Transkript
FOKUS PHARMAKOTHERAPIE
Präferenzen von Patienten mit Vorhofflimmern bezüglich der Therapieeigenschaften von oralen Antikoagulanzien
Ein Discrete-Choice-Experiment in der Schweiz
Patienten mit Vorhofflimmern wird zur Schlaganfallprävention eine lebenslange Antikoagulation empfohlen (1). Auf welche Eigenschaften Patienten dabei Wert legen, war Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.
Thomas Wilke, Sabrina Mueller, Svenja Bloempott, Markus Rimle, Beatrice Amann-Vesti, Stefan Schäfer
Einleitung und Studienziele
Aktuelle Leitlinien zur Behandlung von Vorhofflimmern (VHF) empfehlen bei einem erhöhten Schlaganfallrisiko eine lebenslange orale Antikoagulation (OAK) (1). Als OAK-Alternativen stehen VitaminK-Antagonisten (VKA) sowie seit einigen Jahren auch neue orale Antikoagulanzien (NOAK: Dabigatran, Rivaroxaban, Apixaban, Edoxaban) zur Verfügung (2–4). In klinischen Studien konnte gezeigt werden, dass NOAK in Bezug auf Effektivität und Sicherheit einer gut gesteuerten VKA-Antikoagulation statistisch nicht unterlegen sind (2–5). Präferenzstudien haben zudem gezeigt, dass VKA und NOAK auch aus Sicht von VHF-Patienten bedeutende Unterschiede aufweisen [6, 7]. Aus Patientensicht haben nämlich auch die sogenannten «weichen Therapieeigenschaften» wie Verabreichungsform, notwendige Begleitmassnahmen (Blutkontrollen) oder die Lebensqualität einschränkende Restriktionen eine hohe
MERKSÄTZE
Dies ist die erste Studie, die Präferenzen von VorhofflimmerPatienten in der Deutschschweiz hinsichtlich der oralen Antikoagulation systematisch untersucht hat.
VHF-Patienten in der deutschsprachigen Schweiz präferieren eine einfache, restriktionsfreie orale Antikoagulation, idealerweise verbunden mit einer einmal täglichen Einnahme.
Bedeutung. Dementsprechend empfehlen die aktuellen ESC-Leitlinien zur OAK bei VHF explizit, auch die Patientenpräferenzen bei der Therapieentscheidung zu berücksichtigen (1, 8). Ziel der vorliegenden Studie war, anhand einer Patientenpräferenzuntersuchung zu ermitteln, welche Eigenschaften eines oralen Antikoagulans von VHF-Patienten in der Deutschschweiz bevorzugt werden.
Methodik
In die multizentrische Studie mit 33 ausgewählten Studienzentren in 15 Schweizer Kantonen wurden Patienten mit bestätigter VHF-Diagnose und OAK-Erfahrung entweder mit VKA oder NOAK (mindestens drei Monate vor Einschluss in die Studie ohne Änderung des Antikoagulans in diesem Zeitraum) eingeschlossen. Bei dem in der telefonischen Befragung verwendeten Discrete-Choice-Experiment(DCE-)Design (siehe Kasten) bestanden die abgefragten Therapieoptionen, unter der Annahme klinischer Gleichwertigkeit der Antikoagulanzien (2–4, 9–11), aus folgenden Attributen: Notwendigkeit eines Bridgings bei grösseren chirurgischen Eingriffen (ja/nein), Wechselwirkungen mit bestimmten Lebensmitteln/Alkohol (ja/nein), Notwendigkeit regelmässiger Blutkontrollen und eventuell Dosisanpassungen (ja/nein), Häufigkeit der Einnahme (ein-/zweimal am Tag) sowie, als sogenanntes «neutrales Attribut», die Entfernung zum behandelnden Arzt (1 km/15 km).
