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FORTBILDUNG
Schluckstörungen erkennen und behandeln …
... weil Speis und Trank doch Leib und Seele zusammenhält – auch im Alter!
Nahezu jeder wird sich gelegentlich verschlucken, zum Beispiel beim hastigen Trinken. Sind die Reinigungsreflexe wie der Hustenreflex regelrecht, bleibt ein solches Verschlucken typischerweise konsequenzlos. Mit höherem Alter steigt das Risiko für eine komplikationsbehaftete Schluckstörung. In diesem Artikel werden die Diagnose und die therapeutischen Optionen bei Schluckstörungen bei älteren Personen erläutert.
Martin Ptok
Ursachen für Schluckstörungen im Alter sind einerseits altersbedingte Veränderungen der Schluckorgane und -funktionen, wie zum Beispiel Einschränkungen der Kaufunktion, verzögerte Auslösung des Schluckreflexes, verzögerte Passage im Pharynx sowie verzögerte Passage im Ösophagus. Andererseits nehmen im Alter auch Erkrankungen zu, die häufig mit Schluckstörungen einhergehen. Solche Erkrankungen sind zum Beispiel der Schlaganfall, die Demenz und neurodegenerative Erkrankungen. Gerade bei Schlaganfallpatienten tritt bei jedem zweiten Betroffenen eine vorübergehende, bei jedem vierten eine bleibende Schluckstörung auf, bei Morbus Parkinson muss in 50 Prozent der Fälle mit einer Dysphagie gerechnet werden. Ist trotz der altersbedingten Veränderungen ein regelrechtes Schlucken noch gut möglich, gegebenenfalls langsamer und bedachtsamer und somit die altersbedingten Veränderungen kompensierend, spricht man von einer Presbyphagie. Sind diese Veränderungen allerdings mit einem mangelhaften Bolustransport, einer laryngealen Penetration oder gar Aspiration verbunden, spricht man von einer Presbydysphagie.
MERKSÄTZE
Schätzungsweise 50 bis 60 Prozent aller Pflegeheimbewohner leiden an einer relevanten Schluckstörung.
Das im Alter höhere Risiko für eine komplikationsbehaftete Schluckstörung ist sowohl auf altersbedingte Veränderungen der Schluckorgane und -funktionen als auch auf das erhöhte Risiko für Erkrankungen zurückzuführen, die mit Schluckstörungen einhergehen.
Motilitätsstörungen des Ösophagus sollten nicht einfach als altersbedingt abgetan werden; Erkrankungen, die ähnliche Störungen verursachen können, sind differenzialdiagnostisch zu bedenken.
Selbst die Umsetzung einfacher Ratschläge zur verbesserten Nahrungsaufnahme kann im Alltag schwierig sein.
Schätzungsweise 50 bis 60 Prozent aller Pflegeheimbewohner leiden an einer relevanten Schluckstörung. Auswirkungen einer Schluckstörung sind nicht selten Mangelernährung und Flüssigkeitsmangel. Bei Aspirationen besteht ein hohes Risiko für eine eventuell lebensbedrohliche Pneumonie. Die Aspirationspneumonie ist die vierthäufigste Todesursache bei Patienten über 65 Jahren. Eine gestörte Nahrungsaufnahme (hier denke man zum Beispiel an während des Essens auftretende Hustenstösse) kann darüber hinaus eine erhebliche Beeinträchtigung des sozialen Miteinanders und der Lebensqualität bedeuten und zu Angst und Schamgefühlen führen. Leider kann nicht allen von einer Presdysphagie Betroffenen zur vollen Zufriedenheit geholfen werden. Bei vielen Patienten ist es jedoch möglich, die Nahrungsaufnahme durch gezielte therapeutische Massnahmen zu verbessern.
Welche altersbedingten Veränderungen des Schluckaktes gibt es?
Für eine kompetente Diagnostik und Therapieeinleitung ist eine fundierte Kenntnis des hochkomplexen Schluckvorgangs unbedingt erforderlich. Der physiologische Schluckvorgang wird grob in fünf Phasen unterteilt, die als ineinander übergehend und miteinander gekoppelt verstanden werden müssen: L die präorale beziehungsweise antizipatorische Phase L die orale Vorbereitungsphase L die orale Transportphase L die pharyngeale Phase L die ösophageale Phase.
