Transkript
Offener Brief an Bundespräsident Alain Berset
Zürich, im Januar 2018
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Berset
Die Hoffnungen sind gross gewesen, als Sie als Vertreter unserer Generation von Ihrem Vorgänger mit dem Departement des Inneren das Bundesamt für Gesundheit übernommen haben. Hoffentlich einer, der mit Mut anpackt! Hoffentlich einer mit Weitsicht! Hoffentlich einer, der die Weichen in die richtige Richtung stellt! Bald sechs Jahre nach Ihrem Amtsantritt ist die Ernüchterung gross. Angepackt und angerissen haben Sie, bestimmt. Und kürzlich haben Sie auch Standfestigkeit bewiesen, indem Sie nicht wie Ihre Vorgänger angesichts des Haufens der unverändert ungelösten Probleme den Amtsstab bei der erstbesten Gelegenheit weitergereicht haben und in ein neues Departement gewechselt sind. Doch gemessen an Ihren Taten hat bisher unter dem Strich leider nicht viel Zählbares herausgeschaut. Und auch die Krankenkassenprämien sind weiterhin am Steigen. Unter dem Druck, endlich den grossen Wurf zu landen, suchen Sie nun das Heil als Ausdruck zunehmender Verzweiflung in Ihrem zweiten Tarifeingriff per 1. Januar 2018, nachdem der erste im Herbst 2014 bereits kläglich gescheitert ist. Mit Ihren geplanten Massnahmen treffen Sie erneut mit einer Breitseite die freipraktizierende Ärzteschaft und hierbei nicht nur die Spezialisten, die als momentane schwarze Schafe im Fokus der Sparer und auch der Medien stehen, sondern unter anderem mit der geplanten Beschränkung der Konsultationsminutagen auch die Grundversorger. Ihre Entscheidung wirft doch einige Fragen auf: L Wäre es nicht an der Zeit gewesen, vor-
erst einmal innezuhalten und die Mechanismen für die steigenden Gesundheitskosten zu analysieren und hierbei den Blick nicht durch die Sie ständig umgarnenden Lobbyisten verzerren zu lassen? L Wieso liegt der Fokus Ihrer Sparbemühungen bisher noch nicht mit demselben Impetus auf der Pharmaindustrie (Stichwort «überteuerte Medikamente») oder der Kostenstruktur der Krankenkassen?
L Sind Sie tatsächlich der Meinung, dass die freie Ärzteschaft für die Kostenentwicklung verantwortlich und Ihr Tarifeingriff deshalb in dieser Form mit all seinen noch nicht absehbaren, den Berechnungsmodellen folgend aber voraussichtlich sehr einschneidenden Folgen für diese Berufsgruppe gerechtfertigt ist?
L Ist Ihnen entgangen, dass seit der angekündigten und dann auch umgesetzten Einführung der Fallkostenpauschalen (DRG) im Stationärbereich – man musste schon damals keine hellseherischen Fähigkeiten besitzen, um diese Entwicklung vorherzusagen – die Kosten im ambulanten Spitalbereich explodiert sind?
L Und ist der Grund hierfür nicht darin zu suchen, dass viele Spitäler nach simpler betriebswirtschaftlicher Analyse, wie zu erwarten, als «reactio» auf die bundesrätlich angeordnete «DRG-actio» einerseits kostspielige Abklärungen vom stationären in den ambulanten Bereich verlegt und anderseits in den letzten Jahren – finanziert durch öffentliche Gelder – ihre Ambulatorien ständig ausgebaut haben?
L Und welche, wenn nicht wirtschaftliche Überlegungen führen dazu, dass immer mehr öffentliche Spitäler Dependancen an marktstrategisch wichtigen Orten wie zum Beispiel am Flughafen Zürich oder in Einkaufszentren eröffnen und sich hierbei nicht einmal durch Kantonsgrenzen beeindrucken lassen?
L Hätte ein ungetrübter Blick Sie nicht erkennen lassen müssen, dass im Gegensatz zu diesen kostentreibenden Aktivitäten die vergüteten Tarmed-Leistungen im Nicht-Spital-Bereich kaum angestiegen sind?
L Hätte Ihre Massnahme nach korrekter Analyse der Kostenanstiegsursache dann nicht eine andere sein müssen?
L Könnte bei vorhandenem politischem Willen den «ambulanten Expansionsbestrebungen» der öffentlichen Spitäler nicht Einhalt geboten werden?
L Doch wie gross ist dieser politische Wille, wenn man als Indikator hierfür nimmt, dass nach Einführung des Tarmed die öffentlichen Spitäler – unbeachtet vom Radar der medialen Berichterstattung und bestimmt mit der wohlwollenden
Billigung durch die kantonalen Finanzdirektoren – während Jahren für die genau gleiche Leistung mit einem 3 Rappen höheren Taxpunktwert – so im Kanton Zürich – als die freipraktizierende Ärzteschaft abrechnen durften? L Hätte auf Tarifebene nicht zuerst ein System zur Entflechtung der spitalgebundenen und nicht spitalgebundenen ambulanten Kosten geschaffen werden müssen, um danach zielgerichtet Ihr BonusMalus-System anwenden zu können? L Finden Sie es fair, die freipraktizierende Ärzteschaft für die erwähnten Fehlentwicklungen nun in Sippenhaft zu nehmen? L Müsste es Ihnen nicht vielmehr ein grosses Anliegen sein, dass die Praxismedizin gefördert wird, nachdem Sie hoffentlich die Studien gelesen haben, die belegen, dass Abklärungen und Behandlungen in der Arztpraxis signifikant günstiger sind als im Spitalambulatorium? L Tragen die seit Jahren ausgesendeten politischen Signale (u.a. der jahrelange Ärztestopp) und die nun von Ihnen geforderten neuen Hürden (u.a. Praxiseignungsprüfung) dazu bei, dass sich Ärzte in Zukunft überhaupt noch für eine freiberufliche Tätigkeit entscheiden werden?
Die Hoffnung besteht noch immer, dass Sie Entscheidungen treffen werden, welche zu einer Besserung der aktuellen vertrackten Situation beitragen, und dass Sie erkannt haben – und wenn nicht, hoffentlich nicht zu spät erkennen werden –, wie wichtig es wäre, dass Sie Rahmenbedingungen schafften, damit eine freiberufliche Ärzteschaft wie bis anhin auch zukünftig ihren wesentlichen Anteil an einer kosteneffizienten Gesundheitsversorgung der Schweizer Bevölkerung leisten kann, der von ebendieser Bevölkerung hoch geschätzt wird.
Bitte enttäuschen Sie diese Hoffnung nicht!
Dr. med. Martin Igual Vorstandsmitglied FMP
10 ARS MEDICI 1+2 | 2018