Transkript
Ausstellung «nonstop»: die Zeit aus ungewohnten Perspektiven erleben
Im Wettlauf mit der
Die Zeit, von der wir meist zu wenig haben, wird in der Ausstellung «nonstop» zum Erlebnis. Die Schau führt den Besuchern die zunehmende Beschleunigung unseres Lebens vor Augen, fragt nach dem eigenen Lebenstempo und zeigt, weshalb die Zeit manchmal schnell und manchmal langsam vergeht.
von Eva Rosenfelder*
Hochnebel hängt über Lenzburg, das Städtchen präsentiert sich Grau in Grau. Umso stärker leuchtet die rote Eingangsrampe über dem Zeughausareal. Wie ein langer Teppich führt sie zur Ausstellung über die Geschwindigkeit des Lebens, eine Einladung für langsame und schnelle Zeitgenossen. Gemächlichen Schrittes überquere ich die wippende Rampe, die direkt in den ersten Stock des weitläufigen Gebäudes führt. Hier treffe ich die Dame wieder, die mich auf der Rampe mit forschem Schritt überholt hatte. Jetzt bewegt sie sich vorsichtig und langsam die steile Wendeltreppe hinunter, die von einer Estrade in den Eingangsbereich führt. Ich riskiere die Abkürzung über die Feuerwehrstange und lande nach rasanter Fahrt auf einer Matte vor der Kasse am Eingang.
Zeitlos Wir sind es gewohnt, am Gängelband der Zeit zu leben, im Takt von Fahrplä-
nen, Öffnungszeiten und Terminen. Deshalb ist es irritierend, Handy, Armbanduhr und Taschencomputer am Eingang abgeben zu müssen und damit der Zeitkontrolle beraubt zu werden. Die Ausstellung ist eine zeitfreie Zone. Von der Halle aus sind die besitzerlosen Objekte hinter einer Glaswand sichtbar, die, wenn auch nur für kurze Zeit, entmachtet sind. Die Ampel vor dem ersten Ausstellungsraum steht auf Rot und verbietet den Eintritt. Sie drosselt das Tempo der eintreffenden Besucher und erfordert einen unliebsamen Stopp, der ungeduldig macht. Erst bei Grün dürfen die Wartenden eintreten und tauchen unverhofft ins Ambiente einer Badehalle. Über mehrere Lautsprecher sind Töne von tropfendem Wasser zu hören, ein akustisches Klangbad, welches sich bald schonungslos zu einem Klanginferno steigert: Die Geräusche von klingelnden Handys, surrenden Computern, vorbei-
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AUSSTELLUNG
ALLE FOTOS: STAPFERHAUS / ANITA AFFENTRANGER
Zeit
brausenden Zügen und Autohupen wachsen zu einem Crescendo an, das die Zuhörer mitten in die Hektik einer beschleunigten Zeit zerrt. Starke innere Bilder entstehen und erzeugen ein Gefühl von Stress. Der Geräuschteppich löst sich langsam wieder auf, ein Hall, ein Echo, ein Hauchen nur noch, und wie von Geisterhand öffnet sich eine Türe und entlässt die Besucher in die Ausstellungshalle.
Immer schneller Im nächsten Raum werden Kurzfilme gezeigt mit Statements von Investoren und Managern zur Geschwindigkeit ihrer Branche. Ihre Devise lautet einhellig: Zeit ist mehr als Geld. Ohne Beschleunigung keine Innovation und keine Produktivitätssteigerung und somit auch kein Fortschritt, erklären die Tempomacher im Brustton der Überzeugung. Ihre Erfindungen, um Zeit zu sparen, sind vielfältig: Melkroboter, die das Mel-
ken beschleunigen, Fertiggerichte, die die Kochzeit verkürzen, und Maschinen, die das Tempo der Briefspedition um das Zwanzigfache steigern. Zwei Besucherinnen nebenan spötteln: «Ich brauche Freizeit, um mich vom Stress des Zeitsparens zu erholen», sagt die eine. «Um dann die gesparte Zeit in Ruhe totzuschlagen», grinst die andere. Mir kommt dazu ein Satz in den Sinn, den ich im Prospekt zur Ausstellung gelesen habe: dem Tag nicht mehr Stunden geben, aber den Stunden mehr Tiefe.