Störungen können einzeln oder in Kombination in allen diesen Phasen auftreten. Zu den Störungen der präoralen beziehungsweise antizipatorischen Phase gehören zum Beispiel mangelndes Hunger- oder Durstgefühl, unzureichende visuelle Erfassung der Nahrung und manuelle Unzulänglichkeiten bei der mundgerechten Zerkleinerung der Nahrung. Diese Störungen müssen selbstverständlich auch gut erfasst werden, werden im Folgenden aber nicht berücksichtigt.
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Veränderungen in der oralen Vorbereitungsund Transportphase
Mangelnde Sensorik und orale Sensibilität: Wir sehen leckere Nahrung, riechen sie und schmecken sie. Wir bemerken die Konsistenz und stellen unser Kauverhalten entsprechend ein. Die Speichelproduktion wird angeregt, manchmal «läuft uns das Wasser im Munde zusammen». All dies erzeugt Freude am Essen und steigert bei guter Nahrung die Lebensqualität. Mit zunehmendem Alter lassen die Geschmacks- und die Geruchswahrnehmung sowie die orale Sensibilität nach. Zusätzlich kann der Geruchs- und Geschmacksinn durch Medikamente (u.a. Antibiotika, Antihypertensiva, Antidepressiva) beeinträchtigt sein. Für den eingeschränkten Geschmackssinn ist möglicherweise die zurückgehende Zahl von Geschmackspapillen, für das Nachlassen des Riechvermögens unter anderem vermutlich eine verminderte Aktivität in den primären olfaktorischen Hirnarealen verantwortlich. Wohl jeder vierte Mensch über 55 Jahre und zwei Drittel aller Menschen über 80 Jahre haben eine Riechstörung. Eine Riechstörung kann auch traumatisch, durch Virusinfektionen oder neurodegenerativ auftreten. Die orale Sensibilität kann insbesondere auch durch einen Zahnersatz (Oberkiefervollprothese!) eingeschränkt sein. Mangelnde Kaufunktion: Bei gutem Zahnstatus und guten kognitiven Fähigkeiten bleibt die Kaufunktion prinzipiell relativ lange unbeeinträchtigt. Da aber Senioren häufiger als junge Menschen einen Zahnverlust, einen sanierungsbedürftigen Zahnstatus, einen nicht mehr optimal angepassten Zahnersatz oder chronische Zahnschmerzen haben, kann die Kaufunktion oft eingeschränkt sein. Ist die Muskelkraft reduziert, brauchen ältere Menschen auch mehr Kauvorgänge zur Zerkleinerung und Vorbereitung des Speisebolus. Dies führt zu einem erhöhten Zeitbedarf für die Nahrungsaufnahme. Sinnvoll ist in der Regel die Hinzuziehung eines zahnärztlichen Kollegen. Mangelnde Speichelproduktion: Speichel, hauptsächlich von den vier grossen Kopfspeicheldrüsen produziert, ist unter anderem zur Vorbereitung und Einspeichelung des Speisebolus, zur Reinigung der Mundhöhle, zur (Re-)Mineralisierung der Zähne und zur Andauung der Nahrung notwendig. Viele Senioren klagen über eine Xerostomie. Ursachen hierfür sind nicht nur die altersbedingten Veränderungen der Speichelproduktion, sondern auch die mit dem Alter steigende Einnahme von Medikamenten, Strahlentherapien oder auch Autoimmunerkrankungen, wie zum Beispiel das Sjögren-Syndrom. Schon alleine der im zunehmenden Alter häufiger zu beobachtende Räusperzwang ist ein Hinweis auf eine geänderte Speichelproduktion. Sicherlich kann sich jeder das Bild eines alten, hinfälligen Menschen vorstellen, dem beim Essen die Speise halb aus dem Mund läuft. Hier handelt es sich um eine Störung der oralen Phase mit mangelnder Boluskontrolle und sogenanntem «drooling» (mangelnde Boluskontrolle über die Lippen hinaus). Eine solch massive Störung ist zum Beispiel bei einer Gesichtsnervenlähmung nach Apoplex möglich. Die rein altersbedingten Veränderungen der Rarefizierung der Kollagen-, Muskel- und Fettstrukturen führen in der Regel nicht zum «drooling», können aber bei anderen Schädigungen zu einer mangelnden Kompensationsfähigkeit führen.
