Transkript
Anders als bei Erwachsenen!
Obstipation bei Kindern
FORTBILDUNG
Die Obstipation (oft assoziiert mit Stuhlinkontinenz) gehört zu den sehr häufigen Gesundheitsstörungen im Kindesalter. In ihrer Pathogenese und klinischen Präsentation unterscheidet sie sich wesentlich von der Obstipation im Erwachsenenalter. In den meisten Fällen liegen funktionelle Störungen ohne organische Erkrankungen zugrunde. Wenn die Obstipation in den ersten Lebenswochen begonnen hat, muss man an angeborene Erkrankungen denken. Eine zielgerichtete Diagnostik beruht vor allem auf Anamnese, klinischem Befund und Sonografie. Die Therapie bei funktioneller Obstipation beginnt mit der Entfernung angestauter Stuhlmassen (Desimpaktion). Anschliessend ist eine langfristige Therapie mit oral applizierten Stuhlweichmachern indiziert, oft zusammen mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen.
Martin Classen
Eltern beobachten die Stuhlentleerung ihrer Kinder in den ersten Lebensjahren besonders intensiv und aufmerksam. Unregelmässigkeiten geben Anlass zur Sorge und führen dann zur Vorstellung des Kindes in der Praxis. Stuhlverhalt, seltene oder erschwerte Darmentleerungen als mögliche Manifestationen einer Obstipation gehören zu den häufigen Vorstellungsgründen in der Praxis. Eine Obstipation bei Kindern wird meist als harmlose Problematik eingeschätzt. Eltern werden mit dem Rat, für mehr Flüssigkeitszufuhr und eine gesunde Ernährung zu sorgen,
MERKSÄTZE
Die über die klinischen, darmassoziierten Kriterien hinausgehenden Symptome der Obstipation sind vielgestaltig; Bauchschmerzen sind keineswegs obligat.
Die Obstipation wird selten durch Fehlbildungen oder organische Erkrankungen verursacht, differenzialdiagnostisch kommt jedoch ein breites Spektrum von Erkrankungen verschiedener Organsysteme infrage.
Zum Ausschluss organischer Ursachen muss jedes obstipierte Kind mit oder ohne Stuhlinkontinenz ärztlich untersucht werden.
Die Obstipation wird hauptsächlich mittels initialer Desimpaktion und medikamentöser Dauertherapie behandelt; Ziel ist eine regelmässige, komplette und schmerzfreie Darmentleerung.
Das inkonsequente Management einer akuten Obstipation begünstigt die Entwicklung einer funktionellen chronischen Obstipation, welche die häufigste Ursache einer Stuhlinkontinenz bei Kindern darstellt.
nach Hause geschickt. Diese Massnahmen haben oft aber keinen ausreichenden Effekt. Das inkonsequente Management einer akuten Obstipation begünstigt dann die Entwicklung einer funktionellen chronischen Obstipation. Die funktionelle Obstipation ist wiederum die häufigste Ursache einer Stuhlinkontinenz bei Kindern.
Definitionen
Wegen der grossen altersabhängigen Variabilität kann bei Kindern die Obstipation nicht allein über die Defäkationsfrequenz definiert werden. Die diagnostischen Kriterien der Obstipation insgesamt überschneiden sich weitgehend mit denen der funktionellen Obstipation, die von der Rom-IVKonferenz entwickelt wurden. Beachten sollte man, dass die Inkontinenz in der Definition enthalten ist (Kasten 1).
Symptome der Obstipation
Die über die klinischen, darmassoziierten Kriterien hinausgehenden Symptome der Obstipation sind vielgestaltig. Nicht jedes Kind mit Obstipation kann nach anamnestischen Kriterien erfasst werden, gerade wenn bei zunehmend selbstständigen Schulkindern den Eltern die seltene Darmentleerung nicht auffällt. Bauchschmerzen sind keineswegs obligat (10– 70% der Patienten) (3). Bei voll gestillten Säuglingen müssen indirekte Zeichen wie Vorwölbung des Abdomens, schlechtes Gedeihen, Subileuszeichen oder anhaltendes Weinen als Hinweis für eine Obstipation gesehen werden. Kleinkinder mit funktioneller Obstipation versuchen mehrfach pro Tag durch Überstreckung, Anspannung des Beckenbodens oder Fersensitz, aktiv den Stuhl zurückzuhalten (Rückhaltemanöver). Eine mehrtägige Stuhlretention kann in 10 bis 25 Prozent der Fälle auch zu vermindertem Appetit und einer Gedeihstörung beitragen (3). Eines der Kardinalsymptome der Obstipation ist die Stuhlinkontinenz. Sie kommt bei bis zu 84 Prozent der Kinder bei der initialen Präsentation vor.