Ergebnisse
Antworten von 109 VHF-Patienten konnten analysiert werden (Mittelwert Alter 75,6 ± 7,2 Jahre; 63% männlich; Mittel-
wert CHA2DS2-VASc 3,3 ± 1,3; 43 NOAK-Patienten und 66 VKA-Patienten). Für die Entscheidung für oder gegen eine hypothetische OAK-Alternative hatten die fünf betrachteten Attribute eine unterschiedliche Bedeutung. Das wichtigste Attribut war «Wechselwirkungen mit Nahrungsmitteln/Alkohol». Dieses beeinflusste mit einem Gewicht von 29 Prozent die Gesamtentscheidungen der Patienten. «Bridging» (24%), «Entfernung zum Arzt» (17%), «Einnahmefrequenz» (16%) sowie «Notwendigkeit regelmässiger Blutkontrollen» (14%) waren im Vergleich dazu weniger wichtig. In einer multivariaten Analyse konnten die folgenden Nutzenwerte ermittelt werden: «keine Wechselwirkungen mit Nahrungsmitteln/Alkohol» (Nutzenwert 0,524), «kein Bridging» (0,432), «geringe Entfernung zum Arzt» (0,317), «einmal tägliche Einnahme» (0,301), «keine Notwendigkeit regelmässiger Blutkontrollen» (0,255). Sämtliche Nutzenwerte waren mit p < 0,001 verschieden vom Nutzenwert der jeweils gegenteiligen Attributsausprägung. Der Zusatznutzen der präferierten Eigenschaften wurde in zusätzlich akzeptierte Kilometer bezüglich der Arztentfernung (jeder weitere Kilometer Entfernung war mit einem berechneten negativen Nutzen assoziiert) umgerechnet. Ausgehend von einem Base Case (Rang 14, Abbildung 1), der eine VKA-Antikoagulation beschreibt (Bridging notwendig, INR-Blutkontrollen und eventuell Dosisanpassung notwendig, einmal tägliche Einnahme, bekannte Wechselwirkungen mit bestimmten Lebensmitteln/Alkohol), bedeutet demnach jede Kombination von optionalen Therapieeigenschaften einen Zusatznutzen, der als ARS MEDICI 13 | 2018 605 FOKUS PHARMAKOTHERAPIE Unterschiede der Therapiealternativen im DCE-Design nicht berücksichtigt. Grundsätzlich scheinen deutschsprachige VHF-Patienten in der Schweiz eine einmal tägliche NOAK-Antikoagulation zu präfe- rieren. Unter der Prämisse der klinischen Gleichwertigkeit der OAK-Alternativen und unter der Annahme, dass präferierte Medikamenteneigenschaften auch die sind, die Patienten am zuverlässigsten einneh- men (Adhärenz), ist zu erwarten, dass eine einmal tägliche NOAK-Antikoagulation zu bestmöglichen Ergebnissen in der klini- schen Praxis führt. L Abbildung: Die Abbildung zeigt summarisch Nutzenwerte für gesamthafte Therapiealternativen. Warum ein Discrete-Choice-Experiment? Die Patientenpräferenzen wurden in der vorliegenden Arbeit in standardisierten Telefoninterviews mit einem Discrete-Choice-Experiment (DCE) (12) erhoben, weil eine «simple» deskriptive Befragung von Patienten nach bevorzugtenTherapieattributen kaum sinnvolle Ergebnisse liefert. Patienten würden in derartigen Befragungen angeben, dass sie sämtliche positive Eigenschaften unter Vermeidung sämtlicher negativer Eigenschaften bevorzugen. Für Entscheidungssituationen typische Abwägungen (Trade-Offs) werden mittels einfacher Befragung nicht abgebildet (12). Im Gegensatz dazu werden Patienten in DCE-Befragungen gebeten, mehrmals hintereinander zwischen zwei «diskreten» hypothetischen Alternativen zu entscheiden; Letztere bestehen aus einer Kombination potenziell positiver und negativer Attribute, sodass bei jeder Entscheidung Abwägungen von den Befragten getroffen werden müssen (13). Die