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BERICHT
Säuglingsernährung 2017
Update der schweizerischen Empfehlungen
Im Auftrag des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) hat die Ernährungskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) gemeinsam mit Koautoren des EEK-Berichts «Ernährung in den ersten 1000 Lebenstagen» sowie der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) neue Empfehlungen erarbeitet. Kommissionspräsident Prof. Dr. med. Christian Braegger, Kinderspital Eleonorenstiftung Zürich, fasste an der SGP-Jahrestagung die Neuerungen zusammen.
Renate Bonifer
enterology, Hepatology, and Nutrition (ESPGHAN) heisst es, dass Stillen zwar aufgrund seiner bekannten positiven Wirkungen auf jeden Fall gefördert werden sollte, dies aber auf das Zöliakierisiko keinen Einfluss habe. Die ESPGHAN empfiehlt, Gluten zu jedem beliebigen Zeitpunkt zwischen dem vollendeten 4. und dem 12. Lebensmonat in die Beikost einzuführen und zu Beginn allzu grosse Mengen zu vermeiden (2).
Die neuen Empfehlungen (1) enthalten im Wesentlichen drei neue Punkte: O einen Paradigmenwechsel bezüglich
der Empfehlungen zur Allergieprävention O ein Statement zu Fingerfood als Beikost O was bei vegetarischer oder veganer Ernährung zu beachten ist. Unverändert geblieben sind die Empfehlungen bezüglich der Stillförderung, der Supplementation (z.B. Vitamin D)
Das Wichtigste in Kürze
O Das Kind sollte 4 bis 6 Monate möglichst ausschliesslich gestillt werden.
O Falls Stillen nicht möglich ist, wird Säuglingsanfangsnahrung in den ersten 6 Lebensmonaten empfohlen.
O Für gesunde Säuglinge besteht keine Indikation für Spezialnahrungen.
O Die Beikost sollte frühestens ab dem 5. und spätestens ab dem 7. Lebensmonat eingeführt werden.
O Allergenkarenz zur Allergieprävention im 1. Lebensjahr wird nicht mehr empfohlen.
O Die vegane Ernährung wird für Säuglinge nicht empfohlen.
Die detaillierten Empfehlungen für die Säuglingsernährung 2017 zum Download: www.swiss-paediatrics.ch
sowie der Verwendung von Formulaernährung als Muttermilchersatz und begleitend zur Beikost.
Keine Einschränkung bei poten-
ziell allergenen Lebensmitteln
Wie prinzipiell für alle Säuglinge wird auch für Kinder mit erhöhtem Atopierisiko das möglichst ausschliessliche Stillen im ersten halben Jahr empfohlen, das begleitend zur Einführung der Beikost (ab 5. bis spätestens 7. Monat) fortgesetzt wird, und zwar so lange, wie Mutter und Kind das möchten. Diätetische Einschränkungen der stillenden Mutter bringen nichts für die Allergieprävention. Auch gibt es keine Beweise dafür, dass das Meiden oder die verzögerte Einführung potenziell allergener Nahrungsmittel, wie beispielsweise Fisch oder Ei, in der Ernährung des Kindes nützlich sind. Das gilt auch für das Gluten. In den neuen Schweizer Empfehlungen steht zwar noch, dass der Zeitpunkt der Gluteneinführung und das Stillen einen Einfluss auf das spätere Zöliakierisiko hätten. Gemäss neueren Studien ist dies aber nicht der Fall, und die verzögerte Einführung von Gluten kann allenfalls die Manifestation einer Zöliakie verzögern, nicht aber die Zöliakie an sich verhindern. In einem Statement der European Society for Pediatric Gastro-
Fingerfood für Babys
«Selbstverständlich gehört die Selbstfütterung ebenfalls zur Beikost», sagte Christian Braegger. Als Vorteile gelten eine bessere Regelung des Appetits und eine schärfere Wahrnehmung des Kindes für Sättigung. In der einschlägigen Ratgeberliteratur für Eltern wird die Selbstfütterung zwar als brandneue Strategie verkauft, doch das Anbieten fester Kost, die das Kind sich selbst zum Mund führt, gehörte schon immer zur ganz normalen Entwicklung des Essverhaltens.
Vegetarisch ja – vegan nein
Eine Versorgung mit allen notwendigen Nährstoffen ist mit einer vegetarischen Ernährung auch im Säuglingsalter möglich, wenn sie abwechslungsreich und genügend verfügbares Eisen dabei ist (eisenreiche pflanzliche Lebensmittel müssen mit Vitamin-C-reichen Lebensmitteln und Rohkost kombiniert werden, um die Bioverfügbarkeit des pflanzlichen Eisens zu steigern [3]). Säuglinge mit rein vegetarischer Beikost sollten mindestens 500 ml Muttermilch oder Säuglingsanfangsnahrung pro Tag erhalten. Die vegane Ernährung von Säuglingen wird ausdrücklich nicht empfohlen. Stillende, sich vegan ernährende Mütter müssen Vitamin B12 supplementie-
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Tabelle:
Unterschiede zwischen Humanmilch und Kuhmilch
Proteingehalt Verhältnis Molkenprotein : Kasein Linolsäure Vitamin C Kalzium Oligosaccharide
Humanmilch
1,13 g/100 g 60% : 40% 413 mg/100 g 6,5 mg/100 g 29 mg/100 g 8 g/l
Kuhmilch
3,33 g/100 g 18% : 82% 64 mg/100 g 1,7 mg/100 g 120 mg/100 g 0,04 g/l
ren, um unter anderem die besonders im ersten Lebensjahr rasante Gehirnentwicklung und die Blutbildung des Kindes nicht zu gefährden. Falls Eltern ihrem Kind rein vegane Beikost geben, muss Vitamin B12 immer supplementiert werden; auch andere Nährstoffe, wie zum Beispiel Eisen, sind oft zusätzlich nötig. «Eine vegane Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern muss durch einen erfahrenen Arzt und eine qualifizierte Ernährungsfachkraft begleitet und betreut werden», heisst es in den aktuellen Schweizer Empfehlungen (1).
