Transkript
ERNÄHRUNG BEI ANOREXIA NERVOSA
Physiotherapie bei Anorexiepatienten im Akut- und Rehabilitationsstadium
Norbert Hindenberg
Training oder Bettruhe? Der Beitrag zeigt auf, welche physiotherapeutischen Möglichkeiten es in der stationären Akutphase und im Rehabilitationsbereich der Physiotherapie bei Patienten mit Anorexia nervosa gibt.
Vor einiger Zeit trat eine wegen Anorexie hospitalisierte Patientin während der Einzeltherapie auf mich zu und fragte mich, ob ich sie nicht massieren könne. Sie habe so starke Schmerzen im Schulter-Nacken-Bereich und fühle sich deshalb überhaupt nicht wohl. Ich fragte mich, ob es das Einzige sei, was sich die Patientin unter der Physiotherapie vorstellen konnte. Ich wusste, dass sie gerne Ausdauertraining machen würde, ihr das aber bei einem Body-Mass-Index (BMI) von unter 13 kg/m2 in der Refeeding-Phase vom interdisziplinären Behandlungsteam vertraglich untersagt wurde. Körperwahrnehmende Übungen schienen für sie bis zum damaligen Zeitpunkt keine Rolle zu spielen.
behandeln und eine eventuell erhöhte Atemmittellage zu vertiefen sowie den Bodenkontakt des Patienten zu verstärken. Mit einer Ballmassage, welche der Klient auf dem Bauch liegend mit einem nur leicht aufgepumpten Overball vom Steissbein ausgehend über den gesamten Körper erhält, werden das Wohlbefinden und die Integration aller Körperteile intensiviert. Darf der Klient nach somatischer Stabilisierung und Abschluss der Refeeding-Phase die Therapieräume benutzen, ist ein körperwahrnehmendes Programm mit Bodenkontakt, Gleichgewichtsübungen, Schlingen- und Stütztraining, emotionsregulierendem Boxsack oder Schlagtraining gut möglich.
Akutphase
Rehabilitationsphase
In der Akutphase im stationären Bereich ist bei einem BMI von 10 bis 14 kg/m2 ein totales bis erheblich eingeschränktes Aktivitätsniveau zwischen dem Behandlungsteam und dem Klienten vertraglich geregelt. Aufgrund der geringen Datenlage ist die Physiotherapie nicht evidenzbasiert möglich. Es handelt sich deshalb um Erfahrungswerte aus dem klinischen Alltag. Im Akutstadium findet meist eine passive Bewegungstherapie in Rückenlage auf dem Patientenbett zur Kontraktionsprophylaxe statt. Das Durchbewegen der Gelenke erlaubt ein «Loslassen können» des Patienten; das Übergeben an die Führung des Therapeuten wird geübt. Durch das Auflegen von bis zu 2,5 kg schweren Sandsäcken können zusätzlich körperwahrnehmende Übungen in die Therapie eingebaut werden. Diese werden auf die Fussknöchel, auf die Knie, die Schultern und gegebenenfalls auf den Bauch gelegt. Sie werden meist von den Patienten als angenehm spannungslösend und nach Wegnahme als erleichternd wahrgenommen. Gleichzeitig bietet die Körperwahrnehmung eine gute Möglichkeit, versteckte Angst- und Panikproblematiken zu
Laut einer spanischen Studie kann in der Rehabilitationsphase mit einem niedrig dosierten und physiotherapeutisch begleiteten Training begonnen werden. In der randomisierten Studie von del Valle und Pérez et al. (1) wurden elf Anorexiepatienten im Alter zwischen 12 und 16 Jahren mit einem BMI >14 kg/m2 einer 12-wöchigen, niedrig dosierten und begleiteten Trainingstherapie unterzogen. Sie erhielten zusätzlich eine Ernährungsberatung und Psychotherapie. Elf Patienten der Kontrollgruppe übten sich täglich in der Körperwahrnehmung auf einem Vibrationsgerät, erhielten Ernährungsberatung