Transkript
INTERVIEW
«Die Schweiz präsentiert sich als Mini-Europa»
Interview mit PD Dr. W. Albrich zum Antibiotikagebrauch
Der Umgang mit Antibiotika muss dringend überdacht wer-
den, wenn eine weitere Zunahme von Antibiotikaresisten-
zen vermieden werden soll. Eine der diskutierten Mass-
nahmen ist die verkürzte Behandlungsdauer mit Antibio-
tika, wie die Studie von Llewelyn und Kollegen zeigt (1)
(siehe Seite 1138 ff.). Ob diese Massnahme zum jetzigen
Zeitpunkt schon empfohlen werden kann und welche ande-
ren Möglichkeiten bestehen, um den Antibiotikagebrauch
in der Schweiz zu reduzieren, darüber haben wir mit PD
Dr. med. Werner Albrich, Klinik für Infektiologie und Spital-
hygiene am Kantonsspital St. Gallen, gesprochen.
ARS MEDICI: Die häufige Antibiotikaeinnahme wird in der vorliegenden Analyse von Llewelyn et al. als ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Antibiotikaresistenzen genannt. Wie beurteilen Sie den ärztlichen Umgang mit Antibiotika in der Schweiz? PD Dr. W. Albrich: In einer älteren Studie von Filipini und Kollegen (2006) wurde gezeigt, dass der Antibiotikaverbrauch in der Schweiz geringer ist als in anderen europäischen Ländern (2). Neuere Studienergebnisse, die den Antibiotikaverbrauch im Spital mit einschliessen, sind nicht mehr so eindeutig. Zudem gibt es bei den Antibiotikaverschreibungen regionale Unterschiede. Zusammengefasst kann man sagen, dass wir in der Schweiz sicher in einer verhältnismässig guten Situation sind, was den Antibiotikaverbrauch betrifft. Nach unserer Beobachtung und Erfahrung gibt es jedoch sowohl im Spital wie auch bei den niedergelassenen Kollegen Verbesserungsmöglichkeiten.
Können Sie in Bezug auf die regionalen Unterschiede noch etwas konkreter werden? Albrich: Die Schweiz präsentiert sich diesbezüglich wie ein Mini-Europa. Das bedeutet: In der Romandie gibt es die Tendenz, Infektionen wie in Frankreich zu behandeln, im Tessin wie in Italien und in der deutschsprachigen Schweiz wie im benachbarten Deutschland oder Österreich. Entsprechend sind die Daten zu den Antibiotikaresistenzen in der Deutschschweiz günstiger als im Tessin und in der Romandie. Eine Studie zum Auftreten von methicillinresistenten Staphylococcus aureus (MRSA), die wir in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Zentrum für Antibiotikaresistenzen (anresis.ch) durchgeführt haben, konnte diese regionalen Unterschiede sehr schön zeigen (3).
Wie werden die Resistenzen überwacht, und wie sieht hier die Situation im Vergleich zum übrigen Europa aus? Albrich: In den EU-Ländern werden die Resistenzdaten für ausgewählte Erreger durch das European Antimicrobial Resistance Surveillance Network (EARS) erhoben. Die Schweiz
geht mit anresis.ch einen eigenen Weg. Im Vergleich zu den Nachbarländern und den meisten europäischen Ländern stehen wir bezüglich der Antibiotikaresistenzen gut da. Wir haben vergleichsweise wenig MRSA und vancomycinresistente Enterokokken. Bei den multiresistenten gramnegativen ESBL(«extended-spectrum -lactamase»-)bildenden Erregern beobachten wir, wie unsere Nachbarländer auch, eine Zunahme.
Wo kann sich der Allgemeinmediziner über die empfohlene Antibiotikabehandlung und die lokale Resistenzsituation in der Schweiz informieren? Albrich: Antibiotikaresistenzen zeigen regionale Unterschiede. Sie unterscheiden sich zudem zwischen Patienten, die ambulant behandelt werden können, und denen, die hospitalisiert werden müssen, und insbesondere von Infektionen, die im Spital erworben werden. Es ist deshalb sinnvoll und empfohlen, dass die grösseren Zentren und Spitäler ihre eigene Statistik zu den Antibiotikaresistenzen führen und Antibiogramme publizieren. Über die nationale Resistenzdatenbank von anresis.ch kann man die regionalen Antibiogramme zu den häufigsten Erregern abfragen. Die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie ist zurzeit dabei, die Richtlinien zur Antibiotikatherapie bei den wichtigsten Infektionserkrankungen, wie beispielsweise Harnwegsinfekte oder Pneumonien, zu konsolidieren. Sie werden dann über die verschiedenen Zentren hinweg und auch im ambulanten Setting Gültigkeit haben.