Weiterhin ist es möglich, dass der Bolus nicht in Richtung Pharynx kontrolliert werden kann und somit zu früh beziehungsweise unbeabsichtigt in Richtung Larynx abgleitet. Dieses Phänomen wird als «leaking» bezeichnet. Ein vermehrtes «leaking» ist möglicherweise dadurch begründet, dass im Alter die tonische Kontraktionskraft der Zunge abnimmt, weniger aber der maximale Zungendruck. Dies würde auch erklären, dass sich ältere Menschen eher an Flüssigkeiten als an festen Speisen verschlucken. Darüber hinaus ist bei einigen Patienten die Auslösung des Schluckreflexes, mithin also der Übergang von der oralen zur pharyngealen Phase, verzögert oder eingeschränkt.
Veränderungen in der pharyngealen Phase
Die pharyngeale Phase beginnt mit der Auslösung des Schluckreflexes und endet, wenn der Bolus durch die obere Speiseröhrenöffnung durchgetreten ist. Diese Phase ist besonders kritisch, da gleichzeitig der Kehlkopf eleviert und verschlossen und der obere Ösophagussphinkter geöffnet werden muss. Dadurch werden die Atemwege unterhalb des Kehlkopfes vor dem Eindringen von Nahrungsbestandteilen geschützt und eine Aspiration vermieden. Funktioniert diese Trennung der Atem- und Schluckwege nicht, kann es zu einer lebensbedrohlichen Aspirationspneumonie kommen. Im Alter verändern sich Struktur und Funktion des Pharynx. Nicht alle diese Veränderungen bewirken eine Erhöhung des Aspirationsrisikos, denn andere Veränderungen wirken quasi als Kompensation. Typischerweise vergrössert sich der Abstand zwischen Hyoid und Larynx, zwischen Atlas und Hyoid und zwischen der Spina nasalis posterior und dem Oberrand der Epiglottis. Gleichzeitig sinkt der Tonus im Pharynxschlauch, sodass insgesamt der Bolustransport verlängert und erschwert sein kann. Eventuell führt dies zu einer inkompletten Ösophagusklärung. Bei älteren Menschen kommt es, möglicherweise als Kompensationsmechanismus der altersphysiologischen Veränderungen, zu einer stärkeren Larynxelevation. Bei über 30 Prozent der älteren Patienten zeigen radiologische Untersuchungen eine Einengung des Übergangs Pharynx/Ösophagus, die als «cricopharyngeal bar» (CPB) bezeichnet wird. Dies führt auch zu einer Reduzierung der Öffnung des oberen Ösophagussphinkters. Möglicherweise berichten Patienten dann, dass ihnen Tabletten im Halse steckenbleiben. Für die Diagnostik wichtig ist, dass ein CPB bei einer endoskopischen Untersuchung typischerweise übersehen wird! Eine Röntgenbreischluckuntersuchung ist daher erforderlich. Eine Röntgenbreischluckuntersuchung ist auch sinnvoll, um eventuell ein Zenker-Divertikel (Aussackung im Laimerschen Dreieck) zu entdecken. Beide Veränderungen können eine Dysphagie hervorrufen. Manometrische Untersuchungen konnten zeigen, dass bei älteren Menschen der Ruhetonus des oberen Ösophagussphinkters reduziert, der Intrabolusdruck im Sphinkterbereich während des Schluckens jedoch erhöht ist. Ursächlich hierfür ist möglicherweise ein Verlust an Elastizität im oberen Ösophagussphinkter. Ebenfalls als Kompensationsmechanismus findet sich häufig ein erhöhter und verlängerter Druckaufbau im Hypopharynx, wohl um den Speisebolus gegen den erhöhten Widerstand im oberen Ösophagussphinkter zu befördern. Die Patienten berichten dann, dass das Schlucken anstrengender sei als früher.
