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SGAIM
Thromboseprophylaxe bei nicht chirurgischen Patienten
Systematisches Assessment hilfreich
Der Nutzen einer Thromboseprophylaxe ist unbestritten. Dass sie adäquat verabreicht bei gewissen Spitalpatienten sicher, wirksam und kosteneffektiv ist, haben mehrere Studien inzwischen bewiesen. Dennoch wird sie bei Risikopatienten zu selten angewendet. Ein Grund dafür könnte sein, dass es nicht immer eindeutig ist, welcher medizinische Spitalpatient davon profitieren kann.
Knapp zwei Drittel aller venösen Thromboembolien (VTE) stehen im Zusammenhang mit einer Hospitalisierung (1, 2). Ein stationärer Aufenthalt erhöht das VTE-Risiko um ein 8-Faches (1). Während bei unter 50-Jährigen die Inzidenz einer venösen Thromboembolie (VTE) noch bei < 1/1000 Personen liegt, steigt sie bei > 80-Jährigen auf das 6- bis 8Fache an (3). Das Risiko, im Spital eine tiefe Beinvenenthrombose oder eine Lungenembolie zu entwickeln, ist bei Patienten ohne Prophylaxe doppelt so hoch (0,8% bzw. 0,4%) wie bei jenen mit Prophylaxe (4). Gewisse Studien gingen davon aus, dass etwa 10 Prozent aller Todesfälle im Spital mit einer VTE zusammenhängen, berichtete Dr. Tobias Tritschler, Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital Bern, am SGAIM-Kongress in Basel.
Wer soll eine Prophylaxe erhalten?
Gemäss einer multizentrischen Kohortenstudie in der Schweiz (n = 1478) betreffend Risikostratifizierung für eine Lungenembolie mittels Genfer Risiko-Score erhielten nur 60 Prozent der Patienten mit Risiko eine Prophylaxe, während 48 Prozent der Low-risk-Patienten eine Prophylaxe erhielten, die nicht nötig war (5). Die Patienten zu identifizieren, die den grössten Nutzen von einer Thromboseprophylaxe hätten, vor allem bei nicht chirurgischen Patienten, sei nicht einfach, so Tritschler. Denn es gebe etliche VTE-Risikofaktoren bei medizinischen Patienten, doch ihre Gewichtung sei schwierig.
KURZ & BÜNDIG
Systematisches Risk-Assessment mit dem PADUA-Score ist hilfreich.
Patienten mit tiefem VTE-Risiko brauchen keine Thromboseprophylaxe.
Die aktuelle Evidenz unterstützt keine Thromboseprophylaxe über den Spitalaufenthalt hinaus.
Die Entscheidung, einem Patienten eine Thromboseprophylaxe zu verabreichen, hängt von seinen Risikofaktoren ab und kann mit einem Score wie zum Beispiel dem vom American College of Chest Physicians (ACCP) empfohlenen PADUA-Score (Tabelle) (6) evaluiert werden. Dass systematisch eingeführte Erinnerungen, ein Risk-Assessment durchzuführen, die Anzahl der Thromboseprophylaxeverschreibungen erhöhen und die symptomatischen VTE innerhalb von 3 Monaten senken können, zeigte ein Cochrane-Review über 13 Studien (n = 35 997) (7).
