Transkript
Standespolitik
2 • 2018
Der Einbezug der Leistungserbringer wird als wichtig eingeschätzt
Gedanken zum Expertenbericht «Kostendämpfungsmassnahmen zur Entlastung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung»
Am 25. Oktober 2017 wurde der Expertenbericht Berset («Kostendämpfungs-
Von Herbert Widmer
fand ich einen der wichtigsten Sätze des Berichts. «Der Einbezug der Leistungserbringer
massnahmen») veröffentlicht. In einem
wird bei der Ausgestaltung solcher Mass-
131 Seiten umfassenden Report analysierten 14 Ex-
nahmen – sei es bei der Definition und Aufteilung von Res-
perten im Auftrag des Bundesrates (EDI) das Ge-
sourcen (z.B. Globalbudget) oder bei der Förderung einer
sundheitssystem Schweiz und dessen Probleme,
adäquaten oder einer koordinierten und qualitativ hochste-
bisherige kostendämpfende Massnahmen und Er-
henden Versorgung – als wichtig eingeschätzt.» Ob dieser
fahrungen im In- und Ausland sowie heute zu emp-
Satz aus Versehen in den Bericht der Expertengruppe ge-
fehlende Massnahmen. Insgesamt 38 Massnahmen
rutscht ist? Zumindest hat man ihn nicht ernst genommen!
wurden aufgelistet, 17 «unmittelbar umsetzbare Massnahmen», 9 «bereits diskutierte Massnahmen mit gesetzlichem Anpassungsbedarf» und 12 «neue
«Der Aufschrei der Gesundheitsbranche» oder «Die Profiteure sind die Ersten, die sich melden»
Massnahmen mit gesetzlichem Anpassungsbedarf».
Da sie und ihr Wissen in der Expertengruppe nicht gefragt
Um den ganzen Bericht zu diskutieren, fehlt hier der
waren, wandten sich Exponenten aus dem aktuell tätigen Be-
Platz, einige Gedanken zu verschiedenen Aspekten
reich des schweizerischen Gesundheitswesen noch am Tag
seien aber erlaubt.
der Berichtsveröffentlichung mit einer Medienmitteilung an
die Öffentlichkeit: FMH, H+, Interpharma, pharmaSuisse,
Die Expertengruppe
SPO und Santésuisse. Sie lehnten undifferenzierte Eingriffe
Unter dem Vorsitz von Alt-Ständerätin und Alt-Regierungsrä-
mit absehbar negativen Folgen für die Patientinnen und Pa-
tin Verena Diener arbeitete eine 14-köpfige Gruppe mit
4 ausländischen und 5 inländischen Experten sowie
4 Vertretern aus der Bundesverwaltung an dem Bericht.
Derzeit praktisch Berufstätige aus dem Gesundheitswe-
sen wie Spitalärzte oder Ärztinnen und Ärzte aus der
Praxis sucht man auf der Liste vergebens. Nur die eme-
ritierte Chefärztin der Gynäkologie Triemlispital Zürich,
Frau Prof. Dr. Brida von Castellberg, der emeritierte Chef-
arzt der Inneren Medizin des Kantonsspitals Aarau, Prof.
Dr. Dieter Conen, sowie Dr. Yves Egli, Médecin associé,
Institut universitaire de médecine social et préventive,
CHUV, weisen praktische Erfahrung auf. Diejenigen, wel-
che die empfohlenen Kostendämpfungsmassnahmen
durchzuführen und zu verantworten hätten und davon
wohl auch am meisten betroffen wären, blieben aussen
vor; damit wurde auch auf viel praktische und aktuelle
Erfahrung verzichtet! Einen runden, hierarchiefreien
Tisch stelle ich mir anders vor.
In den Bericht einbezogen wurden Erfahrungen mit kostendämpfenden Massnahmen in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden. Im entsprechenden Kapitel
Abbildung: Der runde Tisch, der mit seiner Schönheit und Funktionalität zu gleichberechtigten Gesprächen einlädt. Voraussetzung: echte Bereitschaft aller – leider selten vorhanden!