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Bei älteren Menschen ist die pharyngeale Passagezeit im Vergleich zu jüngeren verlängert, auch die sonst zu beobachtende Bolusbeschleunigung im Hypopharynx fehlt. Grundsätzlich könnte durch verlängerte Passagezeiten das Aspirationsrisiko erhöht werden, da der Speisebolus länger im Pharynxbereich bleibt. Möglicherweise ist dies aber auch als Adaptation zur besseren Boluskontrolle an die im Alter veränderte Funktion zu interpretieren. Gleichzeitig kann die diffizile Koordination zwischen Larynxelevation, Kehlkopfverschluss und Öffnung des oberen Ösophagussphinkters beeinträchtigt sein: Bei vergleichenden Untersuchungen zeigte sich in der Gruppe älterer Probanden ein verspätetes Einsetzen der Hyoidbewegung und damit auch der Larynxelevation nach dem Eintritt des Bolus in den Pharynxbereich; dies wird auch als verspätete Schluckreflextriggerung bezeichnet. Nachgewiesen werden konnten auch Veränderungen sowohl der sensorischen als auch der motorischen Innervation des Pharynx. Vermutlich bewirken solche Defizite einerseits eine mangelnde sensorische Rückkopplung zur Boluskontrolle und andererseits eine gestörte Koordination der Boluspropulsion.
Veränderungen in der ösophagealen Phase
Bereits im Jahr 1964 prägten Soergel et al. den Begriff des Presbyösophagus. Sie wiesen durch radiografische und manometrische Untersuchungen tertiäre Kontraktionen der Ösophagusmuskulatur, Aperistaltik, verlängerte Ösophagusklärungszeiten und Dilatationen des Ösophagus nach. Wahrscheinlich sind die tatsächlichen altersbedingten Veränderungen diskreter ausgeprägt, als diese Studie nahelegt, da Soergel et al. andere Erkrankungen, wie Achalasien, nicht adäquat ausgeschlossen hatten. Dies ist auch für die Diagnostik wichtig: Motilitätsstörungen des Ösophagus sollten nicht einfach als altersbedingt abgetan werden, sondern auch andere solche Störungen verursachende Erkrankungen, wie die Achalasien, in die differenzialdiagnostischen Überlegungen eingeschlossen werden. Als sicher gilt, dass die Anzahl der Ganglienzellen des Plexus myentericus mit zunehmendem Alter abnimmt, das Ösophaguslumen weiter und die Ösophaguswand rigider wird. Wie im Pharynx ist auch im Ösophagus die Sensibilität mit zunehmendem Alter beeinträchtigt. So spürten zum Beispiel ältere Patienten bei Injektion von sauren Proben in den Ösophagus diese erst später als jüngere Probanden. Dies bedeutet konkret, dass ältere Patienten potenziell einem höheren Risiko ausgesetzt sind, einen ösophagealen Mukosaschaden durch Magensäure zu erleiden. Auch der Dehnungsschmerzreiz im Ösophagus bei intraluminalen Ballondilatationen stellt sich bei älteren Patienten später ein als bei jüngeren. Wird der untere Ösophagus gedehnt, findet sich eine verminderte sekundäre Peristaltik und eine seltenere Relaxation des unteren Ösophagussphinkters. Damit besteht die Gefahr einer inkompletten Klärung des Ösophagus in den Magen.
