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KONGRESSBERICHT
15. Jahreskongress 2018 der SSAAMP
Better Aging und die Rolle der Ernährung
Was ist unter Plazebo wirklich zu verstehen und welche Auswirkungen hat chronischer Stress? Ist eine glutenfreie Diät notwendig und welche Bedeutung haben Mikronährstoffe für den menschlichen Organismus? An der 15. Jahrestagung der Swiss Society for Anti Aging Medicine and Prevention (SSAAMP) sprachen nationale und internationale Referenten über durchaus proaktive Inhalte.
Annegret Czernotta
Alles Plazebo?
Der Psychologe und Achtsamkeitsforscher PD Dr.
phil. Stefan Schmidt, Universitätsklinikum Freiburg
(D), Sektion Komplementärmedizinische Evaluati-
onsforschung, sprach über die Bedeutung von Plazebo
in der Heilkunst. In der heutigen Zeit, so der Acht-
samkeitsforscher, orientiere sich die Medizin stark an
einem kausal-mechanistischen Prinzip. «Der Mensch
wird als Maschine dargestellt, bei dem zum Beispiel
eine pharmakologische Substanz an einem bestimm-
ten Rezeptor eine Wirkung hat und dabei das Be-
wusstsein keine Rolle spielt», sagte Dr. Schmidt.
«Aber neben dem, was biochemisch wirkt, gibt es
auch einen Rahmen, dessen Wirkung wir übersehen.»
So sieht man bei chronischen Erkrankungen, dass
eine biomechanische Herangehensweise der Akutme-
dizin allein nicht mehr ausreicht, um den Menschen
zu therapieren.
Dass es eine Wirkung darüber hinaus geben muss,
zeigen Studien zu Plazeboeffekten. Als Plazebo be-
zeichnet man eine Aktivität oder Substanz, die eine
Wirkung auf eine Erkrankung oder ein Symptom aus-
übt, obwohl kein nachweislich spezifischer Einfluss
vorliegt.
In einer Studie von Colloca und Benedetti (2005) bei-
spielsweise wurde zuerst das Schmerzmit-
15e Congrès annuel 2018 «Better Aging»
tel Novalgin® (Metamizol) ohne Kenntnis und dann mit Wissen des Patienten verabreicht. Obwohl es um die gleiche Dosie-
Mots-clés: placebo et nocebo – maladie cœliaque – allergie au blé – télomérase – micronutriments
rung ging, zeigten sich Unterschiede in der Wirkung: Die offen verabreichte Dosis war wirksamer als die versteckt injizierte Dosis.
Que faut-il réellement comprendre sous placebo et quels sont les effets du stress chronique? Le régime sans gluten est-il nécessaire et quelle est l‘importance des micronutriments pour l’organisme humain? Lors de la 15e assemblée annuelle de la «Swiss Society for Anti Aging Medicine and Prevention», des intervenants nationaux et internationaux ont abordé de manière proactive ces questions et bien d’autres.