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Kasten 1:
Funktionelle Obstipation – diagnostische Kriterien (Rom-IV-Konferenz) (1, 2)
Zwei oder mehr der folgenden Kriterien müssen mindestens einmal pro Woche über mindestens einen Monat erfüllt sein, ohne dass die diagnostischen Kriterien eines irritablen Kolons erfüllt sind: 1. ≤ 2 Defäkationen pro Woche (auf der Toilette, falls die Kinder toilet-
tentrainiert sind) 2. ≥ 1 Episode von Stuhlinkontinenz pro Woche nach dem Erlernen des
Toilettengangs bzw. nach dem Erreichen eines Entwicklungsalters von 4 Jahren 3. Beobachtung von Stuhlhaltemanövern 4. Anamnese von schmerzhaften Entleerungen oder harter Stuhlkonsistenz 5. Nachweis einer grossen Stuhlmasse im Rektum 6. ≥ 1 Episode pro Woche mit Inkontinenz 7. Anamnese von grosskalibrigen Stühlen, die evtl. die Toilette obstruieren Nach angemessener Diagnostik können die Symptome nicht durch eine andere organische Ursache erklärt werden. Begleitsymptome können sein: Irritabilität, verminderter Appetit oder früheres Sättigungsgefühl. Diese Symptome bessern sich unmittelbar nach der Entleerung einer grossen Stuhlmenge. Jede schmerzhafte Erkrankung des Anus kann eine akute Obstipation auslösen.
Mögliche Ursachen der Obstipation
Die Obstipation wird selten durch Fehlbildungen oder organische Erkrankungen verursacht (< 5%), jedoch kommt ein breites Spektrum von Erkrankungen verschiedener Organsysteme differenzialdiagnostisch infrage. Die häufigsten und klinisch bedeutsamsten sind in Kasten 2 aufgeführt.
Häufige und wichtige organische Ursachen
Perianale Entzündung, Fissuren, Perianalthrombose Jede schmerzhafte Erkrankung des Anus kann eine akute Obstipation auslösen. Umgekehrt entstehen Fissuren auch als Folge einer Obstipation durch grosskalibrigen, harten
Stuhl. Bei Infektionen mit Streptokokken entsteht eine charakteristische perianale Dermatitis, die sich durch eine Rötung und multiple, oberflächliche Fissuren sowie Blutauflagerungen auf den Stuhl manifestiert (Abbildung 1) (5). Hier sollte oral antibiotisch behandelt werden.
Abbildung 1: Streptokokkeninfektion perianal (Rötung, randständig oberflächliche Krusten, oberflächliche Fissur bei 6 h in SSL).
M. Hirschsprung (kongenitales aganglionäres Megakolon) Durch das Fehlen der parasympathischen Ganglienzellen in der Wand des Enddarms (Plexus myentericus und Plexus submucosus) kann der distale, vor dem Analkanal gelegene Abschnitt des Kolons bei der Passage von Stuhl nicht relaxieren, wodurch es proximal des konstant enggestellten Segments sekundär zum Megakolon kommt (Abbildung 2).
Abbildung 2: Präoperativer Kolon-Kontrasteinlauf bei einem Kleinkind mit bioptisch nachgewiesenem M. Hirschsprung. Das aganglionäre (enge) Segment erstreckt sich bis in das Sigmoid.