Welches sind aus Ihrer Sicht notwendige Massnahmen, die jeder einzelne Arzt ergreifen kann, um eine Zunahme der Antibiotikaresistenzen zu vermeiden? Albrich: Zunächst einmal sollte immer die Notwendigkeit einer Antibiotikatherapie hinterfragt werden. Bei einer bereits begonnener Therapie sollte möglichst täglich evaluiert werden, ob die Behandlung nach wie vor indiziert ist und ob ein empirisch gewähltes Breitspektrumantibiotikum im Verlauf auf ein Antibiotikum mit einem schmäleren Spektrum deeskaliert werden kann. Dies gilt vor allem dann, wenn ein Erreger und dessen Antibiogramm identifiziert wurden. Zudem ist es wichtig, die Patienten über den Nutzen und die Risiken einer Antibiotikatherapie, zum Beispiel die Entstehung und Selektion von Antibiotikaresistenzen, aufzuklären. Ein gut aufgeklärter Patient ist durchaus in der Lage, die Antibiotikabehandlung kritisch zu beurteilen.
Halten Sie es aufgrund der zunehmenden Antibiotikaresistenzen für notwendig, im ambulanten Setting häufiger eine Erregerdiagnostik durchzuführen? Albrich: Die überwiegende Zahl der Guidelines empfiehlt in der ambulanten Behandlung weder eine Erregerdiagnostik noch ein Antibiogramm. Diese Empfehlung gilt auch für den Harnwegsinfekt oder die Pneumonie, die ausserhalb des
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INTERVIEW
Zur Person
PD Dr. med. Werner C. Albrich arbeitet als Oberarzt an der Klinik für Infektiologie/Spitalhygiene des Kantonsspitals St. Gallen.
stellen oder telefonisch nachfragen, wie es ihm geht. Ist eine längere Behandlung indiziert, sollte man sich die Frage stellen, ob die Diagnose korrekt ist, es sich um eine Komplikation oder einen resistenten Erreger handelt. Ein Nachteil bei der ambulanten Behandlung sind die fest vorgegebenen Packungsgrössen, die den individuellen Verlauf nicht berücksichtigen. Zu den Indikationen, die von einer verkürzten Antibiotikatherapie ausgenommen sind, gehören unter anderem Fremdkörper- und Knocheninfekte, Bakteriämien mit Staphylococcus aureus und die Behandlung immunsupprimierter Patienten.
Spitals behandelt wird. Die Situation ändert sich, wenn zusätzlich Risikofaktoren vorhanden sind oder wenn es sich um ein Rezidiv handelt. In diesen Fällen werden, beispielsweise bei Harnwegsinfekten, auch ausserhalb des Spitals eine Erregerdiagnostik und eine Resistenztestung empfohlen.
Angenommen, der Antibiotikaverbrauch ist im ambulanten Setting höher als im Spital. Müsste man dann nicht konsequenterweise auch im ambulanten Setting häufiger eine Erregerdiagnostik und ein Antibiogramm durchführen, um den Einsatz von Breitspektrumantibiotika zu reduzieren? Albrich: Wir schätzen, dass 80 Prozent des gesamten Antibiotikaverbrauchs auf die Masttierhaltung und 20 Prozent auf den Einsatz beim Menschen entfallen. Von den 20 Prozent, die auf den humanen Antibiotikaverbrauch entfallen, werden 80 Prozent im ambulanten Setting und 20 Prozent im Spital eingesetzt. Die niedergelassenen Ärzte haben tatsächlich kaum Möglichkeiten, das Antibiotikaspektrum im Verlauf der Therapie zu verschmälern. Umso wichtiger ist es, dass die Indikation für die Antibiotikatherapie korrekt gestellt wird. Es wird davon ausgegangen, dass bis zu 80 Prozent der Antibiotika im ambulanten Setting für (oft virale) Atemwegsinfekte eingesetzt werden. Wenn sich dieser Anteil reduzieren liesse, würden wir mehr gewinnen als durch die Anpassung des Antibiotikaspektrums im ambulanten Bereich.
Die neue Analyse zeigt, dass mit kürzeren Behandlungszeiten bei bestimmten Infektionen vergleichbare Heilungsraten wie unter einer längeren Antibiotikatherapie erzielt wurden. Gleichzeitig wurde eine Abnahme der Nebenwirkungen beobachtet. Kann dieses Vorgehen schon empfohlen werden, oder ist es noch zu früh dazu? Albrich: Es gibt inzwischen viele und gute Daten unter anderem bei Pneumonien und Harnwegsinfekten, die zeigen, dass eine kurze Antibiotikatherapie wirksam und sicher ist. Bei anderen Infektionen, beispielsweise bei Haut- und Weichteilinfekten oder Bakteriämie, benötigen wir noch mehr Daten. Allgemein wird jedoch wahrscheinlich deutlich zu lange behandelt. Zum Beispiel sollte ein Patient mit einer Pneumonie in der Regel nicht länger als sieben Tage mit Antibiotika behandelt werden. Um den Verlauf zu beurteilen, könnte man den Patienten gegen Ende der Behandlung nochmals einbe-
Llewelyn et al. kritisieren in ihrer Analyse, dass mit einer indikationsspezifisch festgelegten Behandlungsdauer das individuelle Ansprechen der Patienten zu wenig berücksichtigt wird. Könnte die Bestimmung von Biomarkern wie dem Procalcitonin auch im ambulanten Setting geeignet sein, um die Behandlung zu terminieren? Albrich: Während die Labordiagnostik im Spital zur Verfügung steht, sind solche Verlaufsbeurteilungen anhand von Biomarkern im Blut in der Arztpraxis viel schwieriger zu organisieren. Deutlich günstiger und weiter verbreitet als die Bestimmung des Procalcitonins ist das C-reaktive Protein (CRP). Ein Nachteil des CRP ist, dass es weniger gut in Studien untersucht ist. Zurzeit führen wir mit Unterstützung des Nationalfonds (NFP 74) eine multizentrische Studie am Kantonsspital St. Gallen sowie an den Universitätsspitälern Genf und Lausanne durch, die bei Patienten mit gramnegativen Bakteriämien die feste Behandlungsdauer mit einer individualisierten CRP-gesteuerten Therapie vergleicht. Erste Ergebnisse der sogenannten PIRATE-Studie werden 2019 erwartet.
Die Analyse beschreibt, wie die Einnahme von Antibiotika zu
einer Vermehrung resistenter Keime, das heisst zu einer so-
genannten kollateralen Resistenzentwicklung, führt. Woher
stammen diese resistenten Keime?
Albrich: Es handelt sich dabei um ubiquitäre Erreger, die in der
Umwelt, auf der Haut oder auch im Gastrointestinaltrakt
vorhanden sind. Diese zeigen zum Teil spontane Resistenz-
mutationen gegen Antibiotika. Verschiedene Untersuchun-
gen haben nachgewiesen, dass es Antibiotikaresistenzen
schon vor Millionen von Jahren gegeben hat. Man hat bei-
spielsweise im 30 000 Jahre alten Permafrost und in Höhlen
in New Mexico, die mehr als 4 Millionen Jahre von der
Aussenwelt abgeschlossen waren, Resistenzgene gefunden.
Gleichzeitig wissen wir, dass der Verbrauch von Antibiotika
eine treibende Kraft für Resistenzen ist. Bodenproben in den
Niederlanden haben gezeigt, dass es im Zeitraum zwischen
1940 und 2008 zu einer Zunahme von Resistenzgenen auf
das Zwei- bis Fünffache gekommen ist. Resistenzen entste-
hen also spontan, werden aber durch den menschlichen
Antibiotikagebrauch selektioniert.
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Das Interview führte Regina Scharf.
Referenzen 1. Llewelyn MJ et al.: The antibiotic course has had its day. BMJ 2017; 358: j3418. 2. Filippini M et al.: Socioeconomic determinants of regional differences in outpatient
antibiotic consumption: evidence from Switzerland. Health Policy 2006; 78(1): 77–92. 3. Olearo F et al.: Staphylococcus aureus and methicillin resistance in Switzerland: re-
gional differences and trends from 2004 to 2014. Swiss Med Wkly 2016; 146: w14339.
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