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Demenz als differenzialdiagnostische Herausforderung
Demenz ist ein deskriptiver klinischer Begriff, der ein Syndrom verschiedener kognitiver Störungen beschreibt, das bei den betroffenen Menschen zu einer Beeinträchtigung ihrer Alltagskompetenzen führt. Die Abklärung eines Demenzsyndroms dient der Erkennung von reversiblen und nicht reversiblen Ursachen. Im Folgenden werden die wichtigsten Ursachen und das diagnostische Vorgehen beschrieben.
Bernd Ibach
Bernd Ibach
Definition Demenz
D ie diagnostischen Kriterien eines Demenzsyndroms gemäss der ICD-10-Klassifikation verlangen neben der nachlassenden kognitiven Leistungsfähigkeit eine Störung der Affektkontrolle, des Antriebs oder der sozialen Kompetenz einschliesslich der Urteilsfähigkeit. Zu beachten ist, dass Demenzen auch ohne Gedächtnisstörungen auftreten können. Der Ausschluss einer Bewusstseinsstörung und die Dauer der Beschwerden über mindestens 6 Monate sind obligat. Eine andere Ursache der Beschwerden muss ausgeschlossen sein. Dies gilt besonders für das Delir, das sich akut entwickelt, mit einer Bewusstseinseinschränkung einhergeht, in der Symptomausprägung stark fluktuiert und bei dem es zu einer Überlappung mit den Symptomen einer Demenz kommt. Häufig wird dann bei Menschen mit Demenz von einer akuten Verschlechterung des Befindens berichtet. Typisch für eine Depression sind ein anhaltender depressiver Affekt mit Antriebsmangel, Interessensverlust, Freudlosigkeit, einem Gefühl der Wertlosigkeit, Versagensängsten, Schlafstörungen und körperlichen Beschwerden. Trotz Klagen über eine nachlassende Merkfähigkeit sind die typischen kognitiven Störungen überwiegend den Demenzsyndromen vorbehalten. Depressionen im höheren Alter können jedoch Vorboten einer Demenz sein und gehen mit einem erhöhten Konversionsrisiko einher. Wahnsymptome, optische Halluzinationen und Beziehungsideen können bei Störungen aus dem Schizophreniespektrum wie auch als Erstmanifestation eines Demenzsyndroms beobachtet werden. Demenztypisch und häufig sind jedoch Be-
stehlungsideen, Beeinträchtigung durch fremde Menschen im Haus und optische Halluzinationen.
Risikosyndrom Mild Cognitive Impairment (MCI) Lassen sich kognitive Störungen objektivieren, ohne dass die betroffenen Personen nennenswerte Probleme damit haben, sich im Alltag selbstständig zurechtzufinden (im Gegensatz zur Demenz), liegt ein MCI (ICD 10: F06.7) vor. Meistens steht eine Beeinträchtigung des episodischen Gedächtnisses im Vordergrund, andere kognitive Störungen sind ebenfalls möglich. Etwa ein Drittel der Menschen mit einer MCI entwickelt eine Demenz.
Differenzialdiagnose der Demenzursachen Die häufigste Ursache für ein Demenzsyndrom ist die Alzheimer-Krankheit, danach folgen vaskuläre und gemischte Demenzen. In etwa 10 Prozent der Fälle liegen behandelbare Ursachen vor, bei denen von einer teilweise vorhandenen Reversibilität ausgegangen werden kann. Das gilt auch für hochbetagte Menschen, bei denen klinische Beschwerden oft in subsyndromaler Form vorliegen. Einige Beispiele sind in Kasten 1 aufgelistet. Kognitive Störungen werden in 10 Prozent der Fälle mit toxischen Alkoholwirkungen in Zusammenhang gebracht und sind zumindest teilweise reversibel, sodass eine Alkoholkarenz sehr lohnenswert ist. Die seltenen Autoimmunenzephalitiden manifestieren sich typischerweise mit einer akuten polymorphen neurologisch-psychiatrischen Symptomatik und bedürfen einer gründlichen Abklärung. Sie können in Zusammenhang mit einer malignen Erkrankung, einer Virusenzephalitis oder als eigenständiges Krankheitsbild auftreten und sind teilweise einer immunsuppressiven Therapie zugänglich.