Der Nozeboeffekt wiederum ist eine Reaktion auf eine scheinbare negative Wirkung eines Arzneimittels. So kann beispielsweise das präoperative Aufklärungsgespräch des Arztes vor einem operativen Eingriff zu einem Nozeboeffekt führen. Juristisch betrachtet, müssen alle möglichen Nebenwirkungen aufgeführt werden, «diese Aufklärung selbst kann aber auch Schaden zufügen», so der Referent. Denn die Erwar-
tung von Nebenwirkungen könne dazu führen, dass diese auch eintreffen. Ein Ausweg aus dieser Misere könnte sein, so der Referent, dass es der Arzt dem Patienten überlässt, ob er über alle Nebenwirkungen aufgeklärt werden möchte. Ein weiteres Beispiel für einen Nozeboeffekt ist die Tetraphobie im asiatischen Raum. Die Zahl 4 ist dort negativ mit dem Tod assoziiert. In einer Studie zeigte sich, dass an einem 4. im Monat die Sterberate asiatischer Menschen signifikant höher ist. Beim Plazebo wiederum muss zwischen Plazebo und Plazeboeffekt unterschieden werden. Ein Plazebo ist ein nicht pharmakologisch wirksames Scheinmedikament. Der Plazeboffekt ist auf die Wirkung eines Plazebos zurückzuführen. Es wirkt laut dem Forscher Dan Moerman, weil es in einem Kontext verabreicht wird, das heisst: mit der Information, die gegeben wird, der Interaktion, wie beispielsweise die Tablette gegeben wird, und dem Aussehen der Tablette. Die Bedeutung des Effektes wird auch als «Meaning Response» bezeichnet: «Und damit ist Plazebo keine Störgrösse mehr, sondern ein wirkungsvolles Instrument.» Aspirin, bei Kopfschmerz verabreicht, hat beispielsweise die beste Wirkung, wenn der Name bekannt ist (Brantwhite and Cooper, BMK 1981), und wenig überraschend zeigt sich unter Aspirin ein stärkerer Rückgang der Kopfschmerzen als unter der Einnahme einer Zuckertablette. Aber sowohl die Wirkung von Aspirin als auch jene der Zuckertabletten war deutlich stärker, wenn sie aus einer Schachtel mit dem Markennamen entnommen wurden: «Diese Ergebnisse unterstreichen die grosse Bedeutung von Vorstellungen, die wir über die eingenommenen Medikamente haben.» Heilmittel sind demnach Heilrituale der Postmoderne, so die These von PD Dr. Schmidt. «Und im Grunde genommen unterscheiden sich diese nicht von uralten schamanischen Heilritualen.»
Notwendigkeit und Chancen einer glutenfreien Diät
Eine Unzahl an Büchern suggeriere heutzutage, dass Weizen für die Gesundheit gefährlich sei, sagte PD Dr. rer. nat. Walburga Dieterich vom Hector-Center für
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Ernährung, Bewegung und Sport an der Universitätsklinik Erlangen einleitend. «Werfen Sie diese Bücher weg», so die Biologin, «denn die Aussagen sind wissenschaftlich nicht belegt!» Trotzdem steigt der Umsatz glutenfreier Produkte kontinuierlich an. Waren es 2014 in Deutschland noch 70 Millionen Euro, wurden 2017 bereits 174 Millionen Euro für glutenfreie Produkte ausgegeben. Von den Käufern wiederum haben allerdings nur 28 Prozent eine ärztliche Diagnose und verzehren aus medizinischen Gründen glutenfreie Nahrungsmittel. Gluten ist ein Sammelbegriff für bestimmte Proteine (Klebereiweisse), die in den Getreidesorten Weizen (inkl. Dinkel, Grünkern, Einkorn, Emmer und Khorasan-Weizen – oft erhältlich unter dem Namen Kamut) sowie Gerste und Roggen enthalten sind. Alle heute angebauten Weizenarten sind Kulturarten und somit durch Züchtung entstanden. Alle Genome dieser Weizenarten wiederum enthalten Genorte für Glutene. Bei 1 von 100 Menschen lösen die Glutene eine Entzündung in der Dünndarmschleimhaut aus. Bei einem weiteren Verzehr von Gluten kommt es zu einer Atrophie der Dünndarmzotten, damit zu einer Verkleinerung der Kontaktfläche und zu einer verringerten Aufnahme und Unterversorgung des Körpers mit lebenswichtigen Vitaminen und Nährstoffen. Die Patienten