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ERNÄHRUNG BEI ANOREXIA NERVOSA
Anorexie oder Intoleranz? Eine Differenzialdiagnose des restriktiven Essens
Bettina Isenschmid
Bettina Isenschmid
Nahrungsmittelintoleranzen sind heute in aller Munde. Die Beschwerden sind vielfältig und können denjenigen einer Essstörung ähnlich sein. Selbst für Fachleute ist die Unterscheidung oft schwierig. Auch können als Folge von Essstörungen Unverträglichkeiten wie vermeintliche Laktoseintoleranz auftreten, zusätzlich entwickeln Menschen, die wegen Intoleranzen eine Diät einhalten müssen, nicht selten eine Essverhaltensstörung. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge und ein adäquates Vorgehen sind sowohl für den Erstkontakt als auch die weiterführende Behandlung zentral. Betroffene müssen sich in jedem Fall ernst genommen fühlen, ansonsten sind unnötige und doppelspurige Abklärungen und eine schlechtere Prognose die Folge.
Dilemma der Vermeidung
Menschen mit Essstörungen beschäftigen sich übermässig mit ihrer Ernährung und ihrem Essverhalten, ihren Verdauungsvorgängen, ihrem Gewicht und ihrer Figur, was viel Raum in ihrem Denken und Fühlen einnimmt. Bei allen Essstörungen, besonders aber bei restriktivem und bulimischem Essverhalten, treten Verdauungsprobleme auf, welche von den Betroffenen selbst, aber auch von Fachleuten nicht selten als Unverträglichkeiten fehlgedeutet werden (1). Besonders bei restriktiven Essstörungen wird überzufällig häufig die Diagnose einer Laktoseintoleranz oder Glutensensitivität gestellt. Und es gibt auch Hinweise darauf, dass die Glutenintoleranz selbst zu einem gestörtem Essverhalten führen kann, wobei Essstörungen bei Frauen mit Glutenintoleranz häufiger aufgeführt werden als bei Männern. Als Gründe für die erwähnten Zusammenhänge werden in der Literatur Enzymmangel, Schleim-
Diagnostic différentiel des troubles alimentaires restrictifs
Mots-clés: intolérances alimentaires – troubles du comportement alimentaire du nourrisson/de l’adulte – orthorexie – fondamentalisme nutritionnel
Une conséquence d’un désordre alimentaire peut être la survenue d’intolérances comme l’intolérance au lactose, et en outre il n’est pas rare que les personnes qui doivent suivre un régime en raison d’une intolérance développent un trouble du comportement alimentaire. La distinction s’avère souvent difficile même pour les spécialistes. La connaissance de ces relations et une démarche adéquate sont toutefois essentielles tant lors du premier contact qu’au cours de la suite de la prise en charge. Les personnes concernées doivent se sentir prises au sérieux car sinon il existe un risque que des bilans inutiles voire répétés sans justification soient pratiqués, avec pour conséquence un plus mauvais pronostic.
hautatrophie, chronische Entzündungen und Stress, Störungen des Serotoninstoffwechsels mit Auswirkungen auf Verdauung und Psyche sowie genetische Faktoren angeführt (2, 3). Auch diagnostizierte Nahrungsmittelunverträglichkeiten und Stoffwechselerkrankungen, wie zum Beispiel Diabetes mellitus Typ 1, Phenylketonurie oder Glykogenosen sind mit einer vermehrten gedanklichen Fixierung aufs Essverhalten verbunden, teilweise im Rahmen der diätetischen Behandlung ja auch durchaus erwünscht. Es zeigt sich jedoch, dass die Nahrungseinschränkung mit erforderlichen Spezialdiäten nicht per se zu einer Steigerung des psychischen Wohlbefindens führt (4, 5).
