Transkript
SGAIM
Management der Hypertonie
Neue Guidelines – Amerika versus Europa
Foto: vh
Hypertonie sei einer der Hauptfaktoren für eine verfrühte Morbidität und Mortalität, mehr noch als Tabakrauchen und Adipositas, erklärt Prof. Antoinette Pechère-Bertschi, Unité et Centre d’Hypertension, Hôpitaux Universitaires Genève, am SGAIM in Basel. Aufgrund von neuen Studienergebnissen und der Tatsache, dass viele Patienten ihre Zielwerte nicht erreichen, haben die amerikanischen und europäischen Fachgesellschaften ihre Guidelines angepasst. Die Empfehlungen sind jedoch höchst unterschiedlich ausgefallen.
Im Jahr 2015 schätzte man weltweit über
1,6 Milliarden Hypertoniepatienten und über
10 Millionen Todesfälle in diesem Zusammen-
hang. Eine Behandlung ist nur selten wirksam:
Weniger als die Hälfte der Behandelten errei-
chen einen Zielwert von unter 140/90 mmHg
(1, 2). Grund genug für die Fachgesellschaften,
ihre Guidelines anzupassen. Die neuen ameri-
kanischen Guidelines des American College of
Prof. Antoinette Pechère
Cardiology und der American Heart Association kamen im Jahr 2017 heraus. Weitrei-
chendste Neuerung war die Herabsetzung der Hypertonie-
grenzwerte von > 140/90 mmHg auf > 130 bis 139 mmHg
systolisch beziehungsweise auf 80 bis 89 mmHg diastolisch
(3), wie Pechère berichtet. Das erhöht die Prävalenz der
Hypertonie in Amerika mit einem Schlag von 39 auf 48 Pro-
zent, und die trotz Behandlung Unkontrollierten nehmen von
39 auf 53 Prozent zu. Das bedeutet auch, dass 4,2 Millio-
nen Amerikaner zusätzlich Antihypertensiva brauchen und
29 Millionen ihre Therapie intensivieren müssen (4, 5).
Europa versus Amerika
Inzwischen ist auch die europäische Guideline der European Society of Hypertension an deren Jahreskongress in Barcelona präsentiert worden und wird in Kürze publiziert. Sie hat den Hypertoniegrenzwert auf > 140/90 mmHg belassen (Tabelle 1) und ist den Amerikanern nicht gefolgt. Wo aber liegt die Wahrheit? Ein optimaler Blutdruck soll kardiovaskulären Ereignissen keinen Vorschub leisten. Bis 2013, bei Erstellen der letzten Guidelines, war man sich in den USA und Europa aufgrund der Studien einig, dass ein Blutdruck unter 140/90 mmHg liegen sollte. Doch seither gab es neue Studienergebnisse, die zu unterschiedlichen Bewertungen geführt haben. Aus europäischer Sicht gibt es keine Studie, die einen Vorteil für kardiovaskuläre Ereignisse bei Werten unter 130 mmHg zeigte, mit Ausnahme der amerikanischen SPRINT-Studie, an der sich jedoch die Geister scheiden. Auf die neuen amerikanischen Guidelines hatte diese Studie
grossen Einfluss, nicht aber auf die europäischen. An der umstrittenen Studie nahmen über 9000 kardiovaskuläre Hochrisikopatienten ohne Diabetes, Hirnschlaganamnese oder einer glomerulären Filtrationsrate < 20 ml/min/1,73 m2 teil. Es wurden zwei systolische Zielwerte verfolgt: < 120 mmHg und < 140 mmHg. Erreicht wurden in der Intensivtherapiegruppe durchschnittlich 121 mmHg, mit der Standardbehandlung 136 mmHg. Die Studie wurde vorzeitig gestoppt, weil im unteren Zielwertarm das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und kardiovaskuläre Mortalität wesentlich tiefer ausfiel (7). Hauptkritikpunkt aus europäischer Sicht ist die dabei angewendete Methode der Blutdruckmessung. In dieser Studie fand die automatische Blutdruckmessung unbeaufsichtigt in einem separaten Raum statt. So erhobene Messwerte sind in der Regel noch tiefer als die vom Patienten zu Hause gemessenen Werte (–10/–4 mmHg) (8) und mit jenen von anderen Studien erst nach entsprechender Umrechnung vergleichbar. Weitere Kritik betrifft die Auswahl der Patienten: Nur 36 Prozent von ihnen waren weiblich, was eine Verallgemeinerung der Resultate hinsichtlich der Gesamtbevölkerung verunmöglicht, so Pechère. Management der Hypertonie Gemäss den europäischen Guidelines bleibt der Hypertoniegrenzwert also bei 140/90 mmHg (6), was auch den Grenzwerten der Schweizerischen Hypertoniegesellschaft (SHG) entspricht (9). Die Therapie kann mit Hemmern des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS), Kalziumantagonisten oder Diuretika erfolgen. Kombinationspräparate erhöhen dabei die Wirksamkeit sowie die Adhärenz und haben aufgrund der tieferen Einzeldosierungen weniger Nebenwirkungen, so Pechère. Das wurde auch in die neuen europäischen Guidelines aufgenommen. Eine Hypertonie soll in der Regel von Beginn an mit einer Zweierkombination in einer Pille aus ACE-Hemmer oder Angiotensinrezeptorhemmer (ARB) plus Kalziumantagonist (CCB) oder Diuretikum erfolgen. Reicht das nicht aus, kann eine Dreierkombination (ACE-Hemmer 24 CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | August 2018 SGAIM Tabelle 1: Blutdruckgrenzwerte USA/Europa (3, 6) Kategorie systolisch mmHg diastolisch mmHg USA 2017 (3) normal < 120 und < 80 erhöht < 120–129 und < 80 Hypertonie Stadium 1 130–139 oder 80–89 Hypertonie Stadium 2 ≥ 140 oder ≥ 90 Europa 2018 (6) optimal < 120 und < 80 normal < 120–129 und < 80–84 hochnormal 130–139 und/oder 85–89 Hochdruck 1 140–159 und/oder 90–99 Hochdruck 2 160–179 und/oder 90–99 Hochdruck 3 ≥ 180 und/oder ≥ 110 isolierte systolische Hypertonie ≥ 140 und < 90 Zielblutdrücke Zielblutdruck < 65-Jährige 120–130 70–80 Zielblutdruck > 65-Jährige 130–140