Stillen immer fördern
Nicht geändert haben sich die grundsätzlichen Empfehlungen zu den Vorteilen des Stillens. «Die Muttermilch ist das einzige Lebensmittel in einer einzigen Phase des Lebens, das einen Menschen komplett ernährt, es ist sozusagen die einzige natürliche, voll bilanzierte Ernährung», sagte Braegger. Es gebe nur wenige Situationen, in denen eine Mutter nicht stillen könne: bei Galaktosämie oder kongenitalem Laktasemangel des Kindes oder falls die Mutter Brustkrebs oder aktive Tuberkulose hat, HIV-positiv ist, bestimmte Medikamente oder Drogen nimmt oder unter einer stark schmerzenden Mastitis leidet. In den Ländern der Dritten Welt ist die Stillförderung eine der zentralen Strategien zur Senkung der Kindersterblichkeit, aber auch in Industrieländern sterben Kinder, weil sie nicht gestillt werden. So errechneten die Autoren einer amerikanischen Studie vor zehn Jahren, dass in den USA jährlich etwa 720 Neugeborene sterben, die das Stillen vermutlich gerettet hätte (4). Von be-
sonderer Bedeutung sei in diesem Zusammenhang die nekrotisierende Enterokolitis bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von 500 bis 1500 g, an der 20 bis 30 Prozent der betroffenen Kinder sterben, berichtete Braegger. In einer bereits 1990 publizierten Studie mit 926 Frühgeborenen zeigte sich, dass die Prävalenz der nekrotisierenden Enterokolitis bei Frühgeborenen von 7,2 auf 2,1 Prozent sank, wenn die Kinder zusätzlich zur Formulaernährung Muttermilch erhielten. Erhielten sie ausschliesslich Muttermilch, waren es nur noch 1,2 Prozent (5). Die WHO empfiehlt, Kinder bis zum Alter von 6 Monaten ausschliesslich zu stillen und das Stillen parallel zur Beikost bis zum Alter von 2 Jahren weiterzuführen. Dieser weitreichenden Empfehlung folgt man in den industrialisierten Ländern mit guten Versorgungs- und Hygienestandards nicht. Wie bereits erwähnt, rät man in der Schweiz dazu, alle Kinder im ersten halben Jahr zu stillen, die Beikost frühestens ab dem 5. und spätestens ab dem 7. Monat einzuführen und parallel so lange weiterzustillen, wie Mutter und Kind das möchten. Der Flüssigkeitsbedarf eines Säuglings ist sehr individuell und liegt im Schnitt bei 800 bis 1000 ml pro Tag (Muttermilch bzw. Formula und ungesüsste Getränke).
Formula als zweitbeste Lösung
Säuglingsanfangsmilchen können die Muttermilch ersetzen. Sie dienen der Ernährung gesunder Säuglinge ab Geburt, können aber auch ab dem 7. Monat zusammen mit der Beikost im ersten Lebensjahr weitergefüttert werden. Folgenahrungen sind als Beikostbegleitung gedacht und als Mutter-
milchersatz für die ersten 6 Lebensmonate nicht geeignet; sie können die Muttermilch darum erst mit Einführung der Beikost und frühestens ab dem 7. Lebensmonat ersetzen. Formulamilchen werden meist auf der Basis von Kuhmilcheiweiss hergestellt. Das heisst aber nicht, dass Kuhmilch ein Ersatz dafür sein könnte. So enthält die Kuhmilch beispielsweise zu viel Protein und zu viel Kalzium (Tabelle). In kleinen Mengen als Beikost ab dem 7. Monat sei Kuhmilch möglich, aber sie sollte nicht mit der Flasche gefüttert werden, sagte Braegger. Erst ab dem 2. Lebensjahr kann die Säuglingsanfangs- oder -folgenahrung durch Kuhmilch (Vollmilch) ersetzt werden, heisst es dazu in den Empfehlungen (1). O
Renate Bonifer
Quelle: Referat von Prof. Christian Braegger am SGPSymposium: «EEK-Bericht 1000 Tage» an der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie in St. Gallen, 2. Juni 2017.
Literatur: 1. SSP/SGP-Empfehlungen für die Säuglingsernährung
(2017). Zum Download verfügbar unter www.swisspaediatrics.ch 2. Szajewska H et al.: Gluten introduction and the risk of coeliac disease: a position paper by the European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition. J Pediatr Gastroenterol Nutr 2016; 62(3): 507–513. 3. SSP/SGP-Empfehlungen für die Kleinkinderernährung im Alter von 1 bis 3 Jahren (2017). Zum Download verfügbar unter www.swiss-paediatrics.ch 4. Chen A et al.: Breastfeeding and the risk of postneonatal death in the United States. Pediatrics 2004; 113: e435–e439. 5. Lucas A, Cole TJ: Breast milk and neonatal necrotising enterocolitis. Lancet 1990; 336: 1519–1523.
Erstpublikation in «Pädiatrie» 4/2017.
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