Häufigkeit
Statistische Erhebungen zeigen, dass 19 Prozent der 10- bis 18-jährigen und 4 Prozent der 18- bis 29-jährigen Schweizerinnen untergewichtig sind (6, 7). Etwa 20 Prozent der Frauen leiden einmal in ihrem Leben unter ernsthaften Essverhaltensstörungen. 40 Prozent der Mädchen schätzen sich als zu dick ein und versuchen mit restriktiver Ernährung abzunehmen, 25 Prozent der Mädchen unter 15 Jahren haben bereits Diäterfahrung, bis 18-jährig sind es 80 Prozent. Zirka 1 bis 2 Prozent der Mädchen und der jungen Frauen sind von einer Anorexie, 3 bis 4 Prozent von einer Bulimie betroffen. 10 Prozent der Betroffenen sind Männer, Tendenz steigend, vor allem Risikogruppen wie zum Beispiel sport- und fitnessbegeisterte Jünglinge (8, 9). In der Schweiz und den vergleichbaren Nachbarländern sind zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung von einer Laktoseintoleranz betroffen, zirka 25 Prozent leiden unter einer sekundären Fruktosemalabsorption, bauen also Fruktose unvollständig
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in ihrem Darm ab, jedoch nur etwa ein Drittel davon entwickelt Symptome. Viel seltener tritt die primäre (hereditäre) Fruktoseintoleranz mit einer Häufigkeit von 1:20 000 auf (10). Von einer echten Glutenintoleranz betroffen ist zirka 1 Prozent der Bevölkerung, eine erheblich grössere Zahl, zwischen 6 und 13 Prozent gemäss verschiedener Studien, leidet unter einer Glutensensitivität (NCGS – non-celiac gluten-sensitivity), reagiert also auf den Genuss von glutenhaltigen Nahrungsmitteln ebenfalls mit typischen Beschwerden, obwohl die übrigen Kriterien für eine Zöliakie nicht erfüllt sind (11, 12).
Eine prototypische Leidensgeschichte
In der Sprechstunde stellt sich eine 17-jährige Mittelschülerin vor, sportlich und leistungsorientiert, mit grossem Interesse an gesunder Ernährung. Innerhalb eines halben Jahres hat sie mehrere Kilogramm Gewicht abgenommen und hat nun noch einen BMI um 16 kg/m2, die Menstruationsblutung ist seit einigen Monaten ausgeblieben. Bereits vor der Gewichtsabnahme hat sie sich vorwiegend von Reformkost und vegetarischen Produkten ernährt, hat dazu diverse Vitamin- und Ergänzungspräparate sowie probiotische Milchprodukte eingenommen. Sie bringt eine lange Liste unverträglicher Nahrungsmittel mit, der konsultierte Hausarzt habe eine Laktose- und Fruktoseintoleranz diagnostiziert. Die Patientin fragte sich auch, ob sie etwa eine Fettunverträglichkeit habe. Doch trotz allen diätetischen Massnahmen leidet sie nach wie vor unter Übelkeit, Bauchschmerzen, Aufstossen, Blähungen, Obstipation wechselnd mit Diarrhö, die Liste der «erlaubten» Nahrungsmittel wird immer kürzer. Einerseits wünscht sich die Patientin Hilfe beim Kostaufbau, andererseits bringt sie immer wieder plausibel klingende Argumente dagegen vor und verweigert verordnete Supplemente sowie appetit- und verdauungsfördernde Präparate. Schliesslich wird klar, dass sich die Patientin trotz Untergewicht noch zu dick fühlt und vor dem Hintergrund einer komplexen psychosozialen Belastungssituation angefangen hatte, die Nahrung willentlich einzuschränken, immer intensiver Sport zu treiben und den Körper so zu kontrollieren. Die Diagnose einer Magersucht drängt sich auf.
Essstörung oder Unverträglichkeit?
