Transkript
BERICHT
Nach dem Sturz ist vor dem Sturz
Erfolgreiche Sekundärprävention mit definiertem Behandlungspfad
Die Hüftfraktur nach einem Sturz ist eine für ältere Patienten lebensbedrohliche Erkrankung, für deren Ursache eine zu geringe Muskel- und Knochenmasse und ein Vitamin-D-Mangel entscheidend sind. Ein speziell auf diese Patienten abgestimmter Behandlungspfad des Universitätsspitals Zürich zeigte sich in der Sekundärprävention erfolgreich.
ständigkeit weitestgehend zu erhalten. Neben der Akutmedizin kommen auch nutritive Konzepte zum Einsatz. Ausserdem erhalte der Patient Instruktionen zum Heimtrainingsprogramm, berichtete Bischoff-Ferrari.
Lydia Unger-Hunt
Stürze mit nachfolgenden Knochenfrakturen zählen zu den zentralen Verletzungsursachen in der Geriatrie. Zentrale Säulen des Managements sind neben der Behandlung der Folgen auch das Verhindern eines zweiten Sturzes. Dabei sind kognitive Einschränkungen ebenso zu berücksichtigen wie Sarkopenie, Multimorbidität, Polypharmazie oder Delirrisiko; zudem spielt auch eine Mangelernährung bei vielen Patienten eine wichtige Rolle, berichtet Prof. Dr. med. Heike A. Bischoff-Ferrari, Direktorin der Klinik für Geriatrie am Universitätsspital Zürich.
68 Prozent sind unterernährt Die Bedeutung der Mangelernährung hat die Gerontologin in einer Studie an
MERKSÄTZE
O Sarkopenie und Osteoporose sind die wichtigsten Faktoren für Fragilitätsfrakturen.
O Ein Grossteil der Sturzpatienten ist vor dem Ereignis mangelernährt. Bei allen älteren Patienten ist daher auf eine ausreichende Proteinversorgung zu achten.
O Heimtraining und Vitamin-D-Supplementierung sind eine effektive Sekundärprophylaxe und sollten bei allen Sturzpatienten zum Einsatz kommen.
176 Traumapatienten im Alter über 70 Jahre aufgezeigt: 68 Prozent der Teilnehmer waren entweder mangelernährt oder hatten ein Risiko für Mangelernährung (1). Ausserdem wiesen fast alle Patienten (99%) eines der fünf Gebrechlichkeitskriterien auf. Zu diesen «frailty criteria» zählen Schwäche, Langsamkeit, geringe körperliche Aktivität, subjektive Erschöpfung und unbeabsichtigter Gewichtsverlust. Auf Basis der Studienergebnisse erstellte das Team um Bischoff-Ferrari eine «Gleichung» für Fragilitätsfrakturen:
Sarkopenie (geringere Muskelmasse, -funktion und -qualität)
© erhöhtes Sturzrisiko
+
Osteoporose (geringere Knochenmasse, Geometrie und Knochenqualität)
© erhöhte Knochenfragilität
= erhöhtes Risiko für Knochenbrüche für Menschen über 65 Jahre
Behandlungspfad für Sturzpatienten
Am Universitätsspital Zürich wird bei allen Patienten mit Sturzverletzungen, die älter als 70 Jahre sind, ein eigens definierter Behandlungspfad verfolgt. Nach dem Eintritt in die Traumatologie erfolgt innerhalb von 24 Stunden ein geriatrisches Konsil. Bei entsprechender Indikation wird zeitnah operiert, danach übernehmen die geriatrische Abteilung und die Traumaabteilung gemeinsam das Management des Patienten. Unter deren Aufsicht wird dann «so rasch wie möglich» die hausinterne Verlegung zur Einleitung der Frührehabilitation angestrebt, um die Selbst-
Hausarzt als Partner
Die weitere Betreuung in der Sprechstunde des Alterstraumatologischen Zentrums (ATZ) diene der Nachsorge und der Aufgleisung der Sekundärprävention, erklärte die Expertin. Das bedeute: Vier bis acht Wochen nach der Operation erfolgt im Rahmen der ersten ambulanten Nachkontrolle ein Assessment durch Experten der Traumatologie sowie der Geriatrie inklusive Abklärung der Muskel- und Knochengesundheit im Test- und Diagnosezentrum. Dazu gehöre auch die Instruktion für ein evidenzbasiertes Trainingsprogramm zur Prävention eines erneuten Sturzes. Die Massnahmen zur Sekundärprävention von Frakturen werden gemeinsam mit dem Hausarzt umgesetzt.
