht in körperlicher Hinsicht mindestens bis zum Alter von 80 Jahren, in geistiger Hinsicht sogar unbegrenzt. Die Beobachtungen sollten Anreiz sein, Patienten schon früh
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