Abbildung mit freundlicher Genehmigung der Katholischen Akademie «Die Wolfsburg» des Bistums Essen (D); Foto: Felix Wachter
–4–
2 • 2018
Standespolitik
tienten ab. Der für die Bevölkerung folgenschwerste Vorschlag sei die Einführung von umfassenden Globalbudgets zur Deckelung der Gesundheitsausgaben. Dies führe zu Wartezeiten, Rationierung und Zweiklassenmedizin. Die Reaktion, vor allem der Medien, folgte prompt. Etwa unter dem Titel «Der Aufschrei der Gesundheitsbranche ist verdächtig» wurden den oben genannten Verbänden Eigeninteresse hinsichtlich des milliardenschweren Gesundheitsmarkts und fehlender Einsatz für das Gesamtwohl vorgeworfen. Die Vorsitzende der Expertengruppe ging noch weiter. Sie gab am Abend des 25. Oktobers 2017 folgenden Satz in der Sendung «Echo der Zeit» von sich: «Die Profiteure sind die Ersten, die sich melden.» Auf die Frage des Reporters, ob sie dies störe, kam folgende Antwort: «Die Kritik bestärkt mich, wir scheinen genau die richtigen Punkte ins Zentrum gestellt zu haben.»
Ist das Verlangen nach Gesprächen und Mitsprache legitim? Grobfahrlässig und unpolitisch ist die Aussage von Verena Diener, sie werde durch die Kritik der sechs Verbände in ihrer Haltung bestärkt, dass es scheine, als ob man genau die richtigen Punkte ins Zentrum gestellt habe. Ist ihr klar, dass sie damit jeglichen Widerspruch, jegliche andere Meinung in die Ecke der reinen Interessensvertretung stellt, frei nach einer meiner ironisch gestellten Fragen: «Was kümmert mich die Meinung der anderen, wenn ich schon eine eigene (eben die richtige) habe?» Jeder andere, vielleicht auch prüfenswerte Vorschlag, wie die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen, ist damit vom Tisch. Was die Expertengruppe nicht selbst herausfand, darf nicht sein, womit eben bewiesen ist, dass diese «die richtigen Punkte ins Zentrum gestellt hat!». Da ist das Verlangen nach Gesprächen und Mitsprache legitim und meist sehr hilfreich! Viele Politiker – ja, auch Bundesräte als Vorsteher des EDI – sind mit ihren Plänen und Projekten gescheitert, weil sie sich der «einseitigen Übermittlung» bedienten, nicht bereit waren, die Erfahrungen der Beteiligten und Betroffenen einzubeziehen, und oft schon zu Beginn von Studien und Expertenberichten praktisch vorgaben, welche Aussagen die Berichte zu machen hätten.
Worauf hat sich denn die Expertengruppe gestützt? Wie ging sie vor? Als Basis für die Erarbeitung des vorliegenden Schlussberichtes sowie zur Eruierung der zu empfehlenden Massnahmen dienten hauptsächlich bestehende nationale und internationale Studien im Bereich der Gesundheitsökonomie. Die Auswertung der internationalen Erfahrungen erfolgte an-
Foto: wikipedia
hand dreier Länderstudien, verfasst
durch die Expertin und Experten aus dem
Ausland. Recht viele Grundlagen und vor-
handene Studien beruhen auf Schätzun-
gen, weshalb auf eine genaue Beziffe-
rung des Kostendämpfungspotenzials
der vorgeschlagenen Massnahmen ver-
zichtet wurde. Für mich störend ist die
Tatsache, dass wohl festgestellt wird,
dass das Kostenwachstum im Gesund-
Verena Diener, Alt-Ständerätin, Alt-Regierungsrätin
heitswesen durchschnittlich 3,5 bis 4 Prozent pro Jahr beträgt, aber keine aktuelle
brauchbare Analyse für die Gründe die-
ses Kostenanstiegs vorhanden ist.