Kuhmilchproteinallergie, Zöliakie Bei Säuglingen und Kleinkindern mit therapieresistenter Obstipation kann eine Kuhmilchallergie Auslöser der Verstopfung sein. Postuliert wird eine durch die Allergie vermittelte Entzündung im Enddarm. Da meist keine IgE-Antikörper nachzuweisen sind, muss ein Karenz- und Expositionsversuch durchgeführt werden (6, 7). Auch bei etwa 10 Prozent der Kinder mit Erstmanifestation einer Zöliakie findet man eine chronische Obstipation.
Motilitätsstörungen (slow transit constipation) – im Kindesalter selten Neben Erkrankungen des Anorektums können auch generalisierte Darmmotilitätsstörungen eine Obstipation hervorrufen (8). Infrage kommen viszerale/autonome Neuropathien, Myopathien der glatten Muskulatur sowie Mesenchymopathien; all diese Störungen sind eher selten.
Funktionelle Obstipation
Die häufigste Form der Obstipation wird als funktionelle Obstipation bezeichnet. Typischerweise beginnt diese im Alter von 1 bis 3 Jahren, wenn die Kinder die Kontrolle des Sphinkters erlernen. Auslöser ist dann in der Regel ein mit der Defäkation oder der Analregion assoziiertes unangenehmes Erlebnis (3, 9). Typische Ereignisse sind in Kasten 3 aufgeführt. Durch die sich ansammelnden Stuhlanteile erweitert sich das Rektum, das Stuhlkaliber wird grösser, sodass die nächste Stuhlpassage erneut beziehungsweise verstärkt zu schmerzhaften Erfahrungen führt. Schliesslich verselbstständigt sich diese Sequenz dann im Sinne eines Circulus vitiosus, auch wenn der Auslöser längst beseitigt ist. Viele Kinder zeigen zudem ein paradoxes Defäkationsverhalten: Während des Pressens zur Defäkation spannen die Betroffenen (meist unbewusst!) den Sphinkter externus und den M. puborectalis an, statt diese zu entspannen (10).
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Kasten 2:
Organische Ursachen der Obstipation bei Kindern
Neurologische und neuromuskuläre Störungen L Zerebralparese L Muskelhypotonie, muskuläre Störungen L Muskelatrophien oder -dystrophien mit generalisierter Hypotonie L Erkrankungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks L Spina bifida mit oder ohne Myelomeningozele L Tumoren L Querschnittslähmungen, Trauma L «tethered cord»
Erkrankungen des Anorektums L M. Hirschsprung (auch nach operativer Korrektur) L Analatresie (auch nach Operation) L Analstenose, Analdystopie/ventral verlagerter Anus L anale Achalasie (fehlende Sphinkterrelaxation/nicht nachweisbarer
rektoanal inhibitorischer Reflex bei nachweisbaren Ganglienzellen des Parasympathikus) L M. Crohn des Anus mit entzündlicher Rektum- bzw. Analstenose L Analfissuren, perianale Dermatitis
Gastrointestinale und abdominelle Störungen L chronisch intestinale Pseudoobstruktion L viszerale/autonome Neuropathie L Myopathien der glatten Muskulatur L Mesenchymopathien L abnorme abdominelle Muskulatur (z.B. prune belly)
Obstipation als Folge endokriner, metabolischer oder allergischer Erkrankungen L Zöliakie L Nahrungsproteinallergie, insbesondere Kuhmilchallergie L Mukoviszidose mit Pankreasinsuffizienz L Hypothyreose L Hypokaliämie L Hyperkalzämie L Diabetes insipidus L Diabetes mellitus L multiple endokrine Neoplasie Typ 2B
Obstipation als Folge von Medikamenten und Toxinen
L Opiate, Codein
L Anticholinergika
L Phenytoin
L Methylphenidat
L Antidepressiva
L Chemotherapeutika
L Bleivergiftung
L Vitamin-D-Intoxikation
L aluminiumhaltige Antazida
(mod. nach [4])
Kasten 3:
Typische «Trigger» für die Entstehung einer funktionellen chronischen Obstipation bei Kindern zwischen 1 und 5 Jahren
Schmerzhafte/unangenehme Erfahrungen am Anus L akuter Stuhlverhalt (z.B. als Folge von Fieber, Dehydra-
tation, inadäquatem Toilettentraining ...) L willkürlicher Stuhlverhalt bei Nichtverfügbarkeit einer
Toilette, Toilettenphobie L perianale Entzündung, Fissuren; insbesondere Strepto-
kokkeninfektion L regelmässige Manipulationen am Anus (Temperatur-
kontrollen, Zäpfchen, Klysma) L inadäquates Management eines akuten Stuhlverhalts
(mod. nach [1, 2])
Einfluss der Ernährung auf die Obstipation Entgegen der landläufigen Meinung gibt es wenig Evidenz dafür, dass eine geringe Ballaststoffzufuhr oder Flüssigkeitszufuhr Ursachen einer chronischen Obstipation darstellen (4).
