Transkript
INTERVIEW
«Das Koloskopie-Screening senkt das Risiko, an Darmkrebs zu sterben»
Interview mit Prof. Stephan Vavricka, Zürich
Obwohl die Darmspiegelung als Screening-Untersuchung ab 50 Jahre in der gesamten Schweiz seit Juli 2013 eine Kassenleistung ist, nimmt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung daran teil. Wir sprachen mit dem Gastroenterologen Prof. Stephan Vavricka über die Chancen und Risiken des Koloskopie-Screenings und die neue App «Darm Check», die seit Kurzem für jedermann verfügbar ist.
Ars Medici: Herr Prof. Vavricka, wie hoch ist das Risiko, im Laufe des Lebens an Darmkrebs zu erkranken? Prof. Stephan Vavricka: Es gibt in der Literatur sehr unterschiedliche Angaben zu diesem «lifetime risk». Für die Schweiz schätzt man es – gemittelt über die gesamte Schweizer Bevölkerung jeden Alters – auf etwa 6 Prozent. Das persönliche Risiko ist eine andere Frage. So erkranken Männer häufiger daran als Frauen und Personen über 50 Jahre viel häufiger als jüngere.
Welche Risikofaktoren sind bekannt, und was bedeutet das für das Darmkrebs-Screening? Vavricka: Vor zwei Jahren wurde in den «Annals of Internal Medicine» ein Score publiziert, in dem das Alter, das Geschlecht, die Tatsache, ob bereits ein naher Verwandter ein kolorektales Karzinom hatte, das Rauchen sowie als Parameter für Übergewicht der Taillenumfang berücksichtigt werden (s. Kasten 1). Je nachdem, welchen Wert man auf dieser Skala erreicht, spricht das dann eher für eine Koloskopie oder optional eher erst einmal für einen Stuhltest. In diesem sogenannten Imperiale-Score hat das Alter ein grosses Gewicht. Darum erreichen ältere Personen meist so oder so einen Punktwert, der für die Koloskopie spricht.
Und ab welchem Punktwert empfehlen Sie eine Koloskopie? Vavricka: In unserer App «Darm Check» haben wir uns darauf geeinigt, dass Patienten ab einem Score von 4 Punkten eine Koloskopie machen sollten.
Wenn man nur diejenigen mit Symptomen koloskopiert, verpasst man jeden zweiten Fall.
Was hat es mit dieser App auf sich? Vavricka: Diese App haben wir gemeinsam mit dem Dachverband der Schweizerischen Patientenstellen entwickelt. Sie ist noch sehr neu und steht erst seit wenigen Monaten für iOS und Android gratis zur Verfügung. Man kann damit sein eigenes, persönliches Darmkrebsrisiko berechnen, das im Detail erläutert wird. Es ist eine App, welche die sogenannte «shared decision» von Patient und Arzt fördern soll. Der Patient wird über den Sachverhalt aufgeklärt, damit er selbst entscheiden kann.
Abbildung: Die App «Darm Check» wurde vom Dachverband der Schweizerischen Patientenstellen (DVSP) mit Betroffenen und Fachärzten entwickelt. Die kostenlose App informiert ausgehend vom Gesundheitszustand sowie der Lebenshaltung auch über Darmgesundheit, sie zeigt Vorsorgemassnahmen auf und schildert Darmuntersuchungsmethoden.
