Transkript
BERICHT
Demenz auf dem Rückzug
Hilft die vaskuläre Prävention auch dem Hirn?
Das Schreckgespenst der stetig steigenden Demenzraten scheint sich zurückzuziehen. Die Inzidenzraten sinken. Die Gründe sind jedoch nicht in der Behandlung mit Antidementiva, sondern möglicherweise in der veränderten Lebensweise und der breiten vaskulären Primär- und Sekundärprävention zu finden.
Mit zunehmendem Alter steigt die Prävalenz der Demenz. Bei
Personen über 90 Jahre trifft es jeden Dritten. In der Schweiz
sind gemäss Schätzung der Alzheimer-
vereinigung etwa 135 000 Menschen von
Demenz direkt betroffen und etwa
700 000 als direkte Angehörige oder im
sonstigen Umfeld indirekt betroffen.
Doch trotz der alternden Gesellschaft
scheinen sich die Befürchtungen über die
permanent ansteigende Krankheitsaus-
breitung nicht in aller Härte zu bewahr-
heiten, wie Prof. Dr. Reto W. Kressig, Ärzt-
licher Direktor Universitäre Altersmedizin
Basel, Felix Platter-Spital, Basel, an einer
Prof. Dr. Reto W. Kressig
Fortbildungsveranstaltung des Universitätsspitals Basel erklärte. Schwedische und
englische Kohortenstudien haben nämlich gezeigt, dass trotz
immer älter werdender Personen die Inzidenz der Alzheimer-
Erkrankung in den letzten Jahren gesunken ist (1, 2).
Interessanterweise haben zudem neueste Daten aus England
bei der Inzidenzreduktion einen Geschlechterunterschied zu-
tage gefördert: Von 1989 bis 1994 wurden bei 7635 über
65-Jährigen Daten erhoben und zwischen 2008 und 2011 er-
neut bei 7762 Personen der gleichen Altersklasse. Zwischen
den beiden Zeiträumen sind die Inzidenzzahlen bei den Män-
nern deutlich stärker gesunken als bei den Frauen (3). «Über
die Gründe kann man nur spekulieren, doch scheint dies vas-
kuläre Ursachen zu haben. In dieser Zeitspanne zwischen den
Befragungen hat sich der Lebensstil der Leute stark verän-
dert, nicht zuletzt auch, was die Rauchgewohnheiten be-
trifft», führte Kressig aus.
Vaskuläre Prävention mögliches Indiz
Zwischen 1988 und 2008 ist in den USA auch die Hirnschlagrate um 40 Prozent zurückgegangen. Beide Erkrankungen haben überwiegend vaskuläre Ursachen, und bei beiden Erkrankungen sind die Inzidenzraten in den letzten 20 Jahren zurückgegangen. Die vaskulären Risikofaktoren haben sich in diesem Zeitraum durch den breiten Einsatz von Antihypertensiva und Statinen verbessert. Interessant ist, dass nicht nur die vaskuläre Demenz, sondern auch die neurodegenerative Demenz zurückgegangen ist, was darauf hin-
weist, dass die Alzheimer-Demenz einen hohen entzündlichvaskulären Anteil hat und die Abtrennung vermutlich etwas künstlich war, so die Erklärung von Kressig. Dass der Demenzrückgang tatsächlich vaskuläre Gründe haben kann, zeigte die finnische randomisierte, kontrollierte Langzeitstudie FINGER. Darin wurden 1260 vaskuläre Hochrisikopatienten zwischen 60 und 77 Jahren eingeschlossen, die aber kognitiv noch gesund waren. Die Teilnehmer erhielten während 2 Jahren randomisiert entweder eine «Multidomain Intervention», bestehend aus Diät, Bewegung, kognitivem Training und kardiovaskulärem Risikomonitoring, oder in der Kontrollgruppe allgemeine Gesundheitsratschläge. Die Resultate zeigten, dass die Interventionsgruppe nach 12 sowie 24 Monaten im Vergleich zu den Kontrollen in der neuropsychologischen Testbatterie (NTB) wie auch in den Domänen Exekutivfunktionen und Ausführungsgeschwindigeit signifikant besser abschnitt. Die kognitive Funktion verbesserte sich trendmässig. Das bedeutet, dass derartige Interventionen die kognitive Funktion bei Risikopatienten verbessern oder zumindest erhalten können (4). Die Studie läuft weiter, und man darf gespannt sein, ob eine solche Lebensstilintervention auf die Länge das Demenzrisiko reduzieren kann.