Obstipationsassoziierte Stuhlinkontinenz
In etwa 80 Prozent der Fälle von Kindern mit Stuhlinkontinenz liegt eine chronische Obstipation vor (11). Durch die chronische Akkumulation des Stuhls im Rektum kommt es zu einer anhaltenden Erweiterung des Rektums. Dies führt zu einer verminderten Wahrnehmung des Füllungsgrades und zu einem Anstieg der Dehnbarkeit (compliance) des Rektums (12).
Komorbiditäten der chronischen Obstipation
Die häufigsten mit Stuhlentleerungsproblemen (Obstipation resp. Stuhlinkontinenz) assoziierten körperlichen Störungen sind Harninkontinenz (14–46% Harninkontinenz tagsüber und 20–40 % für Enuresis nocturna) und rezidivierende Harnwegsinfekte (13). Typische komorbide psychiatrische Störungen sind Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten, Aufmerksamkeitsstörungen sowie emotionale Störungen und Teilleistungsstörungen (14).
Diagnostischer Prozess bei Obstipation
Akute Obstipation Bei der akuten Obstipation kommt es vor allem darauf an, schmerzhafte perianale Läsionen zu erkennen, um sie gezielt zu behandeln. Dazu sollte eine sorgfältige Analinspektion erfolgen, bei perianaler Rötung mit Analabstrich auf Streptokokken.
Chronische Obstipation Stufendiagnostik: Zum Ausschluss organischer Ursachen muss jedes obstipierte Kind mit oder ohne Stuhlinkontinenz ärztlich untersucht werden (15). Dies sollte primär in den Praxen erfolgen. Bei Hinweisen auf eine organische Genese wird eine weitergehende Diagnostik veranlasst. Ein Sonderfall liegt vor, wenn die Obstipation direkt nach der Geburt beziehungsweise im frühen Säuglingsalter begonnen hat. In diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit einer organischen
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Kasten 4:
Warnzeichen als Hinweise auf eine organische Ursache der Obstipation
Bei Vorliegen der folgenden Warnzeichen sind weiterführende Untersuchungen notwendig!
Anamnese L später erster Mekoniumabgang > 48 Stunden postpartal L Beginn der Obstipation bald nach der Geburt bzw. im ersten Lebens-
monat L positive Familienanamnese für M. Hirschsprung L Gedeihstörung, Inappetenz, Erbrechen; Fieber, Ileus; blutige Diarrhö L Beginn der Obstipation nach Einführung von Kuhmilch oder Beikost L primäre, anhaltende Harninkontinenz L Polyurie/Polydipsie L psychiatrische Komorbiditäten L verspätetes Erreichen der Meilensteine der statomotorischen Ent-
wicklung L Therapieresistenz trotz konsequenter Durchführung der Therapie
Befunde L schwere Distension des Abdomens
L bleistiftartiges Kaliber des Stuhls (kommt auch bei schwerer funktioneller Obstipation vor)
L perianale Fistel
L fehlender Anal- oder Cremaster-Reflex
L auffälliger Anus (Position, Stenose)
L leeres Rektum bei digitaler Untersuchung, Handschuhgefühl
L explosionsartige Entleerung des Darms nach Entfernen des Fingers bei digitaler Untersuchung
L extreme Angst bei der analen Inspektion (Missbrauch? Dies kommt aber auch nach häufigen rektalen Untersuchungen und Manipulationen vor)
L Veränderungen über der distalen Wirbelsäule (Pigmentierungen, polsterartige Hautverdickungen, tiefes Sakralgrübchen, Behaarung,
Asymmetrie der Glutealfalte etc.)
