Transkript
SCHWERPUNKT
Wahrnehmung und Kommunikation
Wie können Sekundärbelastungen nach einem ärztlichen Behandlungsfehler vermindert werden?
Behandlungsfehler lassen sich im medizinischen Alltag nicht absolut vermeiden. Wenn es nicht gelingt, die hiermit assoziierten Belastungen aufseiten des involvierten Medizinpersonals zu klären, können darüber hinaus sekundäre und tertiäre Fehler entstehen. Dieser Sachverhalt wird anhand einer Kasuistik erläutert.
Von Oswald Hasselmann
Es bedarf einer auf die interdisziplinäre Kooperation ausgerichteten Führungsstruktur.
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B ei einer medizinischen Behandlung ereignen sich nahezu zwangsläufig Fehler. Es kommt bei zirka 1 Prozent der erstmalig in einem Spital behandelten Patienten und bei zirka 5 Prozent der chronisch Kranken im Verlauf ihrer Behandlung zu einem die Gesundheit langfristig belastenden «unerwarteten Ereignis».Meist sind es die operativen Fächer, in denen es systembedingt zu vermehrten Behandlungsfehlern kommt. Da diese das Vertrauensverhältnis zwischen den Patienten beziehungsweise ihren Angehörigen und dem Medizinpersonal langfristig belasten können, wird von einer weitaus höheren Zahl nicht veröffentlichter Behandlungsfehler ausgegangen. Eine Reduktion solcher Fehler kann nur dann gelingen, wenn über solche in einer kollegialen Atmosphäre reflektiert wird. Mit dem inzwischen an allen Spitälern der Schweiz eingeführten CIRS (critical incidence reporting system) wird anstelle der oftmals befürchteten Praxis von: «naming, blaming and shaming» nun primär das «training» der Verantwortlichen in den Fokus genommen. Eine durchgehend hohe Behandlungsqualität bedarf, insofern sie von Menschen geleistet wird, einer sorgfältigen Wahrnehmung der sich ständig ändernden Bedürfnisse der Patienten. Bei einem multiprofessionell und häufig schichtübergreifend ausgerichteten Therapieangebot ist hierfür sowohl die eindeutige und wertschätzende Kommunikation untereinander und mit dem Patienten als auch die spezifische Aufgabenverteilung zwischen den unterschiedlichen Professionen essenziell. Neben der fachlich begrenzten Verantwortung eines jeden Mitarbeiters bedarf es hierfür einer auf interdisziplinäre Kooperation ausgerichteten Führungsstruktur. Sekundäre und tertiäre Fehler zulasten dieser und weiterer Patienten können auftreten, wenn es nicht gelingt, die mit einem Primärereignis verbundenen Belastungen aufseiten des involvierten Medizinpersonals zu klären. Dieser viel zu selten beachtete Sachverhalt soll anhand einer Kasuistik weiter erläutert werden.
Der Fall
Ein sechsjähriges Mädchen erleidet im Rahmen einer orthopädischen Operation eine prolongierte Hypoxie mit einer nachfolgenden irreversiblen schweren Hirnfunktionsstörung. Die medizinisch dringend indizierte Rehabilitationsbehandlung des Kindes kann über mehrere Monate nicht adäquat durchgeführt werden, da sich die Eltern mit dem Selbstvorwurf, in die Operation eingewilligt zu haben, zurückziehen und sich das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Spital aufgrund von als nicht zielführend empfundenen Gesprächen nachhaltig verschlechtert hat. Aus dem Bemühen heraus, eine allfällige Lösung einer Haftpflichtverantwortung nicht zu präjudizieren, entsteht bei den Eltern und bei einigen Mitarbeitern der Eindruck, dass ihnen fallentscheidende Fakten nicht vollständig übermittelt werden. Die so Betroffenen, welche zum Teil auch in der Nachbehandlung involviert sind, fühlen sich mitverantwortlich für den erlittenen Schaden des Mädchens und zeigen zunehmend Anzeichen einer Distanzierung von ihrem Arbeitsauftrag im Sinne eines Compassionate-fatigue-Syndroms.
Lösungsansätze
Aufgrund der Belastungs- und Gefährdungssituation der Patientin, ihrer Familie und des Mitarbeiterteams wird über das klinische Ethikkomitee eine interdisziplinäre Sitzung einberufen, welche zum Ziel hat, die zum Teil konfluierende Wertehaltung der Involvierten zu thematisieren und eine verlässliche Grundlage für die weitere Betreuung der Patientin und ihrer Eltern zu etablieren. Losgelöst von der für die Haftpflichtversicherung relevanten Frage der «Schuldzuweisung» wird für die Notwendigkeit einer «Entschuldigung» für das im Spital erlittene Unglück plädiert. Diese soll eingebettet sein in eine Strategie, die aufzeigt, wie in einer vergleichbaren Situation ein ähnlich desaströses Endresultat möglichst vermieden werden kann. Die noch zu führenden Gespräche mit der Familie sollen zudem in einem Duktus von Ehrlichkeit, Fairness und Empathie geführt werden mit dem Ziel, dass noch
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ausstehende Fragen zur Befriedigung der Betroffenen beantwortet werden. Im den vertraulich gehaltenen Gesprächen mit den Mitarbeitern wird ihnen die Möglichkeit gegeben, zu formulieren, wieweit sie sich selber als «schuldverstrickt» im Behandlungsablauf sehen und wie sie den Sinn ihrer zukünftigen Arbeit sehen. Im Gespräch wird durch die teilnehmenden Therapeuten, Pflegenden und Ärzte hervorgehoben, dass ein produktives Therapieverhältnis nur auf gegenseitigem Vertrauen und einer eindeutigen Rollendefinition mit fachspezifischer Begrenzung des jeweiligen Verantwortungskorridors basieren kann. Folgende Ziele werden gemeinsam herausgearbeitet und im weiteren Verlauf umgesetzt: 1. In wiederholt durchzuführenden Gesprächen mit
den Eltern sollen die Betroffenheit des Spitals für das Ereignis und gleichzeitig die langfristig ausgerichtete medizinische Verantwortungsübernahme für das Mädchen deutlich gemacht werden. 2. Im Rahmen einer spitalöffentlichen «morbidity and mortality conference» soll grösstmögliche Transparenz über den Ablauf der Ereignisse, die zur schweren Behinderung geführt haben, erreicht werden.
3. Die Zuteilung der jeweiligen Aufgabenstellungen und ihre Begrenzung soll im Behandlungsteam eindeutig definiert werden.
4. Für zukünftige Situationen, bei denen es aufgrund unzureichender Kommunikation zu diffusen Rollenerwartungen und subjektiven Erlebnissen von Macht- und Einflusslosigkeit kommt, wird das Angebot einer ethischen Supervision eingeführt, um zeitnah und zielgerichtet reagieren zu können.
In der Aufarbeitung dieses Geschehens hat sich gezeigt, dass Behandlungsfehler unerwartete Sekundärschäden verursachen können, wenn das subjektive Erleben der (weiter-)behandelnden Akteure nicht genügend berücksichtigt wird. Ein Supervisionsangebot, welches auf die Erfahrungen einer ethisch orientierten Wertediskussion aufbaut, sollte Teil einer Organisationkultur sein, welche das Lernen aus Fehlern positiv begleitet und somit die Patientensicherheit erhöht.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Oswald Hasselmann Leitender Arzt Neuropädiatrie Klinisches Ethikkomitee am Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Claudiussstrasse 6, 9006 St. Gallen E-Mail: oswald.hasselmann@kispisg.ch
Die sorgfältige Wahrnehmung der sich ständig ändernden Bedürfnisse der Patienten ist wichtig.
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