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Die Alzheimer-Krankheit ist klinisch durch einen langsam progredienten Verlauf und eine Beeinträchtigung des episodischen Gedächtnisses charakterisiert. Typischerweise sind im weiteren Krankheitsverlauf sämtliche kognitiven Domänen betroffen. Eine sehr frühe Störung der räumlichen Orientierung oder Wortfindungsstörungen können das variable klinische Bild dominieren. In der Magnetresonanztomografie (MRT) lassen sich oft in der mediobasalen Schläfenrinde die ersten atrophischen Prozesse nachweisen.
Frontotemporale Demenzen Bei den frontotemporalen Demenzen (FTD) handelt es sich um eine heterogene Gruppe von neurodegenerativen Erkrankungen. Unterschieden werden eine behaviorale Variante (FTD bv) und drei Sprachvarianten. Die FTD bv ist durch eine frühe Wesensänderung und soziale Verhaltensauffälligkeiten charakterisiert (70%). Bei der semantischen Demenz (FTD sv) dominiert vor allem in der ersten Krankheitsphase das Bild einer semantischen Aphasie, bei den nicht flüssigen progressiven Aphasien (FTD nfv) finden sich vor allem Symptome einer Broca-Aphasie oder einer Logopenie mit angestrengter Sprachproduktion. FTD können durch ein Parkinson-Syndrom oder eine amyotrophe Lateralsklerose kompliziert werden. Die Vielfältigkeit der neuropathologisch-genetischen Befunde erschweren die Suche nach wirksamen Therapieansätzen. Aufgrund des oft frühen Krankheitsbeginns zwischen dem 6. und 7. Lebensjahrzehnt und der vielfältigen klinischen Symptome ist die Abgrenzung zur Erstmanifestation psychiatrischer Störungen erforderlich. In der MRT lässt sich häufig eine frontotemporale, teilweise asymmetrische kortikale Atrophie feststellen.
Demenz bei Lewy-Body-Krankheit Unter diesem Begriff werden die Lewy-Body-Demenz (LBD) und die Parkinson-Demenz (PD) subsumiert, die zirka 10 bis 15 Prozent aller Demenzen ausmachen. Klinisch dominieren eine fluktuierende kognitive Verlangsamung, eine Störung der Aufmerksamkeit, die durch Bewusstseinseinschränkungen unterschiedlicher Dauer und Intensität charakterisiert ist, sowie eine Störung der visuoperzeptiven und exekutiven Fähigkeiten. Differenzialdiagnostisch sind daher ein Delir und Synkopen zu berücksichtigen. Bei LBD entwickelt sich sehr früh eine oft symmetrische hypokinetisch-rigide Parkinson-Symptomatik. Umschriebene optische Halluzinationen sind ebenso häufig (60%) wie eine bereits präklinisch diagnostizierbare REM-Schlaf-Störung. In der MRT lässt sich früh eine kortikale parieto-okzipitale Atrophie nachweisen.
Vaskuläre Demenzen Die Gruppe der vaskuläre Demenzen macht etwa 15 bis 20 Prozent aller Demenzen aus und steht für kein einheitliches Krankheitsbild, sondern für eine Reihe von Pathologien mit akuten oder langsam progredienten Verläufen. Schlaganfälle können eine Rolle spielen. Die neuropsychologischen Defizite sind nicht generalisierbar. Bei alten Menschen steht oft eine allgemeine Verlangsamung der kognitiven Funktionen im Vordergrund, ein prominentes Gedächtnisdefizit wie bei der Alzheimer-Krankheit lässt sich aber nicht immer nach-
Kasten 1:
Beispiele von seltenen Ursachen potenziell reversibler kognitiver Störungen
Neoplasmen metabolische Erkrankungen Elektrolytstörungen Traumen Toxine Infektionen Autoimmunerkrankungen Pharmaka Mangelernährung Morbus Whipple Sarkoidose
weisen. Gangunsicherheiten, Stürze oder ParkinsonSymptome sind häufig zu beobachten. Depressionen und Affektlabilität sind typische psychiatrische Symptome. Im MRT lassen sich Territorialinfarkte unterschiedlicher Ausdehnung, zum Teil konfluierende lakunäre Läsionen in den Basalganglien und im gesamten Marklager nachweisen. Die Koinzidenz von Gefässund Alzheimer-Pathologie ist hoch und erklärt gemeinsame Risikofaktoren.
