Transkript
EDITORIAL
Fingerspitzengefühl
Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, mittels Datenhandschuh etwas vermeintlich zu berühren, was in Wirklichkeit gar nicht da ist. Ich erinnere mich noch gut daran, wie verblüfft ich war, als ich so etwas Ähnliches Mitte der 1990er-Jahre an einer Tagung ausprobieren durfte. Ein cooler Handschuh war das zu jener Zeit freilich noch nicht. Die taktile Virtual Reality wurde mittels zehn Fingerhut-ähnlicher Kappen erzeugt, die mit einem Computer verkabelt waren. Der Effekt war erschreckend real. Ich weiss nicht, was aus den beiden sehr, sehr jungen Bastlern geworden ist, die mir ihr Werk damals voller Stolz vorführten. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass sie in ihrer weiteren beruflichen Laufbahn dazu beigetragen haben, «das Gefühl in die minimalinvasive Chirurgie zurückzubringen», wie es einer der Entwickler des OP-Roboters MiroSurge (1) einmal ausdrückte. Es ist bis heute so, dass den Chirurgen bei konventionellen laparoskopischen Eingriffen oder auch beim Operieren mit dem Da-Vinci-System eine ganz wichtige Information fehlt, nämlich das Gefühl in den Fingerspitzen. «Versuchen Sie mal, ein Streichholz mit anästhesierten Fingern anzuzünden, das ist fast unmöglich», veranschaulichte das Problem der Robotikspezialist Prof. Hannes Bleuler von der Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) kürzlich an einer Tagung in Lausanne (2).
Doch die mangelnde Fingerspitzensensibilität bei der Schlüssellochchirurgie könnte behoben werden. Der bereits erwähnte MiroSurge vermittelt taktiles Feedback und kompensiert darüber hinaus nicht nur allfälliges Zittern des Operateurs, sondern auch regelmässige Bewegungen des Patienten, wie Atmung und Herzschlag. Dadurch könnte der Einsatz einer Herz-LungenMaschine für viele Eingriffe überflüssig werden, hoffen die Entwickler. Experimentell funktioniere das bereits, aber es dürfte noch einige Zeit dauern, bis diese Technologie in den Spital-OP einziehen werde, sagte Bleuler. Auch wenn heutige Chirurgen, geübt mit den verfügbaren Systemen, meinten, die taktile Rückkopplung eigentlich gar nicht mehr zu benötigen – wenn sie erst einmal verfügbar ist, wird man sie nicht mehr missen wollen, da ist sich der Robotikfachmann ganz sicher. Übrigens sei die Bezeichnung OP-Roboter nicht wirklich zutreffend, betonte er in Lausanne, denn schliesslich operiere immer noch der Mensch und nicht der Roboter. So faszinierend die neuen Technologien im OP auch sein mögen, letztlich sind sie nichts mehr und nichts weniger als Hilfsmittel, um die Vorteile der Schlüssellochchirurgie besser nutzen zu können. Und ja, ein bisschen Science-Fiction darf an dieser Stelle nicht fehlen: Der Chirurg könnte auch am anderen Ende der Welt sitzen und einen OP-Roboter telemedizinisch von der Ferne aus steuern. Doch Halt!: Das ist keine Science-Fiction, sondern das wurde bereits vor 17 Jahren mit weit primitiveren Hilfsmitteln transatlantisch zustande gebracht (3). Ich finde es jedenfalls bemerkenswert und irgendwie auch beruhigend, dass man die Bedeutung des menschlichen Fingerspitzengefühls in einem so hoch technisierten Bereich wie der OP-Robotik wiederentdeckt hat.
Renate Bonifer
1. Mehr zu MiroSurge: https://www.rosenfluh.ch/qr/mirosurge
2. Kongress der fPmh, 24. bis 25. Mai 2018 in Lausanne 3. Marescaux J et al.: Transatlantic robot-assisted telesurgery. Nature
2001; 413: 379–380.
ARS MEDICI 11 | 2018
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