Im Sinne des Auftrages lag der Fokus des Schlussberichts
und der empfohlenen Massnahmen auf der Eindämmung des
Mengenwachstums und damit der Kostendämpfung bei den
vier grössten Kostenblöcken:
• Behandlungen bei Ärztinnen und Ärzten in freier Praxis
• Behandlungen im stationären Bereich
• Behandlungen im spitalambulanten Bereich
• Arzneimittel.
Wo fand man hauptsächlich Probleme? Mehr oder weniger deutlich stellt die Expertengruppe fest, dass die «Politik» bisher weitgehend versagt hat und tatenlos blieb, dass fehlerhafte Anreizstrukturen im schweizerischen Gesundheitswesen bestehen und es dadurch im ambulanten und stationären Bereich zu Mengenausweitungen kommt und dass Steuerungsmöglichkeiten bezüglich des Kostenanstiegs bis jetzt fehlen. Ebenso klar ist aber auch folgende Aussage: «Ein eigentliches Gesundheitsgesetz, welches grundsätzliche gesundheitspolitische Leitplanken setzen würde, fehlt in der Schweiz völlig», ebenso fehlen aber auch regionalpolitische Überlegungen im Bereich der Spitalplanung weitgehend. Auf der Angebotsseite bestehe ein Informationsvorsprung der Leistungserbringer, der es ihnen erlaube, für einen grossen Teil des Marktes die Nachfrage zu beeinflussen und so ihr Einkommen aufrechtzuerhalten oder gar auszuweiten.
Und die Ziele des Expertenberichts Eine verbindliche Zielvorgabe hinsichtlich Kostenwachstum mit entsprechenden Sanktionen, welche die übergeordnete Systemsteuerung verbessern soll, steht im Vordergrund. Die OKP-Globalziele in den verschiedenen Leistungsbereichen sollen so weit möglich im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten durch die Kantone und die Tarifpartner sowie durch die Leistungserbringer definiert werden. Die Schaffung eines
–5–
Standespolitik
2 • 2018
«KVG-Experimentierartikels» steht ebenso auf der Wunschliste wie die Vermeidung unnötiger, die Patienten allenfalls gefährdender Leistungen. Anreize zur Mengenausweitung im ambulanten und stationären Bereich sollen ebenso angegangen werden wie verschiedene Massnahmen im Arzneimittelbereich. Insgesamt sollen innovative, kostensparende und effizienzsteigernde Versorgungsmodelle entwickelt werden. Durch die Verringerung der Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die zur Tätigkeit zulasten der OKP zugelassen sind, lassen sich die Inanspruchnahme von Leistungen und folglich der Kostenanstieg eindämmen, so die Expertengruppe.
Was erwartet man von uns Ärztinnen und Ärzten? • Beitritt zu einem integrierten Versorgungsnetz unter einem
gewissen Zwang (durch weiterhin bestehenden Kontrahierungszwang oder höhere Taxpunktwerte!) • Befolgung von Leitlinien, Disease-Management-Programmen und Patientenpfaden, Teilnahme an Indikationsboards • Verpflichtung zur Teilnahme an Programmen zur Qualitätsentwicklung • Höhere Qualitätsanforderungen an die Leistungserbringer • Stärkung der medizinischen Grundversorger in ihrer Gatekeeper-Funktion • Verpflichtende Datenerhebung zur Steigerung der Transparenz der Leistungserbringer • Erfüllung des Kunststücks, daneben noch Zeit für einige Patienten zu finden.