Individuelles Risikoprofil erstellen
Diese Massnahmen basieren auf einem umfangreichen individuellen Risikoprofil. Erfasst werden Komorbidität und Medikamenteneinnahme, Muskelfunktion (+ Sarkopenie), Knochendichte, vertebrale Morphometrie und das per FRAX ermittelte Frakturrisiko, das Sturzrisiko, «Frailty» und Malnutrition, Sinnesorgane, Kognition, Aktivitäten des täglichen Lebens sowie ernährungsbedingte Mangelzustände (Vitamin D, Protein, Kalzium). Die Effektivität des Heimprogramms zur Sturzprävention am ATZ wurde mittlerweile in der Zürcher Hüftbruchstudie bestätigt (2). Eingeschlossen waren 173 Patienten im Alter ≥ 65 Jahre; 79,2 Prozent der Patienten waren
1026 ARS MEDICI 22 I 2017
BERICHT
Kasten:
Empfehlungen für Ältere bei Mangelzuständen
Protein Welches: «Whey protein» (Molke) ist reich an Leucin und am besten belegt bezüglich Gewinn der Muskelmasse. Dosis: Mindestens 20 g «whey protein» ist für die Erhöhung der Muskelsynthese erforderlich, bei 40 g ist der grösste Benefit zu beobachten (in Kombination mit Training!). Verabreichung: Die pulsierte Gabe ist effizienter als die verteilte Gabe, um die anabole Resistenz des Muskels zu überwinden (4). Eine Metaanalyse von 16 randomisiert-kontrollierten Studien an knapp tausend Teilnehmern zeigte zudem, dass es unter einer leucinreichen Supplementierung zu einer Zunahme des Körpergewichts um 1,2 kg kommt, während die Magermasse um 0,99 kg zunimmt; die Zunahme der Magermasse war bei Patienten mit manifester Sarkopenie am stärksten ausgeprägt (5).
Die Empfehlungen der PROT-AGE Study Group (6)
O durchschnittliche Proteinaufnahme von mindestens 1,0 bis 1,2 Protein/kg KG/Tag
O Ausdauer- und Resistenztraining auf individuellem Niveau (sicher und verträglich)
O ≥ 1,2 g Protein/kg KG/Tag bei aktiven Älteren O Bei den meisten älteren Patienten mit akuten oder chronischen Erkrankungen ist eben-
falls eine höhere tägliche Proteineinnahme von 1,2 bis 1,5 g/kg KG/Tag erforderlich.
O Ausnahmen sind Patienten mit schwerer Niereninsuffizienz (eGFR < 30 ml/min/1,73 m2), aber ohne Dialysebedarf: Bei ihnen kann eine eingeschränkte Proteinzufuhr nötig sein.
Vitamin D Dosis: Bei > 60-Jährigen: 800 IE/Tag oder 24 000 pro Monat. Damit werden > 97 Prozent der Patienten auf einen Wert von ≥ 20 ng/ml gebracht (Korrektur des Mangels).
Bei 2000 IE/Tag nach Hüftfraktur sinkt die Rehospitalisationsrate im ersten Jahr um 39 Prozent, zurückzuführen vor allem auf eine Senkung der sturzassoziierten Verletzungen und schwere Infektionen (2). Eine gepoolte Analyse von elf randomisiert-kontrollierten Studien mit mehr als 30 000 Teilnehmern (mittleres Alter 76 Jahre) wiederum ergab, dass eine tägliche Vitamin-D-Supplementierung von 800 IE/Tag das Hüftfrakturrisiko um 30 Prozent senkt und das Risiko nicht vertebraler Frakturen um 14 Prozent reduziert (7).
Frauen, das mittlere Alter betrug 84 Jahre, die Mehrheit (77,4%) lebte zu Hause. Die Patienten wurden randomisiert auf ein erweitertes physiotherapeutisches Programm (60 min/Tag betreutes Training in der Akutversorgung und nicht betreutes Heimtraining) oder ein physiotherapeutisches Standardprogramm (30 min/Tag betreutes Training in der Akutversorgung, aber kein Heimtraining). Ausserdem erhielten die Patienten Cholecalciferol in einer Dosierung von 2000 versus 800 IE/Tag. Primärer Endpunkt war die Sturzrate, sekundär wurde die Rehospitalisierung erhoben. Der Follow-up betrug zwölf Monate.