Normal-Pressure-Hydrocephalus (NPH) Klinisch wird der NPH (Prävalenz 1–5%) durch die Hakim-Trias Demenz-Gangstörung-Inkontinenz charakterisiert, die allerdings oft nur inkomplett ausgebildet ist (!). Typisch ist eine kognitive Verlangsamung, das Gangbild erinnert an «Bügeleisen, die an den Füssen hängen», und wird von einer Dranginkontinenz begleitet. Im MRT sind typischerweise erweiterte Seitenventrikel mit Polkappen und ein verstrichenes Kortexrelief apikal zu sehen. Früh erkannt, lässt sich die Symptomatik durch einen Liquorshunt behandeln, später sind graduelle Verbesserungen einzelner Komponenten möglich.
Medikamente und Kognition Die Einnahme von Benzodiazepinen, zentral wirksamen anticholinergen Substanzen, H1-Antihistaminika und Opioiden und eine Polypharmazie erhöhen – neben anderen Substanzen – das Risiko für eine kognitive Störung. Medikamente, die als kritisch für die Kognition eingestuft werden, und deren Alternativen können in der Priscus-Liste (http://priscus.net/download/PRISCUSListe_PRISCUS-TP3_2011.pdf ) eingesehen werden.
Diagnostisches Vorgehen Zur Basisuntersuchung gehören eine ausführliche Anamnese über den Verlauf der Beschwerden, deren Reihenfolge (erste Auffälligkeiten, Gedächtnis, Sprache, Orientierung, Verhalten) und Alltagsrelevanz, das allgemeine Befinden, neurologische und andere somatische Symptome, Fremd-, Familien-, Sozial- und Medikamentenanamnese, Noxen und das Erfragen von Hinweisen auf eine familiäre Belastung. Zur erweiterten Basisdiagnostik werden folgende Serum- beziehungsweise Plasmauntersuchungen emp-
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Kasten 2:
Differenzialdiagnostik Demenz – State of the Art
Klinische Basisuntersuchung Diagnose Demenzsyndrom
Anamnese Somatischer Status Kognitiv-psychopathologischer Status inklusive kognitiven Screenings
Apparative Basisuntersuchung Ätiologie, Ausschlussdiagnostik, kognitives Störungsprofil
Basislabor Bildgebung Neuropsychologie
Spezielle Zusatzuntersuchungen Ätiologie
Liquordiagnostik, Biomarker, Serologie, Antikörperdiagnostik, funktionelle Bildgebung inklusive FDG- oder AmyloidPET, Sonografie, EEG, Genetik
fohlen: Blutbild, Elektrolyte (Na, K, Ca), Nüchtern-BZ, TSH, BSG oder CRP, GOT, Gamma-GT, Kreatinin, Harnstoff, Vitamin B12. In klinisch unklaren Situationen, bei atypischen Syndromen, rascher Progredienz oder jungem Alter und bei bestimmten Verdachtsdiagnosen sollen weitere spezielle Laboruntersuchungen durchgeführt werden (S3Leitlinie Demenz 2016, www.dgppn.de) (Kasten 2).
Zusatzdiagnostik Neuropsychologie Bei fraglicher oder leichtgradiger Demenz und anderen unklaren Befunden soll zur Differenzialdiagnostik eine neuropsychologische Untersuchung durchgeführt werden. Der Schweregrad und das Muster der kognitiven Beeinträchtigung sowie die Verhaltensbeobachtung
Merkpunkte:
G Die diagnostischen Kriterien eines Demenzsyndroms gemäss der ICD-10-Klassifikation verlangen neben der nachlassenden kognitiven Leistungsfähigkeit eine Störung der Affektkontrolle, des Antriebs oder der sozialen Kompetenz einschliesslich der Urteilsfähigkeit.