Von der Lebenszeit-Bar zu den Zeitinseln Eine ungewöhnliche Bar offeriert à la carte persönliche Geschichten über die Wahrnehmung der Geschwindigkeit: Eine Unfallchirurgin berichtet von Minuten, die über Leben entscheiden, und ein Schüler erklärt, warum die Zeit während der Schulstunden scheinbar stehenbleibt. Von langen Stunden, die un-
erträglich werden können, weiss eine Arbeitslose zu erzählen. Die Nonstop-Gesellschaft birgt viele Geschichten, doch es braucht Zeit, ihnen zu lauschen. Dass die Stimmen auf Vinylplatten zu hören sind, hat seinen Reiz: Zusehen, wie sich die Grammofon-Nadel durch die Geschichten tastet, kein Zappen zulässt, sondern bedächtig von Rille zu Rille kreist. Eile ist hier ein Fremdwort. Doch nicht viele Besucher haben die Geduld, zuzuhören. Die Bar ist fast leer. Ich begebe mich wieder in den unteren Stock, wo an watteweissen Wänden Zeitinseln eingerichtet sind. Mit einem Stethoskop an den Ohren kann man dort verweilen und den Tipps von Time-Therapeuten lauschen. Hier ist ein reger und rastloser Wechsel zu beobachten.
Im Time-Labor Wie viel Uhr mag es sein? Im Time-Labor kann man die subjektive Zeitwahrneh-
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Eile mit Weile: einen Moment lang innehalten
mung testen. Mein knurrender Magen erzählt etwas von Mittag. Ich vergleiche meine innere Uhr mit der Abweichung gegenüber der gemessenen Zeit. 20 Minuten daneben – der gefrässige Magen wusste Bescheid. Unsere innere Uhr hat ihre eigene Zeitmessung. Äussere Sachzwänge, aber auch das eigene Verhalten können die innere Uhr beeinflussen. Den eigenen Rhythmus mit dem von aussen geforderten Rhythmus in Einklang zu bringen, ist nicht einfach und bedarf der Übung. Auch kurze Auszeiten sind wichtig. Ihnen ist der Tisch mit den «Augenblicken, die auf der Zunge vergehen» gewidmet. Er ist beliebt bei den Besuchern, und manch einer verweilt dort etwas länger. Grund dafür sind die Schokoladehäppchen, die zwar nicht in Worte zu fassen sind, dafür umso süsser im Mund der Besucher dahinschmelzen. Nebenan spuckt ein Computer die Quittung aus, wie viele Jahre man vom Leben noch erwarten kann. Die Zahl, die der Computer aufgrund des Geburtsjahres errechnet hat, ist trocken, konfrontierend und verschafft schonungslose Gewissheit: Lebenszeit kann man weder aufhalten noch beschleunigen. Mit Auf-
nahmen im Zeitraffer oder in Zeitlupe wird dies am Tisch nebenan simuliert, und es zeigen sich verblüffende Perspektiven. Das letzte Wort aber behält die Echtzeit; sie ist es, welche die Deadline setzt: Davon erzählen die in einem Schaukasten vor sich hin schimmelnden Erdbeeren.
Träume vom Sein Im Halbdunkel des Dachstockes tritt der Besucher ins Reich der Wünsche und Träume. Hier kann man verweilen und nachsinnen: Wofür hätte ich gern mehr Zeit? Was sind die besten Momente meines Lebens? Was möchte ich unbedingt noch erleben, und was kommt in meinem Leben immer zu kurz? Die Antworten können auf Papierfahnen geschrieben und mit Wäscheklammern an Drahtfäden befestigt werden; wie Spinngewebe hängen diese von der Decke des schummrigen Raumes. Die aufgeschriebenen Wünsche sind sich verblüffend ähnlich. Ticken wir doch nicht so verschieden, wenn wir uns ein wenig Zeit nehmen, um zu träumen?
*Eva Rosenfelder ist freischaffende Journalistin. Sie lebt in Winterthur.
INFO
«nonstop» – eine Ausstellung über die Geschwindigkeit des Lebens Bis 29. November 2009 im Zeughausareal Lenzburg, Ringstrasse West 19, Lenzburg Tel. 062-888 48 12 Internet: www.stapferhaus.ch Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr (Donnerstag bis 20 Uhr) Eintritt: Erwachsene: Fr. 16.–, Schüler und Lehrlinge Fr. 10.–, Kinder: Fr. 8.–.
Führungen Öffentliche Führungen jeweils am ersten Sonntag im Monat, 11 Uhr Spezialführungen für Frühaufsteherinnen und Frühaufsteher: Donnerstag, 10. September 2009, 6 bis 7.30 Uhr, mit Kaffee und Gipfeli Für Zeitmillionäre: Dienstag, 20. Okt. 2009, 14 Uhr, mit Kaffee und Kuchen
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