Britischer Weg
Weil die sozioökonomische Auswirkung von VTE eine relevante Grösse erreicht, ging man in England 2010 einen speziellen Weg. Um die Thromboseprophylaxequote zu erhöhen, war die Durchführung eines Risk Assessments erst mit einem finanziellen Anreiz verbunden, später dann dessen Unterlassung mit einer Busse. Die Risk-Assessment-Rate stieg in
PADUA-Score: Risk-Assessment für VTE
Risikofaktor
Punkte
Aktive Neoplasie
3
Vormalige VTE
3
Reduzierte Mobilität ≥ 3 Tage
3
Bekannte Thrombophilie
3
Zurückliegendes Trauma oder
Operation im letzten Monat
2
Alter ≥ 70 Jahre
1
Herz- oder Lungeninsuffizienz
1
Akuter Herzinfarkt oder
ischämischer Hirnschlag
1
Akute Infektion und/oder
rheumatologische Erkrankung Adipositas (BMI 30 kg/m2)
1 1
laufende Hormontherapie Auswertung:
1
hohes Risiko ≥ 4 Punkte (11% VTE innerhalb von 90 Tagen)
tiefes Risiko < 4 Punkte (0,4 % VTE innerhalb von 90 Tagen) Quelle: mod. nach (6) 30 CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | August 2018 SGAIM der Folge innerhalb von 4 Jahren um absolut 47 Prozent, das Gesamtvolumen der verabreichten Prophylaxe mit niedermolekularem Heparin stieg im Vergleich zur Periode vor dieser Initiative ebenfalls stärker an (8). In Spitälern, die eine Risk-Assessment-Rate von über 90 Prozent erreichten, zeigte sich eine signifikante Reduktion der VTE-Mortalität innerhalb von 90 Tagen (relatives Risiko: 0,85%; 95%-KI: 0,75– 0,96; p = 0,011) (9). Dass die medikamentöse VTE-Prophylaxe bei nicht chirurgischen Patienten etwas bringt, zeigen Zahlen aus der Guideline des American College of Chest Physicians (ACCP), wonach eine Prophylaxe eine Risikoreduktion für eine symptomatische tiefe Beinvenenthrombose (Risk Ratio [RR]: 0,47) und nicht tödliche Lungenembolie (RR: 0,61) bringt. Das Risiko für Blutungen steigt wie zu erwarten an (RR: 1,32), die Gesamtmortalität bleibt unverändert (RR: 0,97) (10). VTE-Prophylaxe über den Spitalaufenthalt hinaus? Weil gemäss einer Untersuchung das Thromboserisiko mit dem Spitalaustritt nicht verschwindet, sondern während der ersten 19 Tage am höchsten ist und danach kontinuierlich kleiner wird (11), scheint es ratsam, die Prophylaxe weiterzu- führen. Zwei Metaanalysen beurteilen jedoch den Nutzen als nicht grösser als das damit verursachte Blutungsrisiko (12, 13), ausser möglicherweise bei spezifischen Hochrisikopa- tienten. Ob diese davon einen Vorteil haben, wird jedoch zur- zeit untersucht, so Tritschler abschliessend. L Valérie Herzog Quelle: «Thromboseprophylaxe», Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine und Innere Medizin (SGAIM), 30. Mai bis 1. Juni 2018, Basel. Referenzen: 1. Heit JA et al.: Risk factors for deep vein thrombosis and pulmo- nary embolism: a population-based case-control study. Arch Intern Med 2000; 160; 809–815. 2. Spencer FA et al.: Venous thromboembolism in the outpatient setting. Arch Intern Med 2007; 167: 1471–1475. 3. Spencer FA et al.: Venous thromboembolism in the elderly. A community-based perspective. Thromb Haemost 2008; 100: 780–788. 4. Dentali F et al.: Meta-analysis: anticoagulant prophylaxis to prevent symptomatic venous thromboembolism in hospitalized medical patients. Ann Intern Med 2007; 146: 278–288. 5. Nendaz M et al.: Multicentre validation of the Geneva Risk Score for hospitalised medical patients at risk of venous thromboembolism. Explicit ASsessment of Thromboembolic RIsk and Prophylaxis for Medical PATients in SwitzErland (ESTIMATE). Thromb Haemost 2014; 111: 531–538. 6. Barbar S et al.: A risk assessment model for the identification of hospitalized medical patients at risk for venous thromboembolism: the Padua Prediction Score. J Thromb Haemost 2010; 8: 2450–2457. 7. Kahn SR et al.: Interventions for implementation of thromboprophylaxis in hospitalized patients at risk for venous thromboembolism. Cochrane Syst Rev 2018; 4: CD008201. 8. Roberts LN et al.: Annotation: Developing a national programme for VTE prevention. BJH 2017; 178: 162–170. 9. Lester W et al: Fatal venous thromboembolism associated with hospital admission: a cohort study to assess the impact of a national risk assessment target. Heart 2013; 99: 1734: 1739. 10. Kahn SR et al.: Prevention of VTE in nonsurgical patients: Antithrombotic Therapy and Prevention of Thrombosis, 9th ed: American College of Chest Physicians Evidence-Based Clinical Practice Guidelines. Chest 2012; 141(2 Suppl): e195–226S. 11. Amin AN et al.: Duration of venous thromboembolism risk across a continuum in medically ill hospitalized patients. J Hosp Med 2012; 231–238. 12. Dentali F et al.: Efficacy and safety of extended thromboprophylaxis for medically ill patients. A meta-analysis of randomised controlled trials. Thromb Haemost 2017; 117: 606–617. 13. Liew AY et al.: Extended-duration versus short-duration pharmacological thromboprophylaxis in acutely Ill hospitalized medical patients: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. J Thromb Thrombosis 2017; 43: 291–301. CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | August 2018 31