70–80
Zielblutdruck ≥ 80-Jährige 130–140
70–80
Zielblutdruck Diabetes
≤ 130, falls toleriert
70–80
Zielblutdruck KHK
≤ 130
70–80
Zielblutdruck CKD
130–140
70–80
Zielblutdruck mit
Hirnschlag- oder
TIA-Anamnese
120–130
70–80
Tabelle 2:
Wahl der Antihypertensiva bei Komorbiditäten
Erkrankung
KHK Herzinsuffizienz (HFrEF)
Asthma, COPD Dyslipidämie, Glukoseintoleranz Proteinurie, Mikroalbuminurie Diabetes Schwangerschaft
hyperkinetischer Status, Tremor, Migräne
Bevorzugte Antihypertensivumklasse Betablocker, RAAS-Hemmer, CCB RAAS-Hemmer, Diuretika, Betablocker, Spironolacton keine Betablocker RAAS-Hemmer, CCB RAAS-Hemmer RAAS-Hemmer, CCB, Betablocker Methyldopa, Labetalol, Betablocker, CCB, evtl. Diuretika, keine RAAS-Hemmer Betablocker
Quelle: mod. nach A. Pechère, SGAIM 2018
kombination sogar bei 80 Prozent (9). Die Therapie mit einer
Dreierkombination zu beginnen, empfiehlt Pechère jedoch
nicht.
Als weitere Massnahme im Dienst der Adhärenz empfehlen
die Guidelines, einen neu eingestellten Patienten innerhalb
der ersten 2 Monate mindestens einmal nachzukontrollieren.
Eine antihypertensive Therapie müsste den Blutdruck inner-
halb von 1 bis 2 Wochen zu senken beginnen. Weitere Nach-
kontrollen sollten nach 3 und 6 Monaten stattfinden. Unter-
suchungen zu Risikofaktoren und asymptomatischen Organ-
schäden legen die Guidelines mindestens alle 2 Jahre nahe
(6).
Viele Patienten leiden jedoch nicht nur an Hypertonie, son-
dern haben gleichzeitig kardiovaskuläre Erkrankungen,
Asthma oder COPD, Dyslipidämie, Glukoseintoleranz oder
Diabetes und anderes mehr. Welches Antihypertensivum sich
gemäss Pechère bei welcher Komorbidität eignet, ist in Ta-
belle 2 zusammengestellt.
L
Valérie Herzog
Quelle: «Update Hypertonie 2018», Jahresversammlung der Schweizerischen Ge-
sellschaft für Allgemeine und Innere Medizin (SGAIM), 30. Mai bis 1. Juni 2018,
Basel.
Referenzen 1. Forouzanfa MH et al.: Global Burden of Hypertension and Systo-
lic Blood Pressure of at Least 110 to 115 mmHg, 1990–2015. JAMA 2017; 317: 165–182. 2. Chow CK et al.: Prevalence, awareness, treatment, and control of hypertension in rural and urban communities in high-, middle-, and low-income countries. JAMA 2013; 310: 959–968. 3. Whelton PK et al.: 2017 ACC/AHA/AAPA/ABC/ACPM/AGS/ APhA/ASH/ASPC/NMA/PCNA Guideline for the Prevention, Detection, Evaluation, and Management of High Blood Pressure in Adults: A Report of the American College of Cardiology/American Heart Association Task Force on Clinical Practice Guidelines. Hypertension 2018; 71: 1269–1324. 4. Bakris G et al.: Redefining Hypertension – Assessing the New Blood-Pressure Guidelines. N Engl J Med 2018; 378: 479–499. 5. Muntner P et al.: Potential US Population Impact of the 2017 ACC/AHA High Blood Pressure Guideline. Circulation 2018; 137: 109–118. 6. Williams B et al.: ESC-ESH 2018 Guidelines for the management of arterial hypertension. Eur Heart J 2018; in press. 7. Wright JT et al.: A Randomized Trial of Intensive versus Standard Blood-Pressure Control. N Engl J Med 2015; 373: 2103–2116. 8. Schweizerische Guideline für arterielle Hypertonie 2015. www.swisshypertension.ch 9. Conn VS et al.: Interventions to Improve Medication Adherence in Hypertensive Patients: Systematic Review and Meta-analysis. Curr Hypertens Rep 2015; 17: 94.
oder ARB + CCB + Diuretikum) verordnet werden. Ist die Blutdruckkontrolle damit noch nicht genügend, können Spironolacton, andere Diuretika oder Alpha- oder Betablocker dazugefügt werden (6). Betablocker sollten generell nur bei spezieller Indikation angewendet werden wie Herzinsuffizienz, nach Herzinfarkt, Angina pectoris, Vorhofflimmern oder bei jungen Frauen, die eine Schwangerschaft planen (6). Mit einer Zweierkombination lässt sich bei 70 Prozent der Hypertoniker der Blutdruck kontrollieren, mit einer Dreier-
CongressSelection Allgemeine Innere Medizin | August 2018
25