Bei Nahrungsmittelintoleranzen lösen Inhaltsstoffe direkt Beschwerden wie Bauchkrämpfe, Blähungen, Völlegefühl, Übelkeit, Durchfall, Juckreiz, Exantheme, Muskel- und Kopfschmerzen aus, jedoch gehören auch Leistungsabfall und depressive Verstimmungen dazu (13–15). Sehr ähnliche Symptome treten auch bei Essstörungen auf: Völlegefühl, Blähungen, Durchfall oder Verstopfung, Erbrechen, körperliche Zeichen der Mangelernährung, Kreislaufprobleme, kognitive Störungen, Ängste und Depressionen. Bei der Unterscheidung hilft die Frage nach den spezifischen Kriterien einer Essstörung:
Abbildung: Teufelskreis der Angst bei Orthorexie Die Orthorexie hat einen ähnlichen Teufelskreis und Parallelen, wie er bei Angststörungen vorkommt (www.angstpanik-hilfe.de/angst-krankheiten-teufelskreis-angst.html). Sobald Symptome wie Bauchschmerzen oder Blähungsgefühle auftreten, wird die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper intensiviert, die Wahrnehmung der (auch normalen) Körperfunktionen verstärken Sorge und Angst, es werden weitere Nahrungsmittel gemieden, die Aktivierung der Stressachse führt zu zusätzlichen Alarmsymptomen, die Angst und die Überzeugung, an einer Intoleranz oder gar an einer gravierenderen Erkrankung zu leiden, wachsen weiter.
• Aufgrund der verzerrten und unrealistischen Körperwahrnehmung besteht Gewichtsphobie, sodass Kostaufbau und Gewichtszunahme vehement abgelehnt werden.
• Bei Normal- oder Untergewicht werden aktive Massnahmen zur weiteren Gewichtsabnahme praktiziert, wie Fasten, intensives Sporttreiben, Missbrauch von Laxanzien und/oder harntreibenden Substanzen, Erbrechen und bei Diabetikerinnen auch Insulin-Purging (Auslassung oder Reduktion der erforderlichen Insulindosis, um durch Glukosurie einen Gewichtsverlust zu erzeugen).
• Widerstand und Malcompliance bei der Intoleranzabklärung und -behandlung sind die Regel.
Diese Symptome bleiben anfangs häufig im Hintergrund, weil sich die Betroffenen für ihr Verhalten schämen oder befürchten, als psychisch Kranke abgestempelt und abgelehnt zu werden. Die klinische Erfahrung zeigt, dass ähnliche Erfahrungen nicht selten auch Menschen mit nachgewiesenen Nahrungsmittelintoleranzen machen, wenn sie über psychische Begleitsymptome berichten. Länger dauernde und schwere Essstörungen führen zu entsprechenden klinischen Zeichen und Symptomen wie zum Beispiel Bradykardie, Hypotonie, Schwindel, kognitiven Einbussen, Verdauungsstörungen, Ösophagitis und Gastritis, Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Ödembildung, Cutis marmorata, Akrozyanose, Wachstumsstörungen, Hypogonadismus sowie Muskelatrophie und Osteoporose. Jedoch sind diese Anzeichen generell bei jeder ausgeprägten Mangelernährung, also auch als Konsequenz einer Nahrungsmittelintoleranz zu erwarten und meist nicht spezifisch verwertbar. Spezifischer sind äusserliche Zeichen für Erbrechen wie Hyperplasie der Speicheldrüsen, Mundwinkelrhagaden, Zahnschädigungen, Kallusbildung am Handrücken durch reflektorisches Zubeissen beim Erbrechen oder Laborresultate, welche für Erbrechen und/oder Laxanzienmissbrauch typisch sein können.
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Was könnte es sonst noch sein?
