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SGAIM
ESPEN-Guidelines für klinische Ernährung bei multimorbiden Spitalpatienten
Mangelernährung beheben verlängert Leben
Mit einer systematischen Erhebung des Ernährungszustands bei Spitaleintritt und einer raschen Einleitung einer Nahrungssupplementierung bei Risikopatienten kann die Spitalmortalität reduziert werden. Prof. Zeno Stanga, Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Metabolismus, hat die neuen Guidelines der Europäischen Gesellschaft für klinische Ernährung und Metabolismus (ESPEN) am SGAIM-Kongress in Basel vorgestellt. Sie helfen, mangelernährte, multimorbide Patienten herauszufiltern und deren Ernährungszustand zu verbessern.
Rund ein Drittel der Spitalpatienten sind über verschiedene Abteilungen hinweg mangelernährt. Das zeigte eine Untersuchung in zwölf verschiedenen Ländern, darunter auch die Schweiz. Die Studie erhob den Ernährungsstatus mit dem Nutrition Risk Screening (NRS-2002) in 26 Spitalabteilungen wie Chirurgie, Innere Medizin, Onkologie, Intensivmedizin, Gastroenterologie und Geriatrie. Von den über 5000 abgeklärten Spitalpatienten waren 33 Prozent gemäss NRS2002 Risikopatienten, die mehr Komplikationen sowie eine höhere Mortalität aufwiesen und länger im Spital waren als Nichtrisikopatienten (1). Mangelernährte Spitalpatienten haben unabhängig von Alter, Geschlecht und medizinischem Status ein schlechteres Outcome. Die 30-Tages-Mortalität ist bei ihnen je nach Diagnose im Vergleich zu nicht mangelernährten Patienten signifikant um das 3- bis 20-Fache höher, wie eine Untersuchung in einem Schweizer Spital ergab (2). Diese Erkenntnis müsste eigentlich zu vermehrten Verordnungen von Ernährungstherapien und folglich zu einer Zustandsverbesserung führen. In einer dänischen Untersuchung erhielten von 44 Prozent Mangelernährten jedoch nur ein
KURZ & BÜNDIG
Ernährungszustand möglichst systematisch bei jedem Patienten mittels NRS-2002 erheben.
Ein polymorbider Spitalpatient braucht eine Proteinzufuhr von 1 bis 1,5 g/kg KG/Tag.
Der Energiebedarf beträgt mindestens 25 bis 30 kcal/kg KG/Tag.
Mikronährstoffe nur bei Mangel substituieren. Eine Energiezufuhr < 75 Prozent des Bedarfs führt bei Spital-
patienten zur Gewichtsabnahme.
Drittel eine entsprechende Therapie, und nur 18 Prozent erreichten das gesteckte Energieziel (3). In der Schweiz sind die Zahlen gemäss einer ähnlichen Untersuchung nicht besser, so Stanga.
Guidelines für multimorbide Patienten
Die Patienten auf der Inneren Medizin werden immer älter und sind oft multimorbid. Häufig besteht das Problem zu entscheiden, welches medizinische Problem (z.B. chronische Niereninsuffizienz, chronische Leberinsuffizienz) die höchste Priorität erhalten soll, denn für die einzelnen Erkrankungen gibt es durchaus Guidelines. Um diese Entscheidungen im komplexen Fall zu erleichtern, habe die ESPEN (European Society for Clinical Nutrition and Metabolism) erstmals Empfehlungen (4) geschaffen für polymorbide medizinische Patienten, die gleichzeitig an mehr als zwei chronischen Erkrankungen litten, berichtet Mitautor Stanga. Demgemäss sollte bei polymorbiden Patienten eine kurze und einfache Screeningmethode (z.B. NRS-2002 [5]) zur Abschätzung des Mangelernährungsrisikos verwendet werden (Tabelle). Bei erhöhtem Risiko sollte zusätzlich ein detailliertes Assessment erfolgen (Empfehlungsgrad: B, Expertenkonsensus 100%) (4). Wünschenswert ist, dass das Kurzscreening bei jedem Patienten in den ersten zwei Tagen systematisch durchgeführt wird, es beinhaltet vier Fragen und dauert nur wenige Minuten. Hintergrund dazu ist die Tatsache, dass die 30-Tage-Mortalität mit zunehmendem NRS-Punktescore ansteigt (6). Des Weiteren konnte eine prospektive Studie bei polymorbiden und mangelernährten chirurgischen Spitalpatienten (NRS ≥ 3) zeigen, dass die Komplikationen, auch infektiöse, mit einer Ernährungstherapie im Vergleich zur normalen Spitalnahrung signifikant abnahmen (7).