Beginn schon viel früher
Die Pathogenese einer Demenz beginnt etwa 20 Jahre vor ihrer Diagnosestellung. Heute sind die dabei als Erstes auftretenden -Amyloid-Ablagerungen im Gegensatz zu früher messbar geworden. Diese Früherkennung bleibt jedoch ohne klinische Relevanz, denn eine kurative Therapie gegen die Demenz gibt es nicht. Es kommen auch verschiedene genetische Konstellationen infrage, ApoE4-Carrier scheinen dabei ein grösseres Risiko zu bergen. Solche Konstellationen bei Gesunden zu suchen, ist ethisch jedoch höchst problematisch, solange es keine Therapie gibt und der noch gesunde Getestete mit seiner genetischen Prädisposition alleingelassen würde. «Das Ziel ist jedoch schon, die Erkrankung präklinisch behandeln zu können. Doch dazu muss man wissen, wie sie entsteht – ein Dilemma», so Kressig. Bei einer e3/e3Variante liegt das Risiko für eine Alzheimer-Demenz-Entwicklung bei 10 bis 15 Prozent, bei einer e3/e4-Variante beträgt es 20 bis 25 Prozent, bei einer e4/e4-Variante ist es mit
126 ARS MEDICI 4 | 2018
BERICHT
Stadienabhängige Stufen der Pharmakotherapie bei AD
Krankheitsstadium
Medikamentöser Therapieansatz
Vorstufe (mild cognitive impairement) frühes, mildes Demenzstadium
1 Ginkgoextrakt 2 × 120 mg 1 × 240 mg
+ 2A + Cholinesterasehemmer (z.B. Rivastigmin 10 Patch/24 h)
klinische Verschlechterung (frühestens nach 6 Monaten)
2B nach frühestens 6 Monaten: Dosiserhöhung Cholinesterasehemmer (Rivastigmin 15 Patch/24 h)
und validierte Kurzverfahren «Brain Check» kommt mit 3 Fragen an den Patienten, 7 Fragen an die Angehörigen zum Selbstausfüllen und dem Uhrentest schneller und genauer zum Ziel. Die korrekte Zuordnung (abkärungsbedürftig/nicht abklärungsbedürftig) liegt mit der Angehörigenbefragung bei nahezu 90 Prozent (89,4%), ohne diese bei 81,2 Prozent. Der Test kann als Papier-undBleistift-Test oder mittels App auf iPhone oder iPad durchgeführt werden und ist in über 30 Sprachen verfügbar (6).
MMSE < 20 + 3 + Memantin (20 mg/Tag) (Kombinationstherapie) Welche Therapien haben Zukunft? Lebensende 4 Stop AD: Alzheimer-Demenz; MMSE: MMSE(Mini-Mental State Examination)-Score In den letzten zehn Jahren schaffte es kein neues Medikament, einen Nutzen bei Demenz zu zeigen. Auch die noch Hoffnung verheissenden Resul- 30 bis 55 Prozent am höchsten. «Es ist sehr schwierig, den Pa- tate einer Phase-2-Studie mit einem neuen 5-HT6-Serotonin- tienten die Bedeutung eines solchen Resultats zu erklären. rezeptor-Blocker (Intepirdin) enttäuschten in der am vergan- Wir empfehlen solche Tests zurzeit nicht, sie werden aber im genen Alzheimer-Kongress vorgestellten Phase-3-Studie. Internet angeboten, und es gibt Patienten, die eine Interpre- Momentan laufen mit Beteiligung der Basler Memory Clinic tation eines derartigen Resultats möchten.» fünf Phase-3-Studien. Dabei handelt es sich um Antikörper- therapien gegen Amyloid- und Tauproteine, was nach Mei- Betroffene spüren es lange vorher nung von Kressig am meisten Zukunft hat. Doch die Betroffenen scheinen es schon Jahre vor der Dia- gnosestellung selbst zu spüren, wie eine deutsche Unter- Aktuelle Behandlung der Demenz suchung zeigt. Darin wurden 1990 ältere, kognitiv gesunde Bis zum ersehnten Durchbruch muss man sich der Mittel Personen nach ihrer subjektiven Einschätzung ihrer kogniti- bedienen, die heute zur Verfügung stehen. ven Leistung zu zwei Zeitpunkten befragt und darüber, ob sie Das moderne Demenzmanagement besteht aus einem Vier- sich über eine allfällige Leistungsminderung Sorgen machten. Säulen-Prinzip (7): frühzeitige Diagnose und Anpassung der Personen mit inkonsistenten subjektiven, jedoch nicht objek- Massnahmen an den Patienten, nicht pharmakologische In- tivierbaren Leistungsabfällen mit oder ohne Sorgen hatten terventionen, pharmakologische Interventionen und die Tat- kein erhöhtes Risiko für eine Alzheimer-Demenz sechs Jahre sache, dass Angehörige und Betreuer entscheidend sind. später. Teilnehmer mit konsistenten subjektiven, jedoch nicht «Sorgen Sie für die Betreuung der Betreuer», so der Rat des objektivierbaren Abfällen, aber ohne Sorgen darüber ver- Experten. zeichneten ein 2-fach höheres Risiko, jene mit