Diagnostik
Eine gründliche Anamneseerhebung ist häufig schon wegweisend, wenn es darum geht, Störungen im hochkomplexen Vorgang des Schluckens zu erkennen. In unserer täglichen Routine hat es sich bewährt, strukturierte Fragebögen zu ver-
wenden. Es kann durchaus sinnvoll sein, auch die Angehörigen zu befragen. Ältere Menschen geben häufig an, zum Teil auch aus Scham, keine Probleme mit der Nahrungsaufnahme zu haben. Erst bei genauerem Nachfragen stellt sich dann vielleicht doch heraus, dass sie vorsichtiger schlucken, kleinere Boli aufnehmen, nachschlucken müssen, Flüssigkeiten zum Schlucken beziehungsweise zum Transport fester Nahrungsbestandteile hinzunehmen oder bestimmte Speisen ganz meiden. Auch ist die Frage zu stellen, ob Medikamente beziehungsweise Tabletten problemlos eingenommen werden können. Eine daran anschliessende Inspektion der am Schluckvorgang beteiligten Strukturen kann eine Beeinträchtigung in der oralen Phase erkennen lassen. Sinnvoll kann das Hinzuziehen eines auf die geriatrische Zahnheilkunde spezialisierten Zahnarztes sein. Die Lippenkraft zu prüfen, ist in der Regel entbehrlich, da die anamnestischen Angaben schon ausreichend sind. Die Auslösung des Schluckreflexes lässt sich bei einer Inspektion des Mundraums und Oropharynx problemlos überprüfen. Die tieferen Abschnitte des Pharynx können in der Regel nur von einem Arzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde beziehungsweise Phoniatrie beurteilt werden. Bei der Inspektion mit der starren Optik (Laryngoskopie/Stroboskopie) lässt sich neben dem Hypopharynx auch der Larynx in Struktur und Funktion beurteilen. Im nächsten Schritt wird eine Schluckdiagnostik im engeren Sinne durchgeführt. Die videoendoskopisch kontrollierte Schluckdiagnostik und die Videofluoroskopie des Schluckaktes gelten als Goldstandard. Da beide Verfahren eine unterschiedliche Aussagekraft haben, wird es sich häufig anbieten, beide Verfahren einzusetzen. Die sogenannten klinischen Schluckprüfungen können wertvolle Hinweise geben, die beiden erstgenannten Verfahren aber nicht ersetzen. Relativ neu ist die Hochauflösungsmanometrie des Pharynx und oberen Ösophagussphinkters. Mit dieser Methode konnten schon interessante Ergebnisse, insbesondere bei neurogenen Pharynxstörungen, gewonnen werden. Wichtig wäre auch eine routinemässige Bestimmung der Kehlkopfreflexe. Hier hat sich leider noch kein Verfahren als praktikabel etabliert. Für die Zukunft ist das MIT-LAR-Verfahren (microdroplet impulse testing of laryngeal adductor reflexes) vielversprechend. Bei diesem werden mit einem kontrollierten Mikrotropfenimpuls die Kehlkopfschleimhaut stimuliert und die Reflexlatenzzeit objektiv (Bildverarbeitung mithilfe künstlicher Intelligenz) ausgewertet.
Therapie
Wie eingangs erwähnt, kann nicht jedem Patienten mit einer Presbydysphagie zufriedenstellend geholfen werden. Dennoch gibt es eine Reihe hilfreicher therapeutischer Ansätze. Diese sind nicht spezifisch für die Presbydysphagie, sondern sie werden auch bei anderen dysphagischen Patienten eingesetzt. Zu nennen sind hier insbesondere die Diätmodifikationen einschliesslich Konsistenzmodifikationen, Übungen zur Haltungsänderung und zu speziellen Schluckmanövern, Reflexstimulation und andere. Seit mehreren Jahren wird untersucht, ob nicht auch eine gezielte Elektrostimulation als zusätzliche Therapiemassnahme sinnvoll sein kann;
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Tabelle:
12 Gebote bei Schluckstörungen im Alter
1. Auf möglichst gute aufrechte Haltung achten. 2. Nahrungskonsistenz optimal auswählen. 3. Patient am Essen riechen lassen. 4. Kleine Bissen, gegebenenfalls Häppchen, servieren. 5. Zeit lassen! 6. Mund nach jedem Bissen leeren. 7. Eventuell Hilfsmittel nutzen, wie geeignetes Besteck oder Geschirr. 8. Auf passende Rahmenbedingungen beim Essen achten (kein gleich-
zeitiges Fernsehen ...). 9. Regelmässig Temperatur und Gewicht kontrollieren. 10. Auf gute Zahnhygiene achten. 11. Es ist wichtig, die Angehörigen zu beraten. 12. Gegebenenfalls ist rechtzeitig das Legen einer PEG-Sonde in Erwä-
gung zu ziehen.