Woraus soll die spezielle Ernährung bestehen?
Polymorbide Patienten mit Ernährungstherapie sollten gemäss Guidelines eine tägliche Proteinzufuhr von mindestens 1 g/kg KG erreichen, um einem Gewichtsverlust vorzubeu-
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gen, das Risiko für Komplikationen und Rehospitalisationen zu reduzieren und den funktionellen Outcome zu verbessern (Empfehlungsgrad: A, Expertenkonsensus 95%) (4). Um das Gleichgewicht in der anabolen und katabolen Proteinbilanz zu erhalten, braucht ein gesunder Mensch etwa 0,8 g/kg KG Proteine pro Tag für den Steady State. Bei multimorbiden Patienten mit erhöhtem Proteinumsatz (8) empfehle sich eine Dosis von 1 bis 1,5 g/kg KG/Tag, erläutert Stanga. Der Energiebedarf kann mittels indirekter Kalorimetrie, verschiedener Formeln oder einer gewichtsbasierten Faustformel berechnet werden (Empfehlungsgrad: 0, Expertenkonsensus 96%) (4). Dazu gab es nur wenige Studien, doch der im Review von Gaillard et al. ermittelte Grundumsatz bei multimorbiden, über 60-jährigen Patienten von 18,5 bis
22,2 kcal/kg KG/Tag kann laut Stanga dazu herangezogen werden (9). Der tägliche Gesamtenergiebedarf soll durch Zugabe von Aktivitäts- oder Stressfaktoren errechnet werden. Ein mangelernährter Patient braucht 20 Prozent mehr Energie; steht er vom Bett auf, um auf die Toilette zu gehen, kostet ihn diese Aktivität 10 Prozent zusätzlich, sodass mit einem Faktor 1,3 etwa 25 bis 30 kcal/kg KG/Tag Gesamtenergiebedarf herauskommen, so Stanga. Zur Frage, ob Mikronährstoffe substituiert werden sollen, empfehlen die Guidelines, eine adäquate Mikronährstoffzufuhr mit oraler Ernährung gemäss internationalen Empfehlungen (reference daily intake, RDI) sicherzustellen. Nur bei dokumentiertem oder vermutetem Mikronährstoffmangel sollten solche ausreichend substituiert werden (Empfehlungsgrad: Good Practice Point, Expertenkonsensus 100%) (4).
Tabelle:
NRS-2002 zur Risikoabschätzung von Mangelernährung bei hospitalisierten Patienten
Kurzform
BMI < 20,5 kg/m2
Ja/Nein
Gewichtsverlust innerhalb der letzten 3 Monate
Ja/Nein
Verminderte Nahrungsaufnahme in der Vorwoche
Ja/Nein
Patient der Intensivstation
Ja/Nein
Auswertung: mindestens 1 × Ja = erhöhtes Risiko, weitere Fragen beant-
worten. 4 × Nein = niedriges Risiko
Weitere Fragen Verminderte Nahrungsaufnahme:
Keine
0
Mild: Gewichtsverlust > 5% in den letzten 3 Monaten
oder Nahrungsaufnahme < 50–70% der erforderlichen Menge in der Vorwoche 1 Moderat: Gewichtsverlust > 5 % in den letzten
2 Monaten plus reduzierter Allgemeinzustand oder
Nahrungsaufnahme < 25–60% der erforderlichen Menge in der Vorwoche 2 Schwer: Gewichtsverlust > 5% im letzten Monat
(> 15% in 3 Monaten) oder BMI < 18,5 plus reduzierter Allgemeinzustand oder Nahrungs- aufnahme < 0–25% der erforderlichen Menge in der Vorwoche Krankheitsschwere: 3 Normaler Ernährungsbedarf 0 Hüftfraktur, chronische Erkrankung (mit möglicherweise akuten Komplikationen, z.B. Leberzirrhose oder COPD), chronische Dialyse, Diabetes, Krebs 1 Grösserer abdominalchirugischer Eingriff, Hirnschlag, schwere Pneumonie, hämatologische Malignität 2 Kopfverletzung, Knochenmarktransplantation, Patient der Intensivstation Alter: 3 < 70 Jahre 0 > 70 Jahre
1
Auswertung: < 3 Punkte = niedriges Risiko, wöchentlich rescreenen; > 3 Punkte = hohes Risiko, Ernährungstherapie beginnen (Nahrungs-
mittel, orale Supplemente, parenterale Ernährung)
Quelle: mod. nach (2)
Wie soll supplementiert werden?