subjektivem, Der Einsatz von Antidementiva erfolgt gemäss Kressig sta- jedoch nicht objektivierbarem Leistungsabfall und Sorgen dienabhängig (Kasten). Den Anfang bei subtilen Symptomen über eine mögliche Demenzentwicklung ein 4-fach höheres macht der standardisierte Ginkgoextrakt 2 × 120 oder 1 × Risiko für eine Alzheimer-Demenz (5). «Subjektive Wahr- 240 mg/Tag, danach folgt der Einsatz von Cholinesterase- nehmungen über Gedächtnisprobleme sollten wir demnach hemmern (z.B. Rivastigmin Patch 10–15/24 h) bei milder De- ernst nehmen, auch wenn sich diese noch nicht objektivieren menzform bis zu einem MMSE(Mini-Mental State Examina- lassen», rät Kressig. tion) von 20. Unter dieser Punktzahl empfiehlt sich der Ein- satz von Memantin 20 mg/ Tag und der Kombination aus Case-Finding-App bequem und schnell Memantin und Cholinesterasehemmern, deren unterschiedli- Heute geht es im Screening darum, gezielt Fälle finden zu che Wirkmechanismen sich synergistisch ergänzen. Eine der- können. Mini-Mental- und Uhrentest sind zwar gute Scree- artige Kombination verzögert einen späteren Heimeintritt, «Brain- ninginstrumente, doch nehmen diese zusammen zu viel Zeit verglichen mit der Monotherapie oder gar keiner (8). Check»-App in Anspruch. Das von den Swiss Memory Clinics entwickelte Entgegen früherer Meinung sollten Antidementiva bei Ein- tritt ins Pflegeheim nicht mehr abgesetzt werden, um einer www.rosenfluh.ch/qr/BrainCheck akuten kognitiven wie auch vor allem verhaltensmässigen Verschlechterung vorzubeugen. Unter den nicht medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten sind die körperliche Aktivität zur Hirnleistungssteigerung sowie die Musiktherapie wichtige Pfeiler. Musik erhöht die Erinnerungsfähigkeit von Gesprochenem, wie eine Arbeit 128 ARS MEDICI 4 | 2018 BERICHT zeigte. Derzufolge wurde ein gesprochener Text von Alzhei- mer-Patienten besser erinnert, wenn er gesungen war (9). Welche Art von körperlicher Aktivität geeignet ist, zeigt eine neuere Arbeit, die bei älteren Personen regelmässiges Tanzen mit einem traditionellen Fitnessprogramm über einen Zeit- raum von 18 Monaten verglich. Beide Aktivitäten förderten die Plastizität des Hippocampus, aber nur das Tanzen konnte Gleichgewichtsschwierigkeiten verbessern (10). L Valérie Herzog Quellen:«Demenz 2017 – Update für den Praktiker», 30. November 2017 Universitätsspital Basel. Referenzen: 1. Qiu C et al.: Twenty-year changes in dementia occurrence suggest decreasing incidence in central Stockholm, Sweden. Neurology 2013; 80: 1888–1894. 2. Wu YT et al.: Dementia in western Europe: epidemiological evidence and implications for policy making. Lancet Neurol 2016; 15: 116–124. 3. Matthews FE et al.: A two decade dementia incidence comparison from the Cognitive Function and Ageing Studies I and II. Nat Commun 2016; 7: 11398. 4. Ngandu T et al.: A 2 year multidomain intervention of diet, exercise, cognitive training, and vascular risk monitoring versus control to prevent cognitive decline in at-risk elderly people (FINGER): a randomised controlled trial. Lancet 2015; 385; 2255–2263. 5. Wolfsgruber S et al.: Differential Risk of Incident Alzheimer's Disease Dementia in Stable Versus Unstable Patterns of Subjective Cognitive Decline. J Alzheimer Dis 2016; 54: 1135–1146. 6. Ehrensperger MM et al.: BrainCheck – a very brief tool to detect incipient cognitive decline: optimized case-finding combining patient- and informant-based data. Alz Res Ther 2014; 6: 69. 7. Kressig RW: Nicht-medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten bei Demenz. Internistische Praxis 2017; 58: 116–122. 8. Lopez OL et al.: Long-term effects of the concomitant use of memantine with cholinesterase inhibition in Alzheimer disease. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2009; 80: 600–607. 9. Moussard A et al.: Learning sung lyrics aids retention in normal ageing and Alzheimer's disease. Neuropsychol Rehabil 2014; 24: 894–917. 10.Rehfeld K et al.: Dancing or Fitness Sport? The Effects of Two Training Programs on Hippocampal Plasticity and Balance Abilities in Healthy Seniors. Front Hum Neurosci 2017; 11: 305. 130 ARS MEDICI 4 | 2018