Heimtraining ist effektive Sekun-
därprophylaxe
Die wichtigsten Ergebnisse: Das erweiterte Programm reduzierte das Sturzrisiko nach einer Hüftfraktur im ersten Jahr signifikant um 25 Prozent, beein-
flusste aber nicht die Rehospitalisationen. Gleichzeitig reduzierte die Verabreichung von Cholecalciferol 2000 versus 800 IE/Tag zwar nicht das Sturzrisiko, sehr wohl aber die Rate an Rehospitalisationen, nämlich um 39 Prozent. Ausserdem beobachteten die Autoren eine signifikante Verbesserung von Kraft und Mobilität bei denjenigen Patienten, die das Heimtraining mindestens einmal pro Woche durchgeführt hatten, im Vergleich zu den Patienten ohne Heimtraining: Die Knieextensionskraft zeigte eine Verbesserung um acht Prozent, die Griffkraft verbesserte sich um 37 Prozent und die Mobilität um 39 Prozent. Die zwei Strategien – Training und Vitamin D – könnten in Kombination nützlich sein, da sie zwei verschiedene und wichtige Komplikationen nach einer Hüftfraktur ansprechen, lautete die Schlussfolgerung des Autorenteams.
Jeder Sturz zählt –
die Notfall-Sturz-Sprechstunde
Allerdings gilt: Jeder Sturz zählt – auch
solche, die ohne Frakturen beziehungs-
weise andere Verletzungen ablaufen,
warnen die Experten der Notfall-Sturz-
Sprechstunde, die vom Zentrum für Al-
terstraumatologie in Zusammenarbeit
mit dem Institut für Notfallmedizin des
Universitätsspitals Zürich angeboten
wird (3). Denn ein Sturzereignis führt
bei einem Drittel der Betroffenen zu
Sturzangst und damit zu einer Ein-
schränkung von Mobilität und Lebens-
qualität. Betroffen sind vor allem ältere
Menschen: 30 Prozent aller Menschen
im Alter von 65 Jahren stürzen einmal
pro Jahr, im Alter von 85 Jahren stürzen
50 Prozent einmal pro Jahr. In einem
Drittel der Fälle führt der Sturz zu einer
Verletzung, nur bei 6 Prozent liegt ein
Knochenbruch vor. Neben den oben er-
wähnten Faktoren Muskelschwäche so-
wie Eiweiss- beziehungsweise Vitamin-D-
Mangel sind auch eingeschränkte Seh-
oder Hörfähigkeit, Blutdruckabfall
oder Störungen des Blutzuckerhaus-
halts mögliche Ursachen eines Sturzes;
auch manche Medikamente erhöhen
das Sturzrisiko.
Das Stolpern selbst ist übrigens nicht al-
tersabhängig: Jüngere Menschen stol-
pern wahrscheinlich genauso oft, können
sich aufgrund ihrer besseren Muskulatur
aber besser und schneller abfangen. Zur
Erinnerung: Zwischen dem 20. und dem
80. Lebensjahr verlieren Menschen 40
Prozent der Muskelmasse, wovon vor
allem jene Muskelfasern betroffen sind,
die zum schnellen Reagieren und Ab-
fangen eines Sturzes erforderlich sind.
In der Notfall-Sturz-Sprechstunde wer-
den alle Risiken erfasst und die drei Ba-
sismassnahmen individuell erläutert
(Heimtrainingsprogramm, Vitamin D,
Eiweiss). Die Notfall-Sturz-Sprechstunde
steht allen über 65-Jährigen offen, die
einen Sturz mit oder ohne Knochen-
bruch erlitten haben.
O
Lydia Unger-Hunt
Quelle: «Behandlungspfad Alterstraumatologie Universitäre Altersmedizin», Medidays, September 2017 in Zürich.
Literatur unter www.arsmedici.ch
ARS MEDICI 22 I 2017
1027
BERICHT
Referenzen: 1. Bischoff-Ferrari HA et al.: Clinical data unpublished. 2. Bischoff-Ferrari HA et al.: Effect of high-dosage
cholecalciferol and extended physiotherapy on complications after hip fracture: a randomized controlled trial. Arch Intern Med 2010; 170: 813–820. 3. http://www.geriatrie.usz.ch/Tagocuments/Faltflyer_Notfall-Sturz_FINAL.pdf 4. Yang Y et al.: Resistance exercise enhances myofibrillar protein synthesis with graded intakes of whey protein in older men. Br J Nutr 2012; 108(10): 1780–1788. 5. Komar B et al.: Effects of leucine-rich protein supplements on anthropometric parameter and muscle strength in the elderly: a systematic review and metaanalysis. J Nutr Health Aging 2015; 19 (4): 437–446. 6. Bauer J et al.: Evidence-based recommendations for optimal dietary protein intake in older people: a position paper from the PROT-AGE study group. J Am Med Dir Assoc 2013; 14: 542–559. 7. Bischoff-Ferrari HA et al.: A pooled analysis of vitamin D dose requirements for fracture prevention. N Engl J Med 2012; 367: 40–49.
ARS MEDICI 22 I 2017