Differenzialdiagnostisch kommen neben den klassischen Essstörungen wie Anorexie oder Bulimie auch weitere Formen infrage, wie zum Beispiel atypische Essstörungen. Hierunter fällt laut ICD-10 (16) eine sehr heterogene Gruppe, welche die Kriterien einer klassischen Essstörung nicht vollständig erfüllt, aber dennoch eine deutliche Fixierung auf das Gewicht und die Figur sowie langjährig bestehende Schwierigkeiten im Umgang mit dem Essen hat. In der fünften Auflage des Psychiatrischen Diagnostikmanuals, des DSM-5 (17), werden erstmalig Fütter- und Essstörungen in einer Kategorie zusammengefasst. Die Restkategorie «Nicht näher bezeichnete Fütter- oder Essstörungen» wurde umbenannt in «Unspecified Feeding or Eating Disorder». Interessant ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis, dass sich Patienten aus dieser Gruppe mit einem restriktiven und vermeidenden Essverhalten, sogenanntem ARFID (Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder), demografisch und klinisch von Patienten mit Anorexie klar unterscheiden: Sie sind weniger untergewichtig, eher jünger und männlich, zeigen jedoch in erheblichem Mass Anzeichen einer Nahrungsmittelunverträglichkeit sowie Angst, zum Beispiel vor Verschlucken oder Erbrechen, sind häufiger auf Spezial- und Zusatznahrung angewiesen und zeigen mehr psychiatrische und gastrointestinale Symptome (18–20). Zu dieser Gruppe könnte auch die Orthorexie gezählt werden, welche sich durch folgende Kriterien auszeichnet: übersteigerte Fixierung auf subjektiv als gesund erlebte Nahrungsmittel, Zwang, stets nur das Richtige zu essen und ungesunde Lebensmittel vollständig zu meiden. Die Definition dessen, was «gesund» ist, wird von Betroffenen immer enger gefasst und kann zu Mangelernährung führen. Schliesslich ernähren sich die Betroffenen von Überlebensrationen, welche sie stets mit sich führen, es kommt zur sozialen Stigmatisierung, zur Isolation und zu einer zwanghaften Ernährungsweise mit Missionstendenz, die im angelsächsischen Sprachraum auch als Foodumentalismus bezeichnet wird. Die Konfrontation mit als ungesund empfundenen, also «gefährlichen» Lebensmitteln löst intensive Angst, Vermeidungsverhalten sowie anhaltende sorgenvolle Beobachtung der eigenen körperlichen Vorgänge aus (21, 22) (Abbildung). Hier ergeben sich eindeutige Parallelen zum sogenannten Teufelskreis bei Angststörungen. Sobald Symptome wie Bauchschmerzen oder Blähungsgefühle auftreten, wird die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper intensiviert, die Wahrnehmung der (auch normalen) Körperfunktionen verstärken Sorge und Angst, es werden weitere Nahrungsmittel gemieden, die Aktivierung der Stressachse führt zu zusätzlichen Alarmsymptomen, die Angst und die Überzeugung, an einer Intoleranz oder gar an einer gravierenderen Erkrankung zu leiden, wachsen weiter an. So sind also je nach Kontext und Verlauf verschiedene psychiatrische Differenzialdiagnosen zu prüfen, wie die
bereits erwähnten Angst- und Panikstörungen (ICD10: F 41.0) und die Orthorexie als eine Form der Zwangsstörungen (F 42.0). Weiter die Wahnhafte Störung (F 22.0) und die Somatoformen Störungen (F 45.0), bei welchen körperliche Beschwerden auftreten, die nicht oder nicht ausreichend auf eine organische Erkrankung zurückgeführt werden können beziehungsweise durch eine intensive oder gar wahnhafte Fixierung auf körperliche Symptome gekennzeichnet sind und zu erheblichem Leid führen. Dabei stehen neben Müdigkeit und Erschöpfung Schmerzsymptome an vorderster Stelle, gefolgt von Herz-Kreislauf-Beschwerden, Magen-Darm-Beschwerden, sexuellen und neurologischen Symptomen (23). Sobald die Vermutung aufkommt, dass die geäusserten Beschwerden nicht oder nicht nur auf eine Nahrungsmittelunverträglichkeit, sondern eher auf eine primär psychische Problematik zurückzuführen sind, ist ein feinfühliges Ansprechen und eine verständnisvolle Begleitung der Betroffenen und ihrer Angehörigen besonders wichtig. Auch das richtige Mass an Aufmerksamkeit muss gefunden werden, um die Symptomatik nicht ungewollt zu verstärken. Sogar bei Nahrungsmittelallergien mit potenziell lebensbedrohlichen Konsequenzen, welche eine weitgehende Vermeidung des Allergens erforderlich machen, ist bekannt, dass sich Betroffene eher zurückziehen und eine höhere Angstbereitschaft haben, häufiger unter ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom) leiden oder eine Magersucht entwickeln können. Diese Zusammenhänge weisen auf eine höhere Aufmerksamkeit und Vigilanz hin, die Unterstützung soll daher sorgfältig abwägen zwischen erforderlicher Achtsamkeit und Überfürsorglichkeit mit unnötigen Restriktionen (24).