und Psychotherapie. Eine Behandlungseinheit der Trainingsgruppe umfasste 60 bis 70 Minuten und wurde unter Supervision zweimal die Woche durchgeführt. Instruiert wurden Kräftigungsübungen an Fitnessgeräten für die Bein- und Armkraft sowie Bauchmuskel- und Rückentraining. Trainiert wurde nach einer 10-minütigen Aufwärmphase mit 10 bis 15 Wiederholungen je Übung. Die Patienten tolerierten die Trainingstherapie allgemein gut. Es kam zu keinem gesundheitsschädigenden Effekt, der BMI blieb stabil, ein signifikantes Muskelwachstum war allerdings
nicht sichtbar. In beiden Gruppen verbesserte sich jedoch die Lebensqualität gleichermassen, was der begleiteten Psychotherapie zugeschrieben wurde. Bei Szabo and Green (2) zeigten sich mehr Verbesserungen in der psychischen Gesundheit nach einem 8-wöchigen leichten Krafttraining als in der Kontrollgruppe, zudem kam es zu einer Verbesserung der Knie-Kraft-Streckung und der Knochendichte. In der Studie von Vandereycken et al. (3) verbesserten Yoga, Tai-Chi und Tanz das Selbstbild der Patienten. Es gab aber keinen signifikanten Unterschied der Lebensqualität nach einem Training von 3 Monaten Dauer. Tokomura et al. (4) beschrieben nach einem 6- bis 12-monatigen Aerobic- und Veloergometer-Programm, dass es zu keinem Effekt auf das Gewicht und oder den Wiedereintritt der Menstruation gekommen sei. Gleichwohl reduzierte sich der emotionale Stress der Patienten. Zusammenfassend zeigt sich bei allen Studien, dass ab einem BMI von >14 kg/m2 eine begleitete Trainingstherapie ohne BMI-Reduktion möglich ist. Die Autoren empfehlen im Gegenteil sogar eine Intensivierung des Trainings, da es bei einem leichten Übungsprogramm zu keinem signifikantem Muskelaufbau gekommen war. Gesichert scheinen hingegen die positive Wirkung auf die Psyche und die Verbesserung der Knochendichte.
Korrespondenzadresse: Norbert Hindenberg Leitender Physiotherapeut Psychosomatik C. L. Lory Haus, Inselspital 3010 Bern
Physiothérapie chez les patients anorexiques
Mots-clés: niveau d’activité – thérapie par l’entraînement – force et endurance – perception corporelle
Entraînement ou repos au lit? L’article décrit les possibilités physiothérapeutiques pouvant être utilisées lors de l’hospitalisation à la phase aiguë et en cours de réhabilitation chez les patients souffrant d’anorexie mentale.
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1|2018 25
ERNÄHRUNG BEI ANOREXIA NERVOSA
Literatur: 1. del Valle MF, Pérez M et al: Does Résistance Training Improve the Functional Capacity and Well Being of Very Young Anorexie Patients? A Randomized Controlled Trial. Journal of Adolescent Health 46 2010, 352–358. 2. Szabo CP, Green K: Hospitalized Anorexics and Resistance Training: impact on body composition and psychological wellbeing. A preliminary study. Eat Weight Disord 2002; 7:293–297. 3. Vandereycken W, Probst M, Meermann R: An experimental Video-confontation procedure as a therapeutic and a research tool in the treatment of eating disorders. In: Pirke KM, Plot D, des. The Psychobiology of Bulemia nervös a. Berlin: Springer, 1988:172–178. 4. Tokumura M, Yoshiba S, Tanaka T, et al: Prescribed exercise training improves exercise capacity of convalescent children and adolescents with anorexia nervosa. Eur J Pediatr 2003; 162:430–431.
26 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1|2018