Was ist von den 38 Massnahmen zu halten? Recht viele der empfohlenen Massnahmen decken sich mit den Vorstellungen unseres Berufsstandes und der FMH. Die Kostendämpfungsmassnahmen sollten aber nicht Schritte in Richtung Staatsmedizin und Bevormundung mit Tarifeingriffen, Gesamtsteuerung und so weiter bedeuten oder gar die Versorgung beeinträchtigen. Die Expertengruppe schlägt eine Deckelung der Gesundheitskosten und damit ein Globalbudget vor. Wenn dies nicht zum Ziel führt, sollen gar Sanktionen wie die Senkung der Tarife ergriffen werden können. Vorschläge, wie das erreicht werden soll, lassen sich im Expertenbericht aber nicht finden. Leistungserbringer wie praktizierende Ärztinnen und Ärzte, Spitäler, die Kantone et cetera sollen den entsprechenden Weg finden und dafür auch die Verantwortung tragen. 20 Prozent der Kosten sollen durch die erreichte Effizienzsteigerung eingespart werden. Dass dabei infolge der vorgeschlagenen Massnahmen auch eine Zunahme der Administration für Ärzte und Spitäler verursacht wird, ist leicht zu erkennen.
–6–
Wo bleibt die Ehrlichkeit? Recht stark beschleicht mich das Gefühl, dass dem Projekt «Kostendämpfungsmassnahmen» ein geregelt Mass Ehrlichkeit aller Beteiligten fehlt. Warum? Wir sprechen von Kostendämpfungsmassnahmen, wissen aber, dass Ärzte gezwungen werden, unnötige Eingriffe durchzuführen, dass Chefärzte nach dem pro Arztvollstelle erzielten Umsatz benotet werden, dass die Politik gerne darauf verzichtet, sich durch echte Aussagen und Massnahmen unbeliebt zu machen. Wie viel ehrlicher wäre es doch, wenn Politiker auch die Möglichkeit von Rationalisierungen oder gar Rationierungen als Folge der Deckelung der Gesundheitskosten in Betracht ziehen würden. In dem Bericht eines bekannten Consulting-Unternehmens über die finanzielle Lage der Spitäler war zu lesen: «Wir gehen von einem anhaltend wachsenden Markt aus, erweiterte Angebote werden zu zusätzlichen Fallzahlen führen. Zudem gewinnt der ambulante Markt zur Sicherung von stationären Zuweisungen an Gewicht.» Heute nennen wir dies «Fälle generieren» und «Patientenströme leiten». Das neue Spitalfinanzierungsgesetz (2012) verlangt, dass die Spitäler die Ausgaben für Investitionen selbst erwirtschaften, dies ist nur möglich bei einer Ebitda-Marge von durchschnittlich 10 Prozent. Nur 16 Prozent der Spitäler erreichen dies, immer mehr öffentliche Spitäler finanzieren ihre Bauvorhaben zunehmend mit der Emission einer öffentlichen Anleihe. In einzelnen Kantonen werden Bürgschaften zugunsten der Spitäler diskutiert. Damit schieben wir aber die finanziellen Probleme des Gesundheitswesens vor uns her. Auch eine Art Unehrlichkeit. Ein weiterer Höhepunkt waren wohl die kürzlich verbreiteten Fake-News über Ärzteeinkommen aus dem OKP-Bereich von 1,5 bis 2 Millionen Franken. Es mag ja einige wenige Spitzenverdiener geben, es wurde aber der Eindruck erweckt, als ob dies eine Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte betreffe. Dass auch in unserem Berufsstand Grund zu Kritik besteht, zeigen die Diskussionen über Kickback-Zahlungen und Bonusvereinbarungen für Zuweisende.
Doch die Hoffnung stirbt zuletzt
Es wird noch viel Arbeit brauchen, bis wir gute Lösungen für
die dringend notwendige Kostendämpfung finden werden –
Sisyphus lässt grüssen. Die Chancen steigen, wenn auch Ex-
perten erkennen: «Der Einbezug der Leistungserbringer ist
wichtig!»
x
Korrespondenzadresse: Dr. med. Herbert Widmer Innere Medizin FMH 6006 Luzern
Quelle: www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/versicherungen/ krankenversicherung/kostendaempfung-kv.html