Orale Nahrungssupplemente sollten bei mangelernährten polymorbiden Patienten dann eingesetzt werden, wenn diese zur Reduktion der elektiven Rehospitalisationsrate oder zur Reduktion der Mortalität beitragen (Empfehlungsgrad: B, Expertenkonsensus 89%) (4). Eine vor zwei Jahren durchgeführte Studie hat beispielsweise eine signifikante Reduktion der 90-Tage-Mortalität um signifikante 5 Prozent bei Spitalpatienten mit oraler Nahrungssupplementation im Vergleich zu jenen mit Plazebo (9,7 vs. 4,8%) gezeigt. Das ergibt eine Number Needed to Treat von 20, um einen Todesfall zu verhindern (10). Bei mangelernährten polymorbiden Patienten, bei welchen eine orale Bedarfsabdeckung möglich ist, sollten hochkalorische und proteinreiche orale Nahrungssupplemente in Betracht gezogen werden, um den Ernährungszustand und die Lebensqualität zu verbessern (Empfehlungsgrad: A, Expertenkonsensus 95%) (4). Eine Studie aus der Schweiz zeigte beispielsweise, dass mangelernährte Patienten, die bei Eintritt gleich orale Nahrungssupplemente erhielten, bei Austritt eine bessere körperliche Funktionsfähigkeit (gemessen anhand der Lebensqualität SF-36) aufwiesen als die Kontrollgruppe mit normaler Spitalernährung (11). Eine weitere Studie aus Winterthur belegte den Nutzen hinsichtlich der Lebensqualität der oralen Nahrungssupplementierung über die Spitalbehandlung hinaus. In einem Follow-up 2,5 Monate nach Austritt war das körperliche Wohlbefinden erheblich besser als zu Beginn. Dabei erzielte die unterstützende Ernährungstherapie einen etwas besseren Effekt als die Abgabe der Nahrungssupplemente durch das Pflegepersonal (12). Eine wichtige Frage betrifft die Kosten. Die Guidelines erachten die orale Nahrungssupplementierung als kosteneffektive Intervention (Empfehlungsgrad: B, Expertenkonsensus 95%) (4). Diese wurde in verschiedenen Studien unter Beweis gestellt, auch bei Pflegeheimpatienten (13, 14). Wenn eine orale Nahrungssupplementierung nicht möglich ist, soll eine enterale der parenteralen Ernährung wegen des geringeren Komplikationsrisikos vorgezogen werden (Empfehlungsgrad: 0, Expertenkonsensus 100%) (4).
Der gute Zeitpunkt
Ein früher Beginn der Ernährungstherapie (< 48 Stunden nach Eintritt) sollte bei polymorbiden Patienten angestrebt werden, denn sie verbessert das Outcome. Dadurch kann
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eine Sarkopenie reduziert und die Selbstversorgung verbessert werden (Empfehlungsgrad: B, Expertenkonsensus 95%) (4). Das belegt beispielweise eine Studie, worin die Muskelmasse bei Spitaleintritt und nach Austritt alle drei Monate gemessen wurde. Die über 78-jährigen oral Supplementierten (mit Physiotherapie) konnten im Vergleich zu jenen ohne Intervention ihre Muskelmasse nach einem Jahr erhalten, und der Autonomieverlust (Barthel-Index) war weniger gross (15).