L Auffälligkeiten des Gangs oder auffällige Fussformen
L begleitende Entwicklungsstörung
(mod. nach [4])
Ursache hoch – funktionelle Störungen kommen in diesem Alter kaum vor. Hier muss primär ein Spezialist involviert werden (4). Die Basisdiagnostik bei Kindern > 12 Monate stützt sich auf die ausführliche Anamnese und eine zielgerichtete klinische Untersuchung, gegebenenfalls ergänzt durch Sonografie und wenige Laborwerte. Mit diesen Instrumenten gelingt es, über die Notwendigkeit und den Umfang der eventuell erforderlichen apparativen Diagnostik zu entscheiden (3, 4, 16, 17). Dabei sollte bei der körperlichen Untersuchung gezielt nach den in Kasten 4 genannten Warnzeichen für organische Erkrankungen gesucht werden. Merke: Eine rektal-digitale Untersuchung sollte man bei traumatisierten Kleinkindern mit schmerzhaften Erlebnissen in Zusammenhang mit der Defäkation entweder in Sedierung oder mit Einverständnis der Kinder durchführen, um nicht das anale Trauma zu vergrössern.
Kasten 5:
Basislabordiagnostik
L TSH, fT4, fT3
L Kalium, Kalzium im Serum
L Kreatinin
L Gewebstransglutaminase-IgA-AK und Gesamt-IgA im Serum
L Stuhlelastase
(mod. nach [17])
Sollte auf eine rektal-digitale Untersuchung verzichtet werden, ist zumindest eine sorgfältige Inspektion der Anogenitalregion erforderlich.
Sonografie Das wichtigste nicht invasive Instrument zur Dokumentation der Rektumfüllung stellt die Sonografie dar. Als Hinweise auf eine Stuhlretention können ein Querdurchmesser des Rektums von > 33 mm (18, 19) sowie eine Pelottierung der gefüllten Blase gelten. Die Sonografie eignet sich nicht zur Unterscheidung zwischen funktioneller und organischer Obstipation (4).
Labordiagnostik Empfehlenswert ist es, einmalig bei Erstuntersuchung eine Basislabordiagnostik (Kasten 5) durchzuführen, da die gesuchten Störungen nach anamnestischen oder klinischen Kriterien weder bewiesen noch ausgeschlossen werden können. Weitergehende Untersuchungen (pädiatrische Gastroenterologie, Kinderchirurgie) bei Hinweisen für organische Störungen umfassen L Biopsien des Enddarms mit Acetylcholinesterasefärbung im
nativen Präparat bei V. a. M. Hirschsprung L Magnetresonanztomografie der distalen Wirbelsäule (bei
V. a. neurogene Störung) L Rektomanometrie (inklusive Beckenboden-Elektromyo-
grafie) L Kolontransitzeitbestimmung mit röntgendichten Pellets
(zur Unterscheidung zwischen generalisierter Transportstörung und distaler Störung im Bereich von Sphinkter bzw. Anus). Merke: Auf eine Röntgenabdomenübersicht und auf einen Kolonkontrasteinlauf mit Defäkografie sollte wegen der Strahlendosis verzichtet werden (20)!
Therapie der Obstipation
Ziel der Therapie der Obstipation ist eine regelmässige, komplette und schmerzfreie Stuhlentleerung (3, 4, 21). Vor Beginn der Therapie sollte ausführlich aufgeklärt und beraten werden. Das Verständnis über die Ursachen der Störung kann zu einer Entlastung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern beitragen, familiäre Mythen und Schuldzuweisungen entkräften und das Selbstwertgefühl der Kinder stützen. Dieses Verständnis erweist sich als wichtig, um die längerfristig notwendige Adhärenz zu sichern.