G Die häufigste Ursache für ein Demenzsyndrom ist die Alzheimerkrankheit, gefolgt von vaskulären und gemischten Demenzen. In etwa 10 Prozent der Fälle liegen behandelbare Ursachen vor.
G Zur Basisuntersuchung gehört ua. eine ausführliche Anamnese, in unklaren Situationen sind spezielle Laboruntersuchungen nötig.
G Sämtliche auffälligen apparativen Untersuchungsbefunde müssen stets im Gesamtkontext und engem Zusammenhang mit den klinischen Untersuchungsbefunden interpretiert werden.
geben wertvolle Hinweise auf die Ursache und die Auswirkungen der Störung. Verbleibende Ressourcen und Möglichkeiten zu deren Nutzung werden so identifiziert.
Zerebrale Bildgebung In der Routinediagnostik wird die Durchführung einer zerebralen Bildgebung empfohlen, idealerweise eine MRT. Die kortiko-subkortikale Hirn- und Gefässpathologie lassen sich darstellen, und andere Pathologien wie Tumoren können hiermit weitgehend ausgeschlossen werden.
Liquordiagnostik Bei Hinweisen auf das Vorliegen einer entzündlichen oder infektiösen ZNS-Erkrankung sollten das Liquorbasisprofil und eine spezifische Liquordiagnostik durchgeführt werden. Ergibt die Erstdiagnostik klinisch unklare Befunde, kann die kombinierte Bestimmung der Biomarker β-Amyloid 1-42/-40, Gesamt-Tau und PhosphoTau empfohlen werden. Deren Differenzierung innerhalb der neurodegenerativen und gegenüber den vaskulären Demenzen ist nicht ausreichend.
Funktionelle Bildgebung Die FDG-PET hat ihre Stärke in der Abgrenzung zwischen der Alzheimer-Krankheit und den FTD. Ein FP-CIT(Dopamin-Transporter)-SPECT kann in klinisch unklaren Fällen für die Differenzialdiagnose einer LBD eingesetzt werden. Seit kurzer Zeit können mittels eines AmyloidPET zerebrale Amyloidablagerungen im Gehirn dargestellt werden. Bei einem klinisch diagnostizierten Demenzsyndrom kann ein positiver Amyloid-PET-Befund auf eine zugrunde liegende Alzheimer-Krankheit hinweisen, während ein negativer Befund gegen diese Diagnose spricht.
Memo Demenzdiagnostik
Sämtliche auffälligen apparativen Untersuchungsbe-
funde müssen stets im Gesamtkontext und in engem
Zusammenhang mit den klinischen Untersuchungs-
befunden interpretiert werden.
Eine frühzeitige Diagnostik ist die Grundlage, um eine
in der Regel langfristige Behandlung und Versorgung
von Patienten mit Demenz und allen Betroffenen zu er-
möglichen (S3-Leitlinie Demenz DGPPN).
G
Korrespondenzadresse:
PD Dr. med. Bernd Ibach
Chefarzt
Zentrum für Alterspsychiatrie und Privé
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Schwerpunkt Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie
Schwerpunkt Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie
Clienia Littenheid AG
Laubgasse 27a
8500 Frauenfeld
E-Mail: bernd.ibach@clienia.ch
Literatur:
1. A Gietl, E Savaskan: Psychup2date 2014; 8: 349–363.
2. A Drzezga, O Sabri, A Fellgiebel: Frühdiagnose des Morbus Alzheimer: Amyloid-Bildgebung – Reif für die Routine? Deutsches Ärzteblatt 2014; 111, 26: 1206–1210.
3. JF Holle, F Jessen, J Kuh: Klinische Phänomenologie der Autoimmunenzephalitiden. Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: 271–280.
4. https://www.dgppn.de/leitlinien-publikationen/leitlinien.html
5. https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-who/kodesuche/onlinefassungen/htmlamtl2016/block-f00-f09.htm
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