Vorgehen in der ersten Woche
Um das Risiko für unerwünschte Outcomes zu senken, sollte
bei mangelernährten, multimorbiden Patienten mindestens
75 Prozent des berechneten Energiebedarfs erreicht werden
(Empfehlungsgrad: B, Expertenkonsensus 100%) (4). Denn
gemäss einer prospektiven Studie mit 977 vorwiegend medi-
zinischen mangelernährten Patienten in einem dänischen
Universitätsspital nahmen alle Patienten, die nicht 75 Prozent
ihres täglichen Energiebedarfs erhielten, während des Spital-
aufenthalts ab (16).
Daher sollte in den ersten 3 bis 5 Tagen durch individuelle
Menüzusammenstellung eine Energiezufuhr von mindestens
75 Prozent erreicht werden. Gelingt das nicht, empfiehlt es
sich, den Patienten Zwischenmahlzeiten von 600 bis 800 kcal
zur Verfügung zu stellen oder die Energiezufuhr durch orale
Trinknahrungen zu ergänzen. Sei dieses Energieziel nach
5 Tagen nicht erreicht, sollte es via enterale oder wenn nötig
parenterale Ernährung sichergestellt werden, skizziert Stanga
den Ablauf. Ein interdisziplinäres klinisches Ernährungs-
team, bestehend aus Ärzten, Ernährungsberatung, Pflegeper-
sonal und Apothekern, sei um die Organisation dieses Ab-
laufs besorgt.
L
Valérie Herzog
Quelle: «Guidelines der Europäischen Gesellschaft für klinische Ernährung 2017», Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine und Innere Medizin (SGAIM), 30. Mai bis 1. Juni 2018, Basel.
Referenzen 1. Sorensen J et al.: EuroOOPS: an international, multicentre study
to implement nutritional risk screening and evaluate clinical outcome. Clin Nutr 2008; 27: 340–349. 2. Felder S et al.: Association of nutritional risk and adverse medical outcomes across different medical inpatient populations. Nutrition 2015; 31: 1385–1395. 3. Rasmussen HH et al.: A method for implementation of nutritional therapy in hospitals. Clin Nutr 2006; 25: 515–523. 4. Gomes F et al.: ESPEN guidelines on nutritional support for polymorbid internal medicine patients. Clin Nutr 2018; 37: 336– 353. 5. Kondrup J et al.: Nutritional risk screening (NRS 2002): a new method based on an analysis of controlled clinical trials. Clin Nutr 2003; 22: 321–336. 6. Schuetz P et al.: Head-to-head comparison of length of stay, patients' outcome and satisfaction in Switzerland before and after SwissDRG-Implementation in 2012 in 2012: an observational study in two tertiary university centers. 7. Jie B et al.: Impact of nutritional support on clinical outcome in patients at nutritional risk: a multicenter, prospective cohort study in Baltimore and Beijing teaching hospitals. Nutrition 2010; 26: 1088–1093. 8. Rooyackers O et al.: Whole body protein turnover in critically ill patients with multiple organ failure. Clin Nutr 2015; 95–100. 9. Gaillard C et al.: Energy requirements in frail elderly people: a review of the literature. Clin Nutr 2007; 26: 16–24. 10. Deutz NE et al.: Readmission and mortality in malnourished, older, hospitalized adults treated with a specialized oral nutritional supplement: A randomized clinical trial. Clin Nutr 2016; 35: 18–26. 11. Starke J et al.: Short-term individual nutritional care as part of routine clinical setting improves outcome and quality of life in malnourished medical patients. Clin Nutr 2011; 30: 194–201. 12. Rüfenacht U et al.: Nutritional counseling improves quality of life and nutrient intake in hospitalized undernourished patients. Nutrition 2010; 26: 53–60. 13. Norman K et al.: Cost-effectiveness of a 3-month intervention with oral nutritional supplements in disease-related malnutrition: a randomised controlled pilot study. Eur J Clin Nutr 2011; 65: 735–742. 14. Elia M et al.: Cost-effectiveness of oral nutritional supplements in older malnourished care home residents. Clin Nutr 2018; 37: 651–658. 15. Hegerova P et al.: Early nutritional support and physiotherapy improved long-term self-sufficiency in acutely ill older patients. Nutrition 2015; 31: 166–170. 16. Kondrup J et al.: Outcome from nutritional support using hospital food. Nutrition 1998; 14: 319–321.
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