klagen über abdominelle Schmerzen, Blähungen, Diarrhöen, Obstipation oder Übelkeit. Das klinische Spektrum ist jedoch sehr breit gefächert, und oftmals treten eher extraintestinale Symptome wie Eisenmangel, Blässe, Wesensveränderungen, Zahnschmelzdefekte, Depressionen, Osteoporose, Fehlgeburten und Leberwertveränderungen als atypische Symptome einer Zöliakie in den Vordergrund, wie Dr. Dieterich sagte. In der Diagnose zeigt sich eine genetische Prädisposition (HLA DQ2 oder DQ8), die Anzahl der intraepithelialen Lymphozyten ist erhöht (> 30/100), die Dünndarmmukosa ist geschädigt, und es liegen typische Serumantikörper vor (IgA-Antikörper gegen Transglutaminase bzw. Endomysium). Diese Patienten leiden an einer Zöliakie. Die Therapie besteht aus einer strikten und lebenslangen glutenfreien Diät (< 20 mg Gluten/Tag). Davon abzugrenzen sind die Weizenallergie und die Gluten-/Weizensensitivität (NCGS). Eine Weizenallergie äussert sich meist als Konjunktivitis, Rhinitis oder als Kontakturtikaria. Weizenmehl kann aber auch eine Nahrungsmittelallergie verursachen und zu Magen-Darm-Beschwerden, Müdigkeit, Herzstörungen, rheumatoider Arthritis, Depressionen, Epilepsie, Aggressivität oder Hyperaktivität führen. Als Auslöser sind zahlreiche Proteine des Weizens bekannt, das häufigste Allergen ist der αAmylase-Trypsin-Inhibitor (ATI; Tria 29, Tri a 30). Zur Diagnose werden Gesamt-IgE-Antikörper und spezifische Antikörper gegen Weizen bestimmt. Die Therapie besteht darin, auf Weizen, Dinkel, Emmer und Einkorn zu verzichten. Roggen und Gerste werden hingegen toleriert. Die Glutensensitivität ist eine reine Ausschlussdiagnose. Patienten mit Glutensensitivität weisen keine Mukosaschädigungen auf, und es sind bis heute keine spezifischen Serumantikörper bekannt. Die gastrointestinalen und extraintestinalen Symptome entsprechen häufig den Beschwerden der Zöliakiepatienten. Die Symptome treten sehr schnell (innerhalb weniger Minuten bis Stunden) nach Verzehr von glutenhaltigen Getreideprodukten auf und bessern sich oft rasch unter einer glutenfreien Diät. Weniger bekannt sei zudem, dass auch psychische Symptome unter einer NCGS auftreten könnten, sagte die Expertin. Bei einer Patientin mit NCGS lagen zusätzlich zu ihren gastrointestinalen Beschwerden beispielsweise Panikattacken und Depressionen vor. Als sie sich glutenfrei ernährte, gingen die psychiatrischen Symptome nach 2 bis 3 Wochen deutlich zurück. Weshalb die Symptome entstehen und ob die Glutene die alleinigen Auslöser der Glutensensitivität sind, ist völlig unklar. Was noch dahinterstecken könnte, zeigen Studien von Zanini et al. (2015) oder Biesiekierski J et al. (2013): So können die Ursachen auch in den FODMAPS (fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide and Polyole) liegen. Das sind kurzkettige Zucker wie Fruktane, Galaktane, Laktose, Fruktose, Sorbit und Mannit, die vom Dünndarm wenig absorbiert werden können und dadurch in den Dickdarm gelangen. Dort werden sie von den Darmbakterien schnell fermentiert. Hierbei entstehen Gase, wie zum Beispiel Hydrogen, Methan und Kohlendioxid, die zu gastrointestinalen Beschwerden führen können. Da Weizen viele Kohlenhydrate enthält, ist eine glutenfreie Diät deutlich FODMAP-reduziert – eventuell ein wichtiger Grund für den Rückgang der Symptome. Die genauen Ursachen für die Entstehung einer NCGS sind derzeit noch nicht bekannt. Vermutet werden auch individuelle Unterschiede des Mikrobioms. Die heutigen Empfehlungen lauten, glutenhaltige Getreidesorten für 6 bis 8 Wochen auszuschliessen. Danach kann Weizen in geringer Menge zugeführt werden, bis die ersten klinischen Symptome auftreten. Hierbei existieren individuelle Schwellenwerte, die von Patient zu Patient sehr unterschiedlich sind. Zusammenfassend hielt