kommerziell erhältliche Geräte für diese Art von Therapie sind bereits auf dem Markt. Grundsätzlich kommt dem Arzt schon beim ersten Patientenkontakt eine sehr wichtige Aufgabe zu: Er muss nicht nur, gegebenenfalls in weiteren Untersuchungen, klären, an welcher Stelle eine Störung des hochkomplexen Schluckvorgangs vorliegt, sondern bereits ganz am Anfang den Betroffenen die Angst und Scheu nehmen, offen über die Probleme zu sprechen, und ihnen Mut machen, mit therapeutischen Massnahmen gegen die Defizite anzugehen. In der Regel ist auch die Einbeziehung von Angehörigen nützlich beziehungsweise unerlässlich. In der Tabelle findet sich eine Liste von Ratschlägen, die die Nahrungsaufnahme vereinfachen können. Die klinische Routine zeigt, dass selbst die Umsetzung solch einfacher Ratschläge leider manchmal sehr schwierig sein kann.
Fazit für die Praxis
Presbydysphagien nehmen aufgrund des demografischen Wandels zu. Wegen der möglicherweise lebensbedrohlichen Konsequenzen muss der behandelnde HNO-Arzt oder Phoniater, dem häufig im therapeutischen Management eine Art Lotsenfunktion zukommt, zuverlässig zwischen präexistenten presbyphagischen Veränderungen und anderen Dysphagieursachen differenzieren. Wesentliche altersbedingte Veränderungen sind:
L eine reduzierte Schleimhautsensibilität L eine eingeschränkte Speiseboluskontrolle L eine verzögerte Schluckreflextriggerung L eine inkomplette pharyngeale Reinigungsfähigkeit L eine eingeschränkte Öffnung des oberen Ösophagus-
sphinkters.
Diese Veränderungen können zu einer eingeschränkten Si-
cherheit und Effektivität des Schluckaktes führen, sodass eine
Penetrations- und Aspirationsgefahr einerseits und eine
Mangelernährung andererseits drohen.
Ältere Patienten können diese Veränderungen zunächst recht
gut kompensieren, bemerken sie eventuell auch nicht oder
negieren sie sogar. Wichtig ist, dass eine Schluckstörung bei
Senioren nicht automatisch altersbedingten Vorgängen zuge-
ordnet, sondern dass auch überlegt wird, ob altersunabhän-
gige Erkrankungen zu einer Schluckstörung beitragen.
Nach der Befunderhebung und Diagnosestellung ist es sinn-
voll, diese Befunde an andere Behandler beziehungsweise Un-
tersucher zu kommunizieren. Es ist unerlässlich, dass diejeni-
gen, die die Diagnose stellen und Defizite beschreiben, eine
fundierte Kenntnis über die therapeutischen Möglichkeiten
haben.
Typischerweise umfasst die Therapie mehrere Säulen wie
Kostanpassung, Haltungsänderungen, Schluckreflexstimula-
tion, Ernährungsberatung, eventuell Umstellungen speichel-
reduzierender Medikamente sowie bei Bedarf eine Zahnsa-
nierung und/oder die Neuanfertigung von Zahnprothesen.
Aufgrund der extrem hohen Relevanz der Presbydysphagie
ist eine enge interdisziplinäre und interprofessionelle Zu-
sammenarbeit zwischen Hausarzt, HNO-Arzt, Phoniater,
Gastroenterologen, Zahnarzt und Logopäden unter Ein-
beziehung von Angehörigen und/oder Pflegepersonal wün-
schenswert und häufig auch unerlässlich.
L
Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Ptok Klinik und Poliklinik für Phoniatrie und Pädaudiologie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Strasse 1 D-30625 Hannover Tel. 0511-532 9110, Fax 0511-532 4609 E-Mail: ptok.martin@mh-hannover.de
Interessenlage: Der Autor erhielt Drittmittel von DFG, AIF, BMBF, BMWI, EFRE/EU und Reisebeihilfen von Physiomed. Erhaltene Drittmittel haben keinen Einfluss auf Inhalte dieses Beitrags.
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