erhobenen Daten können dann zur gesamthaften Abbildung von Patientenpräferenzen genutzt werden. Die DCE-Methode unterscheidet sich von einfachen Präferenzstudien, indem sie ganzheitliche Therapiealternativen untersucht. Eine Dropout-Rate von 25 bis 30 Prozent ist bei einem DCE-Design nicht ungewöhnlich, weil sich nicht jeder Patient auf dieses Gedankenexperiment einlassen möchte beziehungsweise inkonsistente Entscheidungen trifft. Bereitschaft der Patienten zur Akzeptanz einer zusätzlichen Entfernung zum Arzt, um diese OAK-Option zu erhalten, ausgedrückt wird. Für eine NOAK-Antikoagulation, die zweimal täglich einzunehmen ist (Rang 3), wären die Patienten im Vergleich zur VKA-Antikoagulation bereit, etwa 40 km zusätzlicher Distanz zum behandelnden Arzt zu akzeptieren. Der Nutzen einer einmal täglich einzunehmenden NOAK-Antikoagulation (Rang 1) wäre noch einmal höher – hier wären die Patienten bereit, 53 km Entfernung zum behandelnden Arzt zu akzeptieren. Diskussion und Schlussfolgerungen Die Ergebnisse zeigen, dass die befragten Patienten Antikoagulanzien bevorzugen, die einfach und ohne Einschränkungen einzunehmen sind. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Studie Daten einer Befragung einer beschränkten Sample-Size präsentiert. Hinzu kommt, dass das DCE konzeptionell hypothetische Alternativen untersucht und somit praktische OAK-Entscheidungen von der hypothetischen DCE-Situation abweichen können. Schliesslich wurden mögliche klinische Prof. Dr. Thomas Wilke IPAM e.V. Alter Holzhafen 19, D-23966 Wismar E-Mail: thomas.wilke@ipam-wismar.de Interessenskonflikt: Diese Studie wurde finanziell von Bayer unterstützt. Markus Rimle ist Mitarbeiter bei Bayer. Stefan Schäfer war bis 2014 als Angestellter bei Bayer Healthcare beschäftigt. Thomas Wilke ist Vorstand beim IPAM e.V. Er erhielt Honorare von verschiedenen Pharmaunternehmen/Unternehmensberatungen (AbbVie, Astra Zeneca, BMS, Böhringer Ingelheim, GSK, Merck, NovoNordisk, Pharmerit). Sabrina Müller und Svenja Bloempott sind Mitarbeiterinnen bei Ingress-Health; Der Beitrag von IngressHealth zu dieser Studie wurde von Bayer finanziert. Beatrice Amann-Vesti hat keine Interessenkonflikte. Referenzen: 1. Kirchhof P et al.: 2016 ESC Guidelines for the manage- ment of atrial fibrillation developed in collaboration with EACTS. Eur Heart J 2016; 37: 2893–2962. 2. 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Reed Johnson F et al.: Constructing experimental designs for discrete-choice experiments: report of the ISPOR Conjoint Analysis Experimental Design Good Research Practices Task Force. Value Health 2013; 16: 3–13. 10.Hoffman-La Roche AG. Summary of product characteristics: Marcumar; 2004 [cited 2017 Feb 22]. Available from: URL: https://www.klinikum.uni-heidelberg.de/fileadmin/medizinische_klinik/Abteilung_3/ ARCHIV/pdf/ivandic/FI_marcumar.pdf 11. Bayer Pharma AG. Summary of product characteristics: Xarelto; 2013 [cited 2017 Feb 22]. Available from: URL: http://www.fachinfo.de/pdf/013452 12.Ware J et al.: A 12-Item short-form health survey: construction of scales and preliminary tests of reliability and validity. Med Care 1996; 34: 220–233. 13.Clark MD et al.: Discrete choice experiments in health economics: a review of the literature. Pharmacoeconomics 2014; 32: 883–902. 606 ARS MEDICI 13 | 2018