Dr. Dieterich fest, dass sich Zöliakiepatienten strikt glutenfrei ernähren müssen, bei einer Weizenallergie und NCGS müsse die Diät nicht ganz so streng eingehalten werden, es sollten aber stets die gastro- und die extragastrointestinale Symptomatik beobachtet werden. Bei Menschen ohne Symptome sei die glutenfreie Ernährung hingegen ein Hype. Positive Wirkungen auf die körperliche oder mentale Gesundheit seien fraglich, hielt Dr. Dieterich abschliessend fest. Denn Weizen ist ein überaus nährstoff- und energiereiches Lebensmittel. Telomere und Telomerasen Über neue Wege in der Aging-Diagnostik sprach Prim. Doz. Dr. Thomas Endler von der Universität Wien (A). Telomerase bildet die DNA des Telomers. Ohne Telomerase würde das Chromosom bei jeder Zellteilung kürzer, erodieren und untergehen. Die Dyskeratosis congenita, die aplastische Anämie wie Bei 1 von 100 Menschen lösen die Glutene eine Entzündung in der Dünndarmschleimhaut aus. Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2018 31 KONGRESSBERICHT auch die Lungenfibrose sind Folgen dieser TelomerTeleomerase-assoziierten Krankheiten. Das Wissen um die Länge des Telomers hilft bei der Beurteilung von Alterungsprozessen, indem sich beispielsweise die biologische von einer chronologischen Alterung unterscheiden lässt. Umweltbedingungen wie Rauchen, Alkoholabusus, Obesität und so weiter führen zu verkürzten Telomeren. Änderungen im Lifestyle wie die Einnahme der Vitamine C, D, E, von Omega-3-Fettsäuren, Statinen, Östrogenen und insbesondere ein gesunder Lebensstil wiederum inhibieren die Telomerkürzung. Goldstandard ist derzeit die TRF-Analyse (Terminal Restriction Fragment). Mikronährstoffe Laut Definition sind Mikronährstoffe essenzielle Komponenten im menschlichen Körper, die in geringen Mengen (weniger als 100 mg/Tag) zugeführt werden müssen. Sekundäre Pflanzenstoffe sind pflanzlichen Ursprungs, werden über die Ernährung aufgenommen, sind aber nicht essenziell, obwohl sie nachweislich einen präventiven Charakter haben können, wie Lutein oder Zeaxanthin bei der Makuladegeneration. Eine unausgewogene Ernährung mit zu wenigen Mikronährstoffen, Antioxidanzien und Anti-Krebs-Phytochemicals ist laut Hoffmann et al. (2017) einer der wichtigsten Faktoren für verlorene Lebensjahre. Denn ohne genügend Antioxidanzien finden inflammatorische Prozesse statt, die wiederum das Risiko für Alzheimer, Diabetes mellitus Typ 2, Autoimmunerkrankungen und vieles mehr erhöhen. Die SU.VI.Max-Studie zeige, dass ein Mehr an Supplementen aber nicht immer besser sei, erklärte Prof. Torsten Bohn, Universität Luxemburg und Principal Investigator am Luxembourg Institute of Health. So profitieren Männer stärker, wenn sie erst bei einem Mangel an Antioxidanzien supplementieren und nicht präventiv. Eine Ausnahme bilden ältere Erwachsene, die aufgrund veränderter Essgewohnheiten oder Krankheiten oftmals zu wenige Mikronährstoffe zu sich nehmen. Die letztere Aussage bekräftigte auch Dr. Szabolcs Péter von DSM Nutritional Products. Die deutsche Verzehrsstudie 2008 und die Ernährungsberichte 2008 und 2012 zeigen einen signifikanten Vitaminmangel bei den über 65-Jährigen, wobei dieser Mangel noch grösser wird, wenn sich die älteren Menschen in Institutionen befinden. Die Geschwindigkeit der Hirnatrophie bei älteren Menschen mit Mild Cognitive Impairment liesse sich beispielsweise mit der Einnahme von Vitamin B reduzieren, so Dr. Péter. Neuere Daten zeigen zudem, dass sich in Abhängigkeit vom Genotyp systolische und diastolische Hypertonie mit Vitamin B2 reduzieren liesse (Horigan et al. 2010). Quelle: 15. Jahreskongress SSAAMP (Swiss Society for Anti Aging Medicine and Prevention) «Better Aging», vom 10. März 2018 in Zürich. 32 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2018