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Kongressbericht
52. Jahrestreffen der American Society of Hematology (ASH), Orlando, 4. bis 7. Dezember 2010
Multiples Myelom
Von der Standard- zur risikostratifizierten Therapie
Die letzten zehn Jahre brachten eine Revolution in der Therapie des Multiplen Myeloms: Den Immunmodulatoren folgten die Proteosominhibitoren der ersten, dann der zweiten Generation, und schliesslich kamen neue Deazetylierungs- und Kinasehemmer, welche vor allem in Kombination mit Chemotherapie und Dexamethason nie gekannte Therapieerfolge brachten. Zudem werden neue Wirkstoffe in laufenden Studien erprobt, die beim diesjährigen ASH-Kongress vorgestellt wurden.
Eine lebendige Gesamtübersicht mit spannenden Fragestellungen bei heutigen Therapiestrategien des Multiplen Myeloms erfolgte erneut zu Kongressbeginn (Session: «Key Myeloma Questions for 2010»): Vincent Rajkumar, Rochester/ Minnesota, wies auf die neue Klassifikation der Plasmazell-Dyskrasien der International Myeloma Working Group (IMWG) und ihre prognostische Bedeutung vor allem für die asymptomatischen Vorstadien des Multiplen Myeloms (MM) hin (Tabelle). Inzwischen erscheint es so gut wie sicher, dass jeder Patient, der an einem symptomatischen MM erkrankt, die Vorstadien einer monoklonalen Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS) respektive eines «smouldering multiple myeloma» (SMM) durchlaufen hat (Hematology 2010). Daraus hat sich der Ansatz einer prophylaktischen Therapie des Hochrisiko-SMM entwickelt (Tabelle), mit neun Zyklen Lenalidomid und Dexamethason, denen eine Lenalidomid-Erhaltungstherapie folgt: Bei nur geringen Nebenwirkungen erwies sich diese Therapie als sehr erfolgreich (ORR 75%, 51% PR, 12% VGPR, 5% CR, 7% sCR), vor allem wenn man den Vergleich zur nicht therapierten Gruppe zieht. 4/57 in der Therapiegruppe gingen in ein MM über, jedoch 21/61 in der Kontrollgruppe (#1935).
OS = Gesamtüberleben (overall survival) ORR = Gesamtresponserate (overall response rate) PR = partielle Response VGPR= sehr gute Partialremission (very good partial response) CR = komplette Remission sCR= verbesserte komplette Remission (stringent complete response) PFS = progressionsfreies Überleben DFS = krankheitsfreies Überleben
Ausrichtung auf Risikostratifizierung
Weder die IMWG-Klassifikation noch das Internationale Staging System (ISS) oder klinische Kriterien (Alter, Performance Status, Komorbiditäten) erlauben eine risikostratifizierte Adaptation der Therapie eines Patienten mit einem neu diagnostizierten MM. Eine Rolle könnte hingegen in Zukunft zytogenetisch definierten Risikofaktoren zukommen (s.u.). Der Verlauf der Erkrankung unter und nach Therapie hat prognostische Bedeutung und beeinflusst damit das weitere therapeutische Vorgehen. Angesichts der neuen therapeutischen Möglichkeiten wird das Ansprechen in Zukunft nicht mehr nur aufgrund der klinischen kompletten «Response» (CR) beurteilt werden, sondern auch nach der molekularen Tiefe dieser «Response»: Eine Therapie mit dem VTDSchema (= Bortezomib, Thalidomid, Dexamethason) induziert häufigere und im Vergleich zu einer Behandlung mit dem TD-Schema auch tiefere «Responseraten», gemessen als «minimal residual disease» (MRD) mittels qualitativer und quantitativer PCR (#861). Die Bedeutung des MRD für das Gesamtüberleben ist allerdings noch offen.
Die neue Messlatte der Induktionstherapie
Auch heute noch erfolgt die Therapie des MM nach dem Schema ▲ Induktion ▲ Konsolidation (inklusive autologer
Stammzelltransplantation für Patienten < 65 Jahre und ohne signifikante Komorbiditäten bzw. mit einem guten Performancestatus) ▲ Erhaltungstherapie
▲ Rezidivtherapie. Standard in der Induktionstherapie auch älterer Patienten (> 65 Jahre) ist heute nicht mehr Melphalan/Prednison (MP), sondern die Kombinationstherapie mit Bortezomib (VMP), für die nicht nur höhere ORR/CR, sondern auch eine Verbesserung des OS gezeigt werden konnte (N Engl J Med 2008; 359: 906–17; Blood 2010; 116: 3743–50). Antonio Palumbo wies nachdrücklich darauf hin, dass die mit dieser Therapie verbundene, recht häufige und unangenehme Nebenwirkung, die Polyneuropathie, durch den Wechsel von der zweimal wöchentlichen auf die einmal wöchentliche Gabe des Bortezomib (1,3 mg/m2 i.v.) ohne Verlust an therapeutischer Wirksamkeit weitgehend vermieden werden kann (Blood 2010; 116: 4745–53).
Diverse Kombinationsschemata Bei jüngeren Patienten mit einem neu diagnostizierten, symptomatischen MM stellt die Kombination des Proteosominhibitors Bortezomib mit Immunmodulatoren und klassischen Chemotherapeutika eine folgerichtige Weiterentwicklung der neuen therapeutischen Strategie dar. So war eine VTD-Therapie einer Therapie mit TD oder einer Kombinationschemotherapie GEM2000 (= Vincristin/Carmustin/Melphalan/Cyclophosphamid/Prednison, alternierend mit Vincristin/Carmustin/Doxorubicin/Dexamethason) über vier Zyklen und danach Bortezomib-Maintenance überlegen. (#307; CR 35% versus 14% versus 22%; mit entsprechendem PFS: nicht erreicht versus 27 Monate versus 38 Monate). Dies galt ähnlich auch für zytogenetisch definierte Hochrisikopatienten (CR 35 vs. 0% vs. 22%; 17p-CR 58% vs. 0% vs. 0%). Wie in vielen ähnlichen Studien sind bis jetzt jedoch keine Unterschiede im OS nachweisbar. In einer anderen Studie wurden die Schemata VDCR (= Bortezomib/Dexamethason/Cyclophosphamid/Lenalidomid) versus VDR versus VDC, denen jeweils viermal Bortezomib-Erhaltungstherapie folgte, geprüft (#621). Der Ersatz des Thalidomids in dieser Studie durch Lenalido-
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Tabelle:
Die Klassifikation der Plasmazell-Dyskrasien als Leitfaden zu Prognose und Therapie (IMWG, International Myeloma Working Group):
Klassifikation nach IMWG* Monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz, MGUS «smouldering myeloma», asymptomatisches multiples Myelom
Multiples Myelom
monoklonales Protein < 30 g/l und Plasmazellanteil, KM, < 10% und kein Organschaden (CRAB) monoklonales Protein > 30 g/l oder Plasmazellanteil, KM, > 10% und kein Organschaden (CRAB)
Kriterien für eine Progression zum Multiplen Myelom IgG < 15 g/l Paraprotein sFLC-Ratio ausserhalb 0,26–1,65 Plasmazellanteil, KM, > 10% > 30 g/l Paraprotein sFLC-Ratio ausserhalb 0,125–8,6
Übergang: Hyperkalzämie (> 110 mg/l bzw. > 2,75 mmol/l) Hb-Abfall > 20 g/l Kreatinin > 2 mg/100 ml neue ossäre Läsionen Gewebsplasmozytome monoklonales Protein > 30 g/l oder Plasmazellanteil, KM, > 10% und Organschaden (CRAB)
Prognose
0: 5% 1: 21% 2: 37% 3: 58% 20 Jahre 1: 25% TTP 10 a 2: 51% TTP 2,1 a 3: 76% TTP 1,9 a 5 Jahre
mid ergab ähnliche Ergebnisse. Allerdings waren die Nebenwirkungen (v.a. Müdigkeit, Übelkeit, Obstipation, Diarrhö und Neutropenie) geringer. Vor allem aber kam es weniger häufig zu einer Polyneuropathie. Entsprechendes galt auch für Patienten, die sich einer autologen Transplantation unterziehen konnten. (ORR 94%, PR 32%, CR 13%, sCR 23% [#624]). Zumindest bei älteren Patienten (> 65 Jahre), für die ein ASCT-Schema nicht mehr infrage kommt, sind diese neuen Kombinationen der VMP-Therapie jedoch nicht sicher überlegen: Die Therapie mit VMP versus VTP (Bortezomib, Melphalan oder Thalidomid, Prednison) zeigte eine CR von 21% versus 27% nach der Induktionstherapie und eine CR von 39% versus 45% nach der Erhaltungstherapie. Das PFS betrug 24 gegenüber 33 Monaten (nach 1. Randomisation) respektive 17 gegenüber 27 Monaten (nach 2. Randomisation). Das Drei-Jahres-Überleben betrug 55% versus 77% (#309). Eine andere Studie fand dagegen keine Vorteile für die neuen Kombinationen: VD (Bortezomib, Dexamethason), VTD
(Bortezomib, Dexamethason, Thalidomid), VMP (Bortezomib, Melphalan, Prednison) gefolgt von einer Erhaltungstherapie mit Bortezomib (ORRind 68/78/71%, ORRmain 71/79/73%, #619). Eine dritte Studie, die im Unterschied aber eine VT-Erhaltungstherapie vorsah, konnte wiederum Vorteile für die neue Kombination zeigen: VMPT-VT führt verglichen mit VMP zu besseren CR (38% versus 24%) und Drei-Jahres-PFS (55% versus 38%), allerdings unter Inkaufnahme von deutlich mehr Nebenwirkungen (Neutropenie, kardiale Nebenwirkungen und tiefe Beinvenenthrombose). Die Polyneuropathie als Nebenwirkung kann durch Lenalidomid-basierte Kombinationstherapien weitgehend vermieden werden. Die Gabe von RMP (= Lenalidomid, Melphalan und Prednison) versus MP, gefolgt für einen Teil des RMP-Arms von einer Revlimid-Erhaltungstherapie (10 mg/d bis PD), zeigte ein verbessertes Zwei-Jahres-PFS (55%/16%), unabhängig von Kreatininclearance, LDH oder ISS. Der Vorteil einer Erhaltungstherapie konnte in verschiedenen Studien gezeigt werden (#623).
Neue Wirkstoffe
Patienten mit einem rezidivierten/refraktären MM sind schwierig zu therapieren. Auch nach allogener Knochenmarktransplantation zeigen nur 10 bis 20% der Patienten ein Langzeit-DFS, sodass diese Therapie für diese Gruppe von Patienten nicht empfohlen werden kann (Hematology 2010). Weit besser wird hingegen eine Kombinationstherapie von Bendamustin, Lenalidomid und Dexamethason vertragen, die auch bei Patienten mit rezidiviertem/ refraktärem MM effektiv zu sein scheint (Ergebnisse einer Phase-I-Studie: > PR 63%, > VGPR 16%; MR 15%, SD 32%, #989). Nicht ganz so erfolgreich erscheint eine Kombinationstherapie aus Bortezomib und dem mTOR-Inhibitor Temsirolimus mit folgenden Ergebnissen: ORR 50%, mit überwiegend gastroenteralen Nebenwirkungen sowie Myelosuppression. Ein Immunmodulator der dritten Generation, Pomalidomid, als Monotherapie oder in Kombination mit Dexamethason, wirkt, so lassen verschiedene Studien schliessen, auch bei Patienten mit zyto-
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genetischem Hochrisiko, die gegen Bortezomib und Lenalidomid resistent sind. Der neue Proteosominhibitor Carfilzomib wird auch bei Bortezomib-resistenten/refraktären Patienten mit Erfolg eingesetzt. (ORR 32%, SD 32%; Nebenwirkungen: Myelosuppression, Müdigkeit; aber keine Polyneuropathie). Vielversprechend sind neue Antikörpertherapien: Elotuzumab ist ein Anti-CSI(= Myelom-spezifisches Antigen)-Antikörper, der sich in der Therapie von Patienten mit resistentem/refraktärem Multiplem Myelom in der Kombination mit Lenalidomid und Dexamethason als sicher und effektiv erwies. Resultate: PR 85%, VGPR/CR 31%, SD 15%; Nebenwirkungen: Übelkeit, Schwindel, Kopfschmerz; febrile Neutropenie. Erste Daten mit einem Anti-CD56-Antikörper, Lorvotuzumab-Mertansine in der Kombination mit Lenalidomid und Dexa-
methason erscheinen ähnlich vielversprechend (Resultate: 1 PD, 1 PR, 1 VGPR von 3 behandelten Patienten in Kohorte 1).
Vorschlag zur Therapie 2010/2011
Es fällt schwer, in der Vielzahl der heute zur Verfügung stehenden Therapiemodalitäten die beste für den eigenen Patienten zu finden. In diesem Zusammenhang ist sicher das auf einer zytogenetischen Risikostratifizierung beruhende Vorgehen interessant, wie es von Vincent Rajkumar vorgeschlagen wurde. Behandelt werden sollten: ▲ Patienten mit normalem Risiko (nor-
maler Karyotyp, Hyperploidie) nach dem heutigen Standardschema VMP (Bortezomib/Melphalan/Prednison) ▲ Patienten mit mittlerem Risiko (Hypoploidie; t4;14,; del13-) in einer Kombinationstherapie, die neben Borte-
zomib auch einen Immunmodulator enthalten sollte ▲ Hochrisikopatienten (17p-,; t14;16, t14;20) innerhalb einer Studie mit einem experimentellen Therapieschema. ▲
PD Dr. med. Boris Eugen Schleiffenbaum Hämatologie-Zentrum Zürich Klinik Im Park 8038 Zürich E-Mail: boris.schleiffenbaum@hirslanden.ch
Hinweis: Die Zahlen im Klammern beziehen sich auf die Abstraktnummern vom ASH-Jahresmeeting 2010.
Literatur beim Verfasser.
Interessenkonflikte: keine
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