Transkript
KURZGESCHICHTE
Das Rätsel der Prinzessin
von Simona Ryser*
ILLUSTRATION: PETER WANNER
Eines Morgens erhob sich das Mägdelein von seinem Gemach und kratzte sich am gülden gelockten Köpfchen. «Was pickst mich da an meinem oberen Stübchen?», fragte es den ihr angetrauten Minibären. Dieser aber schaute stumm und schweigend mit seinen treuherzigen Augen in den Tüllvorhang, der noch oberhalb der beiden schwebte. Da regte sich vorwitzig die graue Stoffmaus: «Vielleicht eine Laus?», und bald schon kamen Diener und Untertanen herbeigerannt. «Eine Laus in der Infantin Haus?!», riefen sie mit bebenden Stimmen und schüttelten Bettzeug, Pfulmen und Duvet, dass die Federn nur so flogen. Als das holde Mägdelein alsbald aus dem Nachtrock stieg und die Bediensteten ihr ins Tagesgewand helfen wollten, stockte ihnen der Atem: «Nicht eine Laus! Eine ganze Heerschar muss es sein!» Und auch die schöne Prinzessin dünkte es, die Läuse kitzelten sie nun gar arg am ganzen Körper. Die kleinen Finger griffen und suchten nach den winzigen Tieren und kratzten an Beinen und Po. Die Bediensteten erröteten vor Ärger und Missmut über die böse Attacke. Mit einem Vergrösserungsglas und feuchten Tüchern wollten sie die fiesen Tiere finden
und dem Juckreiz der Prinzessin Linderung bringen. Allein, es war nichts zu finden. Keine Laus weit und breit. Dafür rote Punkte überall am Prinzessinnenkörper! Dieweil der kleinen edlen Dame nun doch einige Tränen über die roten Apfelwangen kullerten, welche die Dienerin geschwind mit einem weichen Taschentuch trocknete, eilte der Diener zum Telefon, um den Herrn Doktor zu rufen. «Eine Katastrophe ist am Hof geschehen! Unsere edle Dame ist gepunktet!» Unterdessen hielt die Dienerin das Händchen der Prinzessin, sprach einige hilflose Worte über gepunktete Tiere, wie auch die Giraffe eine sei, und die doch gar lustig anzusehen sei bis der Diener von seinem Telefonat zurückkehrte. Auf! Auf! die Kutsche soll vorfahren. Keine Zeit sei zu verlieren, der Doktor habe gerade einen freien Termin. Und so eilte die kleine Prinzessin, die schöne Infantin, das holde Jungfröilein mit ihrem Geleit davon, dass die Reifen in den Kurven nur so quietschten. Ein Rätsel soll gelöst werden, eine Ausschreibung mit einem Preis für den, der in Erfahrung bringen kann, von welch eigentümlichem Geheimnis die kleine Prinzessin so plötzlich umhüllt ist! Zur Belohnung, so dachte sich die guther-
zige Infantin, dürfe der glückliche Sieger ihre ganz persönliche 9-Uhr-Speise vertilgen (die heute, wie sie von ihren Bediensteten bereits erfahren hatte, aus einer doppelschichtigen Zwiebackschnitte mit Käseaufstrich und einem kleinen Apfel bestand). Wenige Augenblicke später beäugte also der Herr Doktor die roten Punkte der Prinzessin und sah seine Vermutung bestätigt. Er löste das Rätsel mit einem einzigen Zauberwort: «Wilde Blattern!», worauf ihm die Prinzessin mit einem sanften Augenaufschlag ihre 9-UhrSpeise-Box überreichte (auf die er mit einem untertänigen Lächeln wohlwollend verzichtete). Die Prinzessin aber verkündete alsbald in ihrem Reich, dass das Rätsel gelöst sei. Die Tiere und Puppen regten sich freudig in ihren Körben und Kisten, weil sie wussten, dass jetzt eine kurzweilige Zeit der Freude und des Spiels auf sie zukam. Nur die Stoffmaus zog sich kleinlaut und beschämt über ihren Lausirrtum in eine Kissenecke des königlichen Gemaches zurück. Für die Eltern aber begann eine arbeitsreiche Zeit.
*Simona Ryser ist Autorin, freie Journalistin und Sängerin. Sie lebt in Zürich.
46SPRECHSTUNDE 3/09