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Therapeutische Massnahmen Initiale Desimpaktion: Bei Nachweis einer Rektumerweiterung sollte zunächst eine komplette Entleerung der angestauten Stuhlmengen (Desimpaktion) angestrebt werden. Eine unzureichende initiale Desimpaktion ist ein häufiger Grund für einen unzureichenden Effekt einer medikamentösen Dauertherapie. Dazu eignen sich zwei Verfahren (4, 22): L Hoch dosierte orale Gabe von Macrogol (Polyethylengly-
kol 3350, 4000), zum Beispiel 1,5 g/kg/Tag über 3 bis 4 Tage. Der Vorteil liegt in der fehlenden Traumatisierung, nachteilig kann die Zunahme einer Stuhlinkontinenz in den ersten Tagen sein. L Klysma 3 ml/kg (z.B. NaCl 0,9 %, Sorbitol). Bei Kleinkindern wegen des möglichen psychischen Traumas einer Klysmaapplikation zurückhaltend einsetzen, gegebenenfalls in Sedierung mit Midazolam verabreichen. Merke: Phosphathaltige Klysmata sind bei Säuglingen und Kleinkindern oder bei Niereninsuffizienz wegen des Risikos der Phosphatintoxikation obsolet! Stuhlaufweichende medikamentöse Dauertherapie (4): Bevorzugt werden in der Dauertherapie osmotisch wirksame, stuhlaufweichende Medikamente eingesetzt: L Polyethylenglykol 3350/4000 beziehungsweise Macrogol. Dieses osmotische Laxans hat den besten stuhlaufweichenden Effekt und therapiert besonders die schmerzhafte Defäkation effektiver als Lactulose (23). Begonnen wird mit 0,4 g/kg, wobei die Dosis kurzfristig angepasst werden muss und viele Kinder Dosierungen von 0,8–1 g/kg benötigen (4). Ziele sind eine schmerzfreie, tägliche Entleerung eines cremigen Stuhls und gegebenenfalls ein Rückgang der assoziierten Inkontinenz. L Lactulose 1–2 g/kg/Tag. Potenzielle Nebenwirkung: Meteorismus und Bauchschmerzen. Die Wirkung ist schwächer als die von Macrogol. Milchzucker (Laktose) hat in der rationalen Therapie obstipierter Kinder keinen Platz! L Paraffinöl 1–3 ml/kg/Tag. Ein Problem ist neben dem Geschmack die Aspirationsgefahr. Einläufe, Suppositorien: Regelmässig applizierte Einläufe oder Suppositorien sollten wegen der unangenehmen Applikation in der Dauertherapie vermieden werden. Ballaststoffgehalt der Nahrung, Flüssigkeitsaufnahme, Bewegung: Für den therapeutischen Effekt der Erhöhung des Ballaststoffgehaltes der Nahrung, der Flüssigkeitsaufnahme oder der Bewegung gibt es keine Evidenz (3, 4). Praktisch bewährt hat sich die Begrenzung grosser Milchmengen (> 500 ml). Verhaltenstherapie: Für die Wirkung von Verhaltenstherapie gibt es keine wissenschaftliche Evidenz, dennoch haben sich jenseits des 4. bis 5. Lebensjahres bei obstipationsassoziierter Inkontinenz regelmässige Toilettensitzungen bewährt. Massnahmen ohne bewiesene Wirksamkeit: Prokinetisch wirkende Medikamente wie Prucaloprid haben bei Kindern aufgrund der anderen Pathophysiologie keine Wirkung. Darüber hinaus gibt es für die Wirksamkeit von Probiotika, Biofeedbacktraining, Physiotherapie, komplementärmedizinischen Massnahmen und Psychotherapie keine ausreichende Evidenz (4). Allerdings sollten psychiatrische Komorbiditäten therapiert werden.
Dauer der Therapie
Geplant werden sollte eine mehrmonatige Dauer der Thera-
pie der chronischen Obstipation. Kinder, die noch eine Win-
del tragen, müssen meist so lange behandelt werden, bis sie
regelmässig und ohne Probleme auf der Toilette entleeren (4).
Dr. med. Martin Classen
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
Klinikum Links der Weser
D-28277 Bremen
Interessenkonflikte: Der Autor hat Vortragshonorare der Firmen Infectopharm und Norgine erhalten.
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Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 2/2018. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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