Apple App Store: https://itunes.apple.com/ch/app/id1273680828 Google Play Store: http://play.google.com/store/apps/details?id=com.fabware.darmcheck
Senkt das Koloskopie-Screening tatsächlich die Darmkrebsinzidenz und -mortalität, oder werden die Tumoren nur früher entdeckt, ohne dass dies den weiteren Verlauf entscheidend beeinflusst? Vavricka: Es ist bekannt, dass das Screening auf Darmkrebs einen hohen Nutzen hat. Das Koloskopie-Screening senkt eindeutig das Risiko, einen Darmkrebs zu bekommen, und es senkt auch das Risiko, daran zu sterben. Diese Krebsart wird nicht nur früher entdeckt, sondern dieses Screening ist so nützlich, weil die Vorstufen des Kolorektalkarzinom lange Zeit noch gutartig sind. Die bekannte prospektive Schweizer Kohortenstudie in Uri und Glarus ergab, dass die darmkrebsbedingte Mortalität bei den Personen mit Koloskopie um 88 Prozent und die Inzidenz der Kolorektalkarzinome um rund 70 Prozent sank (Kasten 2).
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ARS MEDICI 24 I 2017
INTERVIEW
Zur Person
Prof. Dr. med. Stephan Vavricka Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie, Zürich-Altstetten
Was bedeutet das in absoluten Zahlen? Vavricka: Wie der Autor der Uri/Glarus-Studie kürzlich in der Schweizer Ärztezeitung erläuterte, bedeutet das, dass bei 1000 Personen im Alter über 50 Jahren 8 bis 10 Karzinome durch die Vorsorgekoloskopie verhindert werden können.
Würde anstelle der Koloskopie nicht auch eine Sigmoidoskopie als Screening reichen? Vavricka: In England und gewissen anderen Ländern wird diese Methode in der Tat propagiert, aber dann immer in Kombination mit einem FOBT*, einem Stuhltest auf okkultes Blut. Der FOBT und die Sigmoidoskopie werden bei dieser Strategie in regelmässigen Abständen wiederholt. Das Problem dabei ist, dass man in der Sigmoidoskopie Kolonkarzinome verpasst, welche im rechten Teil des Dickdarms auftreten.
Kasten 1:
Imperiale-Score zur Abschätzung des Darmkrebsrisikos
Parameter
Alter Geschlecht
< 55 Jahre 55 bis < 60 Jahre 60 bis < 65 Jahre 65 bis < 70 Jahre ≥ 70 Jahre weiblich männlich ≥ 1 Verwandter 1. Grades mit Kolorektal-Ca. Taillenumfang Männer < 95 cm, Frauen < 87,9 cm Männer 95 bis < 119,9 cm Frauen 87,9 bis < 110 cm Männer ≥ 119,9 cm Frauen ≥ 110 cm Rauchen hat nie geraucht 0 bis < 30 pack-years ≥ 30 pack-years Punktzahl 0 1 2 3 4 0 1 1 0 1 2 0 2 4 Risiko für Kolorektalkarzinom sehr niedriges Risiko niedriges Risiko mittleres Risiko hohes Risiko Summe 0 1–3 4–6 >6
Quelle: Imperiale TF et al.: Derivation and validation of a scoring system to stratify risk for advanced colorectal neoplasia in asymptomatic adults. Ann Intern Med 2015; 163: 339–346.
Wie viele Tumoren riskiert man damit zu verpassen? Vavricka: Gemäss Statistiken zur Lokalisation von Kolonkarzinomen befindet sich etwa ein Drittel bis die Hälfte dieser Tumoren im rechten Teil des Dickdarms. Deshalb nimmt man ja noch den Stuhltest dazu. Trotzdem bin ich der Ansicht, dass man die Koloskopie beim Screening einsetzen sollte, das ist für mich die eindeutig bessere Methode.
Würde es nicht doch reichen, wenn man erst bei Verdacht auf einen Darmtumor eine Koloskopie durchführt? Vavricka: Es gibt viele gute Studien, auch aus der Schweiz, die zeigen, dass Patienten in den frühen Stadien eines Kolorektalkarzinoms noch asymptomatisch sind. So entwickelt in einem frühen Stadium nur etwa jeder Fünfte Symptome, und selbst in ganz späten Stadien gibt es Patienten, die nichts davon spüren. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass etwa nur die Hälfte der Darmkrebspatienten Symptome aufweist. Wenn man also nur diejenigen mit Symptomen koloskopiert, verpasst man jeden zweiten Fall.
Wie gut wird das Screening-Angebot in der Schweiz angenommen? Vavricka: Obwohl das Koloskopie-Screening in der Schweiz für alle Personen zwischen 50 und 70 Jahren von den Kassen bezahlt wird, nehmen es nur etwa 12 bis 13 Prozent der Berechtigten wahr. Die anderen fast 90 Prozent nutzen diese Vorsorgemöglichkeit überhaupt nicht. Um das zu ändern, muss man immer wieder darüber reden. Viele Patienten haben Angst vor der Koloskopie, haben gehört, das Abführmittel sei widerlich und so weiter. Da ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisen. Das berüchtigte Abführmittel ist übrigens bei Weitem nicht mehr so unangenehm wie das vielleicht noch vor einigen Jahren war.
Die Koloskopie ist also keine allzu beliebte Untersuchung. Welche empfehlenswerten Alternativen gibt es? Vavricka: Wenn man sich für einen Stuhltest entscheiden würde, dann wäre das ganz klar der OC-Sensor-Test. Dieser Test weist die höchste Spezifität und Sensitivität auf, und er wurde auch in gross angelegten Studien gut untersucht. Der Test wird von den Krankenkassen bezahlt.
* FOBT: fecal occult blood test; Stuhltest auf okkultes Blut
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INTERVIEW
Kasten 2:
Schweizer Studie zum Darmkrebs-Screening in Uri und Glarus
In den Kantonen Glarus und Uri wurden 22818 Personen in eine prospektive Kohortenstudie eingeschlossen (1). 2044 von ihnen stimmten einer Koloskopie zu. Von diesen gescreenten Personen wurden 1912 über sechs Jahre hinweg verfolgt. Das Risiko, in der Follow-up-Phase an Darmkrebs zu erkranken, war bei den gescreenten Personen deutlich niedriger als bei den nicht gescreenten, und zwar trotz vergleichbarer Faktoren wie Alter, Geschlecht, familiäre Tumorbelastung, Gewicht, Rauchgewohnheiten, Beruf und Lebensstil. Die Odds Ratio betrug für das Auftreten eines Darmtumors 0,31 (95%-Konfidenzintervall: 0,16–0,59; p < 0,001). Auch die darmkrebsbedingte Mortalität war mit einer Odds Ratio von 0,12 (95%-Konfidenzintervall: 0,01–0,93; p = 0,04) bei den gescreenten Personen niedriger.
In einem kürzlich publizierten Beitrag bezifferte einer der Autoren dieser Studie die absolute Risikoreduktion mit 8 bis 10 kolorektalen Karzinomen weniger auf 1000 gescreente Personen ab einem Alter von 50 Jahren (2).
1. Manser CN et al.: Colonoscopy screening markedly reduces the occurrence of colon carcinomas and carcinoma related death: a closed cohort study. Gastrointest Endosc 2012; 76: 110–117.
2. Marbet U: Weniger Erkrankte und mehr Überlebende dank Darmkrebsvorsorge. Schweiz Ärztezeitung 2017; 98: 34.
Kasten 3:
Was bringt das Darmkrebs-Screening in absoluten Zahlen?
Wer braucht unbedingt eine Koloskopie und bei wem reicht der Stuhltest? Vavricka: Bei Patienten unter 50 Jahren stellt sich die Frage des Screenings primär nicht, sondern diese werden untersucht, wenn sie Symptome haben. Das klassische Screening symptomloser Patienten beginnt ab 50. Ob man dann bei diesen 50-Jährigen primär eine Koloskopie oder primär diesen Stuhltest macht, den man notabene regelmässig alle zwei Jahre wiederholen soll, hängt ein bisschen von dem eingangs genannten Imperiale-Score ab. Bis zu einem Score von 3 Punkten tut es vorerst auch der OC-Sensor-Test. Empfehlenswert bleibt die Koloskopie ab 50 aber trotzdem.
