Transkript
BERICHT
Mit Stromimpulsen gegen psychische und neurologische Erkrankungen
Revival für Hirnstimulationsverfahren?
Verschiedene Formen der Hirnstimulation sind in den letzten Jahren wiederentdeckt und verbessert worden. Prof. Dr. med. Thomas Müller, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Ärztlicher Direktor und Chefarzt Privatklinik Meiringen, gab im Rahmen der Fortbildung «Psychiatrie und Somatik im Dialog» einen Überblick über die bekanntesten Verfahren, deren Einsatzmöglichkeiten und Limitationen.
Die Hirnstimulationsverfahren, die Müller in seinem Vortrag vorstellte, umfassen die Elektrokonvulsionstherapie, die transkranielle Magnetstimulation, die transkranielle Gleichstromstimulation und die Tiefenhirnstimulation.
Elektrokonvulsionstherapie
Die Elektrokonvulsionstherapie (EKT) ist ein unter Kurznarkose, Muskelrelaxation und Sauerstoffgabe durchgeführter und durch wenige Sekunden dauernde Stromimpulse ausgelöster, therapeutisch genutzter Krampfanfall. Der genaue Wirkmechanismus der Elektrokonvulsionstherapie ist bisher nicht geklärt. Es kommt zur Verstärkung der noradrenergen, GABAergen, serotonergen und dopaminergen sowie zur Reduktion der cholinergen Transmission zwischen Hirnzellen. Auch hormonelle Veränderungen, REM-Suppression und Beta-down-Regulation des noradrenergen Systems sind zu beobachten. Es ist unklar, ob diese Effekte mit der Wirkung in einem korrelativen oder kausalen Zusammenhang stehen. Es gibt zudem Hinweise auf eine Neurogenese. Bei Ratten konnte die Neubildung von Nervenzellen im Hippocampus nachgewiesen werden.
Antidepressiva wirken nach einer EKT häufig besser.
Indikation für eine EKT sind schwere therapieresistente Depressionen, ein manisches Syndrom, Schizophrenie, aber auch perniziöse Katatonie (Notfallindikation) sowie in gewissen Fällen auch ein malignes neuroleptisches Syndrom, Demenz, M. Parkinson und Dystonien. Interessanterweise liegt die Ansprechrate bei schwerer Depression mit medikamentöser Therapieresistenz bei 80 bis 90 Prozent. Besteht keine Therapieresistenz, beträgt die Ansprechrate lediglich 50 bis 60 Prozent. Die Therapie umfasst Zyklen von sechs bis zwölf Behandlungen, eine spürbare Wirkung tritt meist erst nach ein paar Anwendungen ein. Als Nebenwirkungen können reversible und irreversible Gedächtnisstörungen auftreten. Eine EKT wird meist unilateral durchgeführt. Bipolare
Anwendungen sind möglich, gehen aber auch mit vermehrten Nebenwirkungen einher. Nach einem ersten Behandlungszyklus kann die EKT auch als Erhaltungstherapie weitergeführt werden. Antidepressiva wirken nach einer EKT häufig besser, ohne dass dafür der Grund bekannt ist. Insgesamt ist die EKT eine sehr wirksame Therapie bei Depressionen. Studien belegen eine höhere Wirksamkeit als bei Antidepressiva. Die Patientenzufriedenheit ist trotz der wegen dubioser und früher ohne Narkose durchgeführter Anwendungen in Verruf geratenen Methode überwiegend gut. In der Schweiz werden zurzeit etwa 4000 Behandlungen pro Jahr durchgeführt (GB: 1 000 000/Jahr!). Geplant ist ein Zertifikat der Swiss Society of Biological Psychiatry (SSBP) als Voraussetzung für die Krankenkassenvergütung.
Transkranielle Magnetstimulation
Mithilfe von äusserlich aufgesetzten Elektroden werden für die transkranielle Magnetstimulation (TMS) hochfrequente Magnetimpulse zur Steigerung der Erregbarkeit in der Hirnrinde eingesetzt. Ab 1985 kam dieses von Barker und seinem Team mit neuartiger Technik angewendete Verfahren wieder in Mode und weckte die Hoffnung, die EKT ablösen zu können, was jedoch nicht gelang. Mehrere Jahre Forschung brauchte es, um die optimalen Stimulationsfrequenzen und die richtigen Hirnregionen mittels Neuronavigation zu finden. TMS kann bei Depression angewendet werden und stellt eine alternative Behandlungsmethode dar, die in ihrer Wirksamkeit mit Antidepressiva vergleichbar ist. Eine Behandlung dauert zwischen vier und sechs Wochen. Die Therapie wird derzeit nicht von der Krankenkasse vergütet.
Transkranielle Gleichstromstimulation
Die transkranielle Gleichstromstimulation (transcranial direct current stimulation, tDCS) ist ein relativ neues Elektrostimulationsverfahren, das nicht invasiv, schmerzfrei und reversibel ist. Über Elektroden an der Kopfhaut wird Gleichstrom appliziert, wodurch eine Aktivierung der kortikalen Erregbarkeit und der neuronalen Aktivität erreicht wird. Mittels Einzelphotonen-Emissionscomputertomografie (single photon emission computed tomography, SPECT) konnte
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auch eine Verbesserung des zerebralen Blutflusses nachgewiesen werden, was darauf schliessen lässt, dass die Wirkung tiefer geht als angenommen. Die Behandlung erfolgt 20 bis 30 Minuten lang täglich und wird bei Depressionen teilweise mit Erfolg angewendet. Symptome von Abhängigkeitserkrankungen werden unter tDCS zwar gelindert, zeigen aber keine anhaltende Wirkung. Bei falscher Anwendung können Verbrennungen an den Kontaktstellen auftreten. tDCS-Geräte gibt es mittlerweile
tDCS-Geräte sind in der Gamingszene beliebt, wo sie für Hirndoping verwendet werden.
bereits in Pocket-Ausführungen im offenen Verkauf, sie sind mitunter in der Gamingszene beliebt, wo sie für eine verbesserte Hirnleistung (Hirndoping) verwendet werden.
Tiefenhirnstimulation
Die Tiefenhirnstimulation (deep brain stimulation, DBS) ist
ein neurochirurgisches Verfahren, bei dem stereotaktisch
Elektroden direkt ins Hirn eingesetzt werden. Umgangs-
sprachlich ist auch vom «Hirnschrittmacher» die Rede. Die
Anwendung erfolgt in erster Linie bei M. Parkinson. In
jüngerer Zeit wurden jedoch auch Behandlungsversuche bei
schweren therapieresistenten (unheilbaren) Depressionen
vorgenommen. Mit den heutigen Methoden ist der Einsatz
der Elektroden wenig traumatisierend, und deren Entfernung
geschieht auf relativ unkomplizierte Weise. Die Batterie
des Schrittmachers wird unter der Clavicula platziert. Aller-
dings ist der Therapieerfolg bei Depressionen bis anhin nicht
erwiesen.
L
Marianne I. Knecht
Quelle: Fortbildung «Psychiatrie und Somatik im Dialog 2017», Referat «Hirnstimulationsverfahren: Ein Revival?», Prof. Dr. med. Thomas J. Müller, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Ärztlicher Direktor und Chefarzt Privatklinik Meiringen, 21. September 2017 in Zürich.
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