Fazit
Aktuelle Literatur und klinische Praxis zeigen, dass auch unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse bedeutend mehr Menschen angeben, unter einer Nahrungsmittelunverträglichkeit zu leiden, als dies dann nachweislich der Fall ist (11). Die Vermeidung von bestimmten Nahrungsmitteln aus Angst vor Beschwerden und anderen negativen Konsequenzen ist sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen häufig und führt zu einer Verschlechterung der Lebensqualität und bei bestimmten Risikokonstellationen gar zu einer Essstörung (5). Bei Intoleranzen gilt der Grundsatz, dass totale Karenz nur bis zur Symptomfreiheit durchgeführt werden soll, eine Dosisreduktion, zum Beispiel bei Fruktose oder Laktose, ist besser als die totale ängstliche Vermeidung, besonders bei mehreren Intoleranzen. Unnötige oder übertriebene Ernährungsrestriktionen können die Entwicklung einer Essstörung begünstigen (25). Als Folge der Essstörung wiederum können erworbene Unverträglichkeiten wie vor allem Laktoseintoleranz, aber auch andere Phänomene wie zum Beispiel vermehrte Wassereinlagerung beim Verzehr von grossen Mengen Stärkelieferanten oder Blähungen bei Einnahme von unüblich viel Rohkost auftreten. Diese Zusammenhänge
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sind den Betroffenen meist nicht bewusst und werden als Gewichtszunahme gedeutet, was noch strikteres Vermeiden, Fasten oder Abführen nach sich zieht. Umgekehrt entwickeln Menschen, die wegen Intoleranzen oder Stoffwechselerkrankungen eine länger dauernde oder gar lebenslange Diät einhalten müssen, nicht selten eine Essverhaltensstörung, die gedankliche Fixierung und übermässige Aufmerksamkeit auf die Ernährung gewinnt im Kontext von traumatischen Lebensereignissen eine Bewältigungsfunktion, das Trauma kann nicht kontrolliert werden, an diese Stelle tritt die Kontrolle des eigenen Körpers (26). Die Kenntnis spezifischer Anzeichen von Essstörungen sowie von psychosomatischen Symptomen bei affektiven Störungen in der Unterscheidung zu Intoleranzen und ein adäquates Vorgehen sind daher zentral sowohl für den Erstkontakt als auch für die weiterführende Behandlung. Auf der Grundlage der subjektiven Problemsicht müssen möglichst rasch die Zusammenhänge zwischen Stress als Beschwerdeauslöser, Symptomverstärkung und übermässiger Selbstbeobachtung einsichtig gemacht und so ein individuelles psychosomatisches Erklärungsmodell herausgearbeitet werden. Ideal für die Abklärung und weiterführende Behandlung sind integrierte klinische Gefässe, in denen Spezialisten aus den Bereichen Gastroenterologie, Allergologie, Ernährung und Psychosomatik eng zusammenarbeiten. Weitergehende Forschungserkenntnisse und Erfahrungen zu vermeidendem und restriktivem Essverhalten und dem Zusammenhang mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten und pathologischem Essverhalten sind erforderlich. Betroffene müssen sich in jedem Fall ernst genommen fühlen, sonst kommt es zu langwierigen, unnötigen oder gar schädlichen Doppelspurigkeiten, welche zu einer schlechteren Prognose führen.
Korrespondenzadresse: Dr. med. MME Bettina Isenschmid Chefärztin Kompetenzzentrum Essverhalten Adipositas und Psyche Spital Zofingen AG Mühletalstrasse 27 4800 Zofingen E-Mail: bettina.isenschmid@spitalzofingen.ch
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