Bei Patienten über 50 mit Blut im Stuhl sollte man auf jeden Fall eine Darmspiegelung machen und nicht erst nach Hämorrhoiden suchen.
Welche Komplikationen können bei einer Koloskopie eintreten? Vavricka: Auch das ist ein wichtiger Aspekt, der mit dem Patienten besprochen werden sollte. Wenn man eine Darmspiegelung durchführt, bei der sonst nichts gemacht wird – also keine Polypen abgetragen werden – beträgt das Perforationsrisiko etwa 0,1 bis 0,2 Prozent. Bei 1000 Darmspiegelungen betrifft das also einen bis zwei Patienten. Eine weitere Komplikation sind Blutungen, die man bei der Darmspiegelung auslösen kann. Dieses Risiko beträgt etwa 0,6 Prozent, also 6 von 1000 Koloskopien (s. Kasten 3). Wenn man bei der Koloskopie auch Polypen abträgt, ist das Perforations- und Blutungsrisiko natürlich etwas höher.
Innert 15 Jahren haben ohne Kolonoskopie-Screening: 40 von 2000 Personen über 50 Jahre ein Karzinom;
mit Kolonoskopie-Screening: 14 von 2000 Personen über 50 Jahre ein Karzinom.
Es braucht 180 Kolonoskopien, um ein Karzinom im Screening zu finden;
70 Kolonoskopien, um ein Karzinom mit Screening zu verhindern.
Bei 1000 Koloskopien (ohne Intervention) kommt es in 1 bis 2 Fällen zu Perforationen in 6 Fällen zu Blutungen
Quellen: Präsentation am Prevention Summit am 15. Juni 2017 in Zürich (Nutzen); Interview S. Vavricka (Komplikationen)
Wie sieht es mit den Bluttests aus? Vavricka: Sie meinen vermutlich den Septin-9- oder den Colox®-Test. Das Problem bei diesen Bluttests ist, dass sie in der alltäglichen Praxis eine zu geringe Sensitivität aufweisen könnten. Es gibt zwar kleine Studien, in denen eine hinreichende Sensitivität und Spezifität gezeigt wurden, aber es fehlen gross angelegte Studien, bis man mehr dazu sagen kann. Insofern scheinen mir die Bluttests noch keine wirkliche Alternative zu sein, obwohl die Akzeptanz bei den Patienten dafür hoch ist.
Muss im Fall einer Perforation der Darmwand operiert werden? Vavricka: Das ist nicht immer zwingend. Es gibt auch die Möglichkeit, Perforationen von innen her endoskopisch mit einem Clip zu verschliessen.
Blut im Stuhl ist ein Alarmsignal.Wie sollte der Hausarzt vorgehen, wenn ein Patient deswegen in die Praxis kommt? Vavricka: Wenn Blut im Stuhl auftritt, sollte man das nicht immer nur primär auf Hämorrhoiden zurückführen, sondern man sollte dann überlegen, ob der Patient noch andere Risikofaktoren hat. Wenn der Patient unter 50 Jahre alt ist, kann man erst einmal dem Verdacht auf Hämorrhoiden nachgehen und überprüfen, ob der Patient überhaupt welche hat. Ich erlebe es immer wieder, dass mir Patienten überwiesen werden, die wegen Hämorrhoiden behandelt werden, aber gar keine haben. Wenn das Blut trotz Hämorrhoidentherapie nicht verschwindet oder wenn sich keine Hämorrhoiden finden, muss der Hausarzt den nächsten Schritt machen und den Patienten rasch zum Spezialisten schicken. Bei Patienten über 50 mit Blut im Stuhl würde ich das sofort machen und gar nicht erst nach Hämorrhoiden suchen und sowieso eine Darmspiegelung machen.
Herr Prof. Vavricka, wir danken Ihnen für das Gespräch